Als sie feststellte, dass in ihrer Familie kein Platz mehr für sie war und sie in ihrer Heimat keine Bleibe und keine Arbeit finden konnte, nahm sie ein Tuch, schnürte ihre Kleider darin zusammen und wanderte bis in die Magdeburger Börde. Jacob, der gerade den Herrn Baron zu einer Landwirtschaftsmesse kutschiert hatte und auf dem Rückweg war, erlaubte ihr, ein Stück mitzufahren. Sie kamen ins Gespräch und stellten fest, dass sie beide katholisch waren. Jacob nahm Josepha mit, und durch seine Vermittlung bekam sie Arbeit auf dem Gut, wurde bei der Feldarbeit eingesetzt und durfte im Winter der Köchin in der Küche helfen.
Mit ihrer großen, schlanken Gestalt, ihrem langen, blonden Haar, das sich glatt um ihr Gesicht legte und das sie hinten zu einem Knoten zusammengebunden trug, war sie nicht zu übersehen. Wenn sie in ihren weiten, bis zu den Fußspitzen reichenden Röcken mit weit ausholenden Schritten daherkam, beeindruckte sie die jungen Männer, so auch Jacob. Auch Josepha fand Gefallen an Jacob und war ihm vor allem dankbar. Mittelgroß, schlank und mit kurzem, aber vollem, schwarzem Haar und einem ebenso schwarzen Schnurrbart, einer großen, geraden Nase und lustigen Augen machte er den Eindruck eines Menschen, dem man vertrauen konnte. Er bot Josepha an, ihn zu heiraten und zu ihm in die Kutscherkate zu ziehen. Josepha sagte ja.
Als sich Jahr für Jahr bei ihnen ein Kind einstellte, sahen sie, dass die Familie auf dem Gutshof keine Zukunft haben werde. Jacob bemühte sich und fand durch einen Freund eine Stelle als Bierkutscher bei der Schultheiss-Brauerei in Berlin. Der Herr Baron erlaubte, dass Josepha mit den Kindern noch so lange in der Kutscherkate wohnen bleiben konnte, bis ihr Mann eine Wohnung in Berlin gefunden hatte. Jacob machte die neue Arbeit Spaß. Wenn er mit dem Gespann durch Berlin fuhr, vor sich vier schwere Pferde in ihrem schmucken Geschirr, an dem die Messingbeschläge glänzten, hinter sich den Wagen mit den kunstvoll gestapelten, blankgeputzten Bierfässern aus gutem Buchenholz, dann genoss er es, dass die Berliner stehen blieben und staunten.
Aber Jacob hatte Pech mit seiner Kutscherstelle, und daran war kein geringerer schuld als Seine Majestät der Kaiser höchstpersönlich. Es war ein schöner Frühlingstag, Jacob war mit dem Gespann unterwegs. Die frischgeputzten Messingbeschläge am Geschirr der Pferde blinkten an diesem Tage ganz besonders, und die Berliner winkten freundlicher als sonst.
An einer Kreuzung geboten ihm plötzlich zwei Gendarme zu halten. Die Weiterfahrt war gesperrt, weil die Equipage des Kaisers durchfahren sollte. Jacob war ein friedfertiger Mann und hielt das Gespann brav an. Die Pferde standen auch eine ganze Weile still und warteten zusammen mit ihrem Kutscher auf die Vorbeifahrt ihrer Hochgnädigsten Majestät. Aber Tiere sind keine braven Untertanen im üblichen Sinne, und Brauereipferde im Gespann gehorchen erst recht eigenen Gesetzen.
Genau in dem Moment, als, begleitet von mehreren Reitern hoch zu Ross, die kaiserliche Equipage mit der Allergnädigsten Fracht die Kreuzung passieren wollte, gingen die Brauereipferde los und waren durch nichts zu halten. Das prunkvolle Kaisergefährt, sollte es nicht mit den Bierfässern zusammenstoßen, musste angehalten werden. Jacob blieb nichts weiter übrig, als sein Gespann so schnell wie nur möglich über die Kreuzung zu bringen. Hochoben auf seinem Bock sitzend, knallte er mit der Peitsche, grüßte die erschrockene Majestät und das Reitervolk und war auch schon vorbei. Im Augenwinkel sah er noch, wie der Kaiser von seiner mit Samt und Seide bespannten Bank glitt und sich auf den Boden der Equipage warf. Komisch, dachte Jacob, der Hohe Herr muss wohl sehr ängstlich sein und den Peitschenknall falsch gedeutet haben.
Als Jacob zur Brauerei zurückkam und abschirren wollte, empfingen ihn der Stallmeister und die ganze Direktion. Ein kaiserlicher Reiter hatte schon die Nachricht von dem Vorfall überbracht und vom allerhöchsten, allergnädigsten Zorn berichtet. Jacob wurde sofort entlassen, er durfte nicht einmal mehr die Pferde abschirren. Jetzt musste er ganz schnell eine neue Arbeit und sehr bald auch eine neue Unterkunft für seine Familie finden. Josepha hatte ihm geschrieben, dass der Herr Baron sie bedränge, und nachdem sie sich ihm verweigerte, verlange er, dass sie bald die Kate freimachen müssten für den neuen Kutscher.
