Otto Sindram

Gesang der Lerchen


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Lebensjahr putzen. Sie hätte gerne eine Stelle als Hausmädchen in einem Haushalt in der Stadt angenommen, aber Ferdinand erlaubte es nicht. Sie musste ja auch noch zu Hause arbeiten.

      Emma war gerade aus der Volksschule entlassen worden und hatte eine Lehrstelle als Verkäuferin in einer Schlachterei bekommen. Aber damit konnte sie noch nicht viel zum gemeinsamen Haushalt beisteuern, von einigen Knochen mal abgesehen, die sie hin und wieder von dem Meister, der sie gut leiden mochte, geschenkt bekam, und von denen sie zu Hause eine Suppe kochen konnten. Sonst aber kostete Emma nur.

      Ferdinand hatte inzwischen neben der Scheune aus billig erworbenen Brettern einen Schuppen gebaut. Auf der Wiese richtete er einen Auslauf ein. Den Draht dazu konnte er günstig gegen das Schaf eintauschen. Schuppen und Auslauf nannte er seine Hühnerfarm. Einige Hühner bekam er nach und nach für seine Hilfe bei einem Bauern, weitere züchtete er selber.

      Wenn Paul und seine Kumpel zum Tanzen gingen oder nach der Schicht auf ein Bier, um den Kohlenstaub herunterzuspülen, sagten sie nicht, sie gingen »Zur Sonne«, sondern zu Hermann. Hermann Hülsken war der Wirt. Rundlich, von geringer Körpergröße, mit kurzen Armen und Wurstfingern war er lebhaft, lustig und bei den Kumpeln beliebt. An den Tanzabenden spielte Hermann den jungen Leuten mit dem Akkordeon auf, während seine Frau hinter dem Tresen stand und das Bier zapfte. Sie war ein ganzes Stück größer als Hermann. Hager, mit einem Habichtsgesicht und mit Basedow-Augen wachte sie über ihren Mann und darüber, dass in der Kneipe alles mit rechten Dingen und gesittet zuging und der Umsatz stimmte.

      An den Sonntagabenden, wenn die jungen Arbeiter sich mit ihren Mädchen auf der Tanzfläche drehten, standen die älteren Kumpel in Hut und Mantel am Tresen, schauten dem Treiben zu und schüttelten die Köpfe über das »verrückte Gehopse«. Sie hatten am Morgen nach dem Kirchgang ihre Frauen zum Kochen heimgeschickt, wollten kurz beim Hermann vorbeischauen und dann nachkommen. Für ein Bier lohnte es aber nicht, Hut und Mantel abzulegen und sich hinzusetzen. So standen sie Stunde um Stunde am Tresen, tranken Bier, aßen zwischendurch mal eine Gurke oder eine Frikadelle von dem Angebot auf dem Tresen und lösten nebenbei die Probleme im Sportverein, auf der Zeche und in der Weltpolitik. Wenn Hermann gegen Mitternacht sein Akkordeon wegstellte und das Lokal abschließen wollte, gingen mit den letzten Tanzpaaren auch die Tresensteher heim.

      Die meisten der Mädchen, mit denen die jungen Bergarbeiter sich zum Tanzen verabredeten, kannten sie schon aus ihren Kindertagen. Sie kamen wie sie selber aus der Alten Kolonie, oder sie waren aus der Neuen Kolonie. Paul war einer der wenigen, der nicht in einem Koloniehaus wohnte. Wenn die jungen Männer nach dem Tanzabend ihre Mädchen heimbrachten, so war es für viele kein großer Umweg und auch nicht weit. Um aber den Heimweg auszudehnen, gingen die Paare zuerst den entgegengesetzten Weg, vorbei an den Steigerhäusern und durch den Park, wo auch die Luft viel milder war und man die Sterne besser sehen konnte.

      Manche der Mädchen erinnerten sich der Vorlieben früherer Verehrer, kannten die verschiedenen Bänke im Park, die stillen Orte dort und die Möglichkeiten sich zurückzuziehen. Einige Mädchen waren schon vor dem Kriege mit ihren Tanzpartnern hier, waren älter als ihre Begleiter und kannten sich bestens aus. Aber ihre Vorkriegspartner waren aus dem Krieg nicht heimgekehrt, und so taten sie gut daran, sich unwissend zu stellen und sich von den Jünglingen der Nachkriegszeit den mitternächtlichen Park und seine Geheimnisse erneut zeigen zu lassen.

      Dann besetzten französische und belgische Soldaten das Ruhrgebiet. Paul las in der Zeitung, dass Deutschland mit seinen Reparationslieferungen, besonders mit der Lieferung von Kohle, im Rückstand war. Er wusste, dass die Franzosen und die Belgier schon seit einiger Zeit den Duisburger Hafen und Ruhrort besetzt hielten. Aber das war ihm gleichgültig. Was ging ihn der Hafen an! Jetzt aber betraf es ihn ganz unmittelbar.

      Die Besatzer teilten in einem Erlass mit, die deutsche Bevölkerung dürfe die Bürgersteige nicht benutzen, sondern müsse auf der Straßenmitte gehen; es sei verboten, die Hände in den Hosentaschen zu haben, die leeren Handflächen müssten immer sichtbar vorgezeigt werden. Und sie verhängten eine Ausgangssperre für die Zeit der Dunkelheit von frühabends bis morgens.

