Otto Sindram

Gesang der Lerchen


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Frau und ein Kind und betrachteten die Schaufensterauslagen.

      »Mutti, ich möchte auch mal Milch haben«, bettelte das Kind.

      »Das können wir uns nicht leisten«, entgegnete die Mutter.

      Als Philipp am ersten Unterrichtstag nach den Ferien das Schulgebäude betrat, fiel ihm zuerst das neue Schild auf: Arbeiter- und Bauernfakultät ABF der Humboldt-Universität Berlin.

      Philipp dachte zunächst daran, dass sie ab sofort nicht mehr wie bisher ihr Kotikow-Süppchen im Keller stehend löffeln mussten, sondern wie richtige Studenten in der Mensa im Sitzen essen konnten.

      Werner Peitz, der ein Oberschul-Abbrecher und Sohn eines Geschichtsprofessors war, wollte erreichen, dass die Klasse ab jetzt allmorgendlich vor dem Unterrichtsbeginn ein fortschrittliches Lied sang und jemand einen Tagesspruch aufsagte, aber die Mehrheit war dagegen.

      Christian erzählte Philipp, dass er in die Partei eingetreten sei und jetzt in dem Studentenheim in der Wilhelmstraße wohne.

      »Es war nicht leicht, einen Platz zu bekommen«, sagte er. »Aber mit dem Dicken ging es nicht mehr so weiter, und die Fahrerei kostete zu viel Zeit.« Philipp verstand. Er war neugierig und ließ sich die Heimvorteile schildern. »Gleich hinter dem Heim ist die Musikhochschule. Viele von den Musikstudentinnen wohnen im Heim. Ich habe schon an dich gedacht und dich für einen Platz vormerken lassen. Jetzt wohne ich noch in einem Achtbettzimmer. Ich besorge uns ein Zweibettzimmer; lass mich nur machen.«

      Ruth war aus den Ferien nicht zurückgekehrt. Angela zeigte einen Brief, in dem Ruth ihr mitgeteilt hatte, dass sie bald Karl, den Lehrer, heiraten werde.

      »Sie ist schwanger«, sagte Angela.

      »Da muss sie doch nicht gleich den ersten besten Trottel heiraten«, empörte sich Christian, und zu Philipp: »Das Wegmachen hätte ich doch bezahlt, für Westgeld kein Problem. Sie hat es ja sowieso von uns.«

      Christian bot Philipp eine Besichtigung des Studentenheims an und lud ihn ein, künftig mit ihm im Heim die Schularbeiten zu machen statt in der Singakademie.

      Das Heim in der Wilhelmstraße war in einem der wenigen unbeschädigten Gebäude untergebracht. Rechts und links davon waren Trümmerfelder. Das Haus hatte vier Etagen und war im neobarocken Stil erbaut. Der Eingang, ein über zwei Etagen reichendes Portal, eingefasst von zwei Säulen, die einen Balkon trugen, wirkte einschüchternd auf Philipp. Zwei Etagen waren mit weiblichen Studierenden belegt. Auf der ersten Etage und im Keller waren die Männer untergebracht. In Parterre gab es einen großen Aufenthaltsraum, einen Musikraum und einen Saal für Versammlungen.

      »Hier im Aufenthaltsraum können wir erst einmal unsere Schularbeiten machen«, meinte Christian.

      Im Musikraum stand ein Flügel. Christian spielte die Pathétique-Sonate an. Bei dem weiteren Rundgang trafen sie Werner, der auch im Heim wohnte.

      »Bist du nicht Berliner?«, fragte Philipp ihn.

      »Ja, schon, aber wir haben wenig Platz zu Hause.«

      Er erklärte ihnen, von seinem Vater wisse er, dass in diesem Gebäude vor dem Ersten Weltkrieg das Geheime Zivilkabinett von Wilhelm dem Zweiten war, in der Weimarzeit der Preußische Ministerpräsident Otto Braun hier seine Dienstwohnung hatte, später der Präsident des Preußischen Staatsrates Dr. Konrad Adenauer in diesem Haus gewohnt habe und in der Nazizeit hier die Büros von Rudolf Hess und später von Bormann waren. Er wandte sich an Christian.

      »Hast du Philipp schon die andere Straßenseite gezeigt? Das müsst ihr euch unbedingt anschauen. Die Reste des Tausendjährigen Reiches, die muss man gesehen haben, ehe sie abgerissen werden.«

      Damit verabschiedete er sich, denn er müsse noch die große Kundgebung mitvorbereiten.