In der Brauerei arbeitete ein Masure, der Jacob einen Aufruf einer Zeche aus dem Ruhrgebiet zeigte. Der Masure war Junggeselle und wollte ursprünglich ins Ruhrgebiet wandern, nun aber lieber doch in Berlin bleiben.
»Masuren!«, las Jacob laut. »In rheinländischer Gegend, umgeben von Feldern, Wiesen und Wäldern, den Vorbedingungen für gute Luft, liegt abseits vom großen Getriebe des Industriebezirks eine ganz neu erbaute Kolonie aus modernen Häusern. Jedes Haus besteht aus zwei getrennten Wohnungen. Die Zimmer sind schön groß und luftig. Die Decken sind drei Meter hoch. Zu jeder Wohnung gehört ein trockener Keller, so dass sich die eingelagerten Früchte, Kartoffeln usw. dort sehr gut halten werden. Ferner gehört dazu ein geräumiger Stall, wo sich jeder sein Schwein, seine Ziege oder seine Hühner halten kann. Zu jeder Wohnung gehört auch ein Garten von über zwanzig Quadratmetern. So kann sich jeder seinen Kohl und seine Kartoffeln selber ziehen. Es gibt Wasserleitungen und Kanalisation. Abends werden die Straßen elektrisch beleuchtet.«
Jacob fuhr zum Gut, zeigte Josepha den Aufruf, sie schrieben an die Zechenverwaltung, und bald schon befanden sie sich auf dem Wege in ihre neue Heimat. Josepha lebte sich im Ruhrgebiet schnell ein. Sie fühlte sich wohl in der Kolonie und freute sich besonders über die neue Wohnung. Das erste Mal in ihrer Ehe besaß sie eine richtige große Wohnküche, ein Schlafzimmer nur für sich und Jacob sowie zwei Zimmer für die Kinder, in denen Jungen und Mädchen getrennt schliefen. Und sie besaßen einen Stall, in dem sie ein Schwein halten konnten. Jacob wurde gleich unter Tage beschäftigt. Er arbeitete zuerst als Schlepper und verdiente nur einen Teil von dem, was ein richtiger Bergarbeiter bekam. Nach einer kurzen Anleitung durch einen erfahrenen Kumpel aber durfte er als Hauer »vor Ort« arbeiten. Die Arbeit fiel ihm schwer; besonders die Wärme, der Staub und die schlechte Luft machten ihm zu schaffen.
»Wenn du einen Furz lässt, sorgt das Wetter dafür, dass alle hier was davon haben«, sagte ihm der Kumpel.
Dazu kam die Gefahr, jederzeit von herabstürzendem Gestein erschlagen zu werden. Wenn Jacob durch sorgfältigen Ausbau mit Stempelholz die Gefahr verringern wollte, konnte er beinahe nichts verdienen. Der mit dem Steiger ausgehandelte Lohn erlaubte kaum Sicherheitsarbeiten. Als die anderen Kumpel das erfuhren, schimpften sie mit ihm.
»Lass dich von dem Laufhund bloß nicht übers Ohr hauen!«
»Laufhund?«, fragte Jacob.
»Der Steiger«, und sie erzählten ihm, dass sie erst kürzlich für einen besseren Lohn in den Streik getreten waren und dass seitdem endlich auch das »Nullen« abgeschafft worden sei.
»Was ist das, das ›Nullen‹?«
»Wenn einige Steine im Wagen waren, bekamst du den ganzen Wagen nicht angerechnet; du hast für die Katz gearbeitet und für die Grubenbarone«, erklärten ihm die Kumpel.
Mit der Zeit gewöhnte Jacob sich an die Verhältnisse, wusste sich zu verkaufen, verdiente gutes Geld und sah, dass es mit der Familie vorwärts ging.
Josephas Ehrgeiz war es, allen Kindern eine Ausbildung zu ermöglichen. Sie dachte praktisch und wollte später einmal Nutzen von ihren Kindern haben. Die Ansiedlung von immer mehr Handwerksbetrieben und Geschäften, seit Hamborn die Stadtrechte bekommen hatte, kam ihrem Wunsch entgegen.
Jupp, der Älteste, wurde Tapezierer und Maler; Grete, die Zweite, kam zu einer Schneiderin in die Lehre. Kat, Mariechen und Hännes gingen noch zur Schule, die kleine Lisa lernte gerade das Laufen. Jupp war der Erste, der nach der Lehre zusätzlich zu Jacobs Lohn Geld heimbrachte. Bald verdiente auch Grete.
Die Zeit verging, die Kinder wuchsen heran. Kat bekam eine Lehrstelle als Köchin, Mariechen ging bei einem Kaufhausbesitzer in Stellung, Hännes half nach dem Schulunterricht beim Zeitungaustragen, Lisa kam in die Schule. Es ging ihnen gut.
Da begann der Krieg. Josepha freute sich nicht darüber, sie beteiligte sich auch nicht an den Straßenfesten in der Neuen Kolonie und verbot es ebenfalls ihren Kindern. Sie wurde die Ahnung nicht los, dass sie dafür, dass es ihnen bisher so gut gegangen war, noch ein großes Opfer werde bringen müssen. Wie alle anderen hoffte sie aber auch, dass in höchstens sechs Wochen der Krieg vorbei sein würde.
Aber der Krieg dauerte. In der ersten Zeit