      Das war eine Katastrophe! Was sollte aus den Tanzabenden werden? Die Bergarbeiter im Schichtdienst bekamen zwar einen Nachtausweis, um den Weg zur Zeche und nach Hause gehen zu dürfen. Damit konnte man auch schon mal einen Gang abseits vom vorgeschriebenen Wege wagen. Wo aber sollten sie die Mädchen verstecken, wenn die Besatzungssoldaten kontrollierten?

      An einem Sonntagnachmittag stand Paul mit einigen Tanzfreunden bei Hermann am Tresen. Sie berieten, was zu tun sei und wie sie heimlich die Mädchen in das Lokal und wieder heim schaffen könnten. Da machte ein älterer Kumpel, der in Hut und Mantel und mit Bier schon gut abgefüllt daneben stand, einen Vorschlag.

      »Tanzt doch nachmittags.«

      Alle schauten ihn überrascht an. Wie doch der Alkohol den Geist beflügelte! Das war die Lösung. Ab sofort gab es bei Hermann an den Sonntagen Tanznachmittage, die bis zum Beginn der Sperrstunde dauerten. Lisa Krüger durfte trotz ihrer gut achtzehn Jahre bisher nicht zum Tanzen. Ihre Mutter erlaubte es nicht, und auch ihr Bruder Hännes, der älter war als Lisa, äußerte Bedenken. Er wusste aus eigenem Erleben, was sich nach einem solchen Tanzabend in der Nacht auf den Parkbänken und hinter den Büschen tat.

      Josepha und Jacob Krüger wohnten schon von Anfang an in der Neuen Kolonie. Die Eheleute waren, aus dem Magdeburgischen kommend, dort eingezogen, als Jacob auf der Zeche als Bergmann anfing. Die Krügers hatten sechs Kinder, und weil sie eine gute katholische Familie waren, trugen alle Kinder biblische Namen.

      Lisa hieß eigentlich Elisabeth, aber niemand, außer manchmal ihre Mutter, nannte sie so. Sie war ein eher stilles Kind und wurde als Nesthäkchen der Familie von den Geschwistern leicht an den Rand gedrückt. Schlank, blond, mit einem offenen Gesicht und mit blauen Augen war sie von allen wohlgelitten, ließ sich aber auch leicht ausnutzen. Ihre Brüder hießen Joseph und Johannes, wurden aber Jupp und Hännes gerufen. Ihre Schwestern Maria, Margarete und Katharina hörten auf Mariechen, Grete und Kat. Lisa lebte als Einzige noch bei ihren Eltern. Sie war nach der Lehre als Schuhverkäuferin bei einem Juden eingestellt worden, kam aber abends heim.

      Als bekannt wurde, dass das Tanzen nun nachmittags stattfand, erlaubte die Mutter Lisa die Teilnahme unter der Bedingung, dass sie mit ihrer Freundin hinging, beide dort zusammenblieben und dass Lisa auch mit der Freundin wieder heimkam. Sie versprach es. Anfangs saßen die beiden auch wirklich gemeinsam an einem Tisch vor ihren Limonaden. Als Paul aber Lisa das erste Mal zum Tanzen holte, war die Freundin schon nicht mehr zu sehen.

      Paul erklärte Lisa die ersten Tanzschritte und lobte sie als sehr gelehrig. Nach einigen Tänzen waren sie erhitzt, gingen vor die Tür und hinter das Haus. Kurz vor der Sperrstunde fand sich die Freundin wieder ein, und die beiden Mädchen gingen brav zusammen heim.

      Nach drei Monaten war Lisa schwanger. Sie sagte Paul nichts davon, beichtete es aber ihrer Mutter. Josepha verprügelte erst ihre Tochter, bestellte dann Paul zu sich, holte ihren Mann dazu, und gemeinsam besprachen sie die Hochzeit. Paul musste schwören, dass es eine katholische Trauung werde und dass alle Kinder katholisch erzogen würden.

      Kurz vor dem Hochzeitstermin informierte Paul seinen Vater. Ferdinand tobte, als er hörte, Paul werde zu den Schwiegereltern ziehen. Was würde die Zeche dazu sagen, wenn niemand aus der Scheune mehr dort arbeitete? Er sah sich schon auf die Straße gesetzt. Es war trotz der schweren Zeit eine schöne Hochzeit. Paul bekam von einem Kumpel einen dunklen Anzug geliehen. Josepha änderte für Lisa ein weißes Brautkleid, in dem auch schon die Schwestern vor den Altar getreten waren.

      Vier Monate nach der Trauung bekam Lisa ihr erstes Kind, es war ein Mädchen, und sie nannten es Guste, nach Pauls verstorbener Mutter. Kurz nach der Geburt seiner Tochter zog Paul in die Neue Kolonie. Josepha bestimmte, dass Jacob, den sie schon lange aus ihrem Schlafzimmer verbannt hatte, sein Bett in die Dachkammer stellte. Das junge Paar bekam ein Zimmer in der Krügerschen Wohnung, gekocht wurde gemeinsam. Paul gehörte jetzt zur Familie Krüger.

      Jacob und Josepha hatten sich auf einem Gut im Magdeburgischen kennen gelernt. Genau genommen hatte Jacob, wie er manchmal scherzhaft zu sagen pflegte, seine Frau auf der Straße aufgelesen.

      Er