      »Ihr kommt doch auch?«

      »Ganz sicher«, sagte Christian. Auf dem Wege zur gegenüberliegenden Straßenseite berichtete Philipp von der Begegnung mit Werner in Westberlin. Christian schimpfte: »Du bist doch so was von naiv! Wie konntest du nur zu ihm hingehen und ihn begrüßen! Jetzt weiß er, du kennst einen dunklen Punkt von ihm; das wird er dir nicht verzeihen. Sieh dich vor, du hast nun einen Feind! Ich muss doch besser auf dich aufpassen.«

      Damit schaute er Philipp an, doch dieser sah in den sonst eher kalten Augen seines Freundes keinen Zorn, sondern nur Liebe.

      Sie durchstöberten die stark beschädigte Neue Reichskanzlei, gingen durch die große Halle mit den vielen Säulen, stiegen über Trümmer einige Stufen hoch und kamen in einen großen Raum. Das Dach war beschädigt, es hatte reingeregnet. Durch die Lücken sahen sie die Wolken am Himmel ziehen. Der Raum musste einmal mit Holz getäfelt gewesen sein. Aus den Wänden schauten lauter Schrauben und Nägel hervor, an denen noch Holzsplitter zu sehen waren.

      »Hier war sein Reich«, sagte Christian. »Das Holz haben die Berliner geklaut und verfeuert.«

      Philipp war betroffen.

      »Seltsam, wir stehen jetzt hier, und von diesem Ort sind noch vor wenigen Jahren so viele Verbrechen ausgegangen.«

      Christian nahm einen Stein auf, betrachtete ihn und warf ihn wieder weg.

      »Wenn der Arsch nicht so größenwahnsinnig gewesen wäre. Nach Polen hätte er erst einmal aufhören müssen.«

      »Dann wäre er womöglich heute noch unser Führer, und wir zwei wären Soldaten irgendwo in der Welt, vielleicht in Sibirien oder in Afrika.«

      »Ich wäre Offizier, das bin ich schon meiner Familie schuldig.«

      »Und ich dein Stiefelputzer. Zum Glück haben England und Frankreich Hitler sofort nach dem Einmarsch in Polen den Krieg erklärt.«

      »Egal, das musste er gar nicht beachten. Den Krieg haben sie ihm erklärt, aber als Polen um Hilfe gebettelt hat, haben sie die Ohren zugemacht und nicht geholfen.«

      »Dafür«, sagte Philipp ironisch, »hat der weise Führer des Proletariats und Garant des Weltfriedens die Polen befreit − von ihrer Osthälfte, hat halb Polen geklaut.«

      »Sag das nur nicht so laut«, warnte Christian.

      »Du meinst, ich darf in Hitlers Arbeitszimmer nichts gegen Stalin sagen?«

      Sie gingen weiter, stiegen wieder über Trümmer und kamen zum Bunker. Christian zeigte auf den Eingang.

      »Schau her, hier hat er zuletzt gehaust, statt abzuhauen.«

      »Als Vegetarier wollte er wohl lieber ins Gras beißen«, bemerkte Philipp.

      »Und dann, bevor er sich erschießt, heiratet er ausgerechnet so ein deutsches Dummerchen, das auch noch Eva hieß«, empörte sich Christian. »Sein Deutscher Schäferhund hieß Blondie, der musste auch den Heldentot sterben, original Bayreuth.«

      Sie stöberten weiter. Christian zeigte auf die Trümmer.

      »Hier irgendwo hat man die drei Leichen verbrannt.«

      »Zwei Leichen und einen Kadaver«, korrigierte Philipp.

      Im Weitergehen passierten sie ein großes Schild, auf dem stand: Achtung! Sie verlassen den Demokratischen Sektor von Berlin. Um dieses Schild herum standen nur Ruinen und Trümmer. Kurz darauf sahen sie wieder ein Schild: Hier beginnt der Sektor der Freiheit.

      »Das war mal der Potsdamer Platz«, bemerkte Christian.

      Zwischen den Ruinen sahen sie ein weiteres Schild mit der Aufschrift Kino und dahinter eine notdürftig hergerichtete Fassade, beklebt mit Filmplakaten. Laufender Eintritt, stand auf einem Plakat und: Ostberliner können gegen Vorlage ihres Personalausweises in Ostmark bezahlen.

      »Gehen wir ins Kino, ich lade dich ein«, sagte Philipp.

      Der Film lief schon. Eine Platzanweiserin gab es nicht. Sie tasteten sich zu den ersten besten Plätzen und setzten sich. Auf der Leinwand sahen und hörten sie, wie ein Mann und eine junge Frau sich stritten. Der Mann verlangte das