dem Eingang stand: HO-Budapest. Christian ermunterte die beiden zu bestellen und machte es ihnen vor: Vorspeise, Suppe, Hauptgericht, und Nachspeise. Philipp und Ruth bestellten nur eine Vorspeise.
»Euch kann man nichts Gutes tun«, bedauerte Christian und langte kräftig zu.
Während er aß, erzählte er ihnen von seiner Geldquelle: An einem Sonntag war der Koch, der Dicke, wie üblich zum Dienst in das Hotel gegangen. Er hatte jedoch seine Tabletten vergessen, und Maria bat ihren Sohn, sie ihm nachzubringen. Christian ging und lernte in dem Hotel einen sowjetischen Offizier kennen, der ihm etwas schenken wollte. Als sie im Zimmer des Offiziers waren, zog er Christian auf ein Sofa, umarmte ihn stürmisch und sagte, dass er ihn liebe und ihm immer treu sein werde. Christian sah am Gürtel der Offiziersuniform eine große Pistole und war gelähmt vor Angst. Der Offizier stammelte immer weiter von Liebe und Treue und sank schließlich ganz ermattet auf Christians Schoß. Christian wagte nicht aufzustehen, sondern streichelte dem Offizier über das Haar, bis er eingeschlafen war. Vorsichtig hob Christian den Kopf des Schlafenden ein wenig an, stand langsam auf und schlich sich zur Tür. Als er gerade hinaushuschen wollte, hörte er ein lautes: »Stoi!« Der Offizier stand da mit einer gezogenen und auf Christian gerichteten Pistole. Dieser sah seine letzte Minute gekommen und hob blitzschnell die Arme. Da lachte der Offizier laut, steckte die Pistole weg, ging auf Christian zu, legte den Arm um ihn und führte ihn ins Zimmer zurück. Sie setzten sich an einen Tisch, der Offizier holte eine Flasche Wodka, schenkte sich und Christian ein und nötigte ihn zu trinken. Christian musste versprechen, den Offizier am nächsten Sonntag wieder zu besuchen. Der gab dem jungen Mann die beinahe noch volle Wodkaflasche und versprach ihm bei jedem Besuch eine neue.
Christian beendete seinen Bericht und schaute auf den Tisch.
»Bestellt doch noch was!«
Am letzten Tag des Wintersemesters und mit dem Erscheinen des ersten Grüns in der Natur machte die Klasse eine Biologie-Exkursion nach Friedrichshagen in den Berliner Stadtforst. Christian hatte sich unter einem Vorwand abgemeldet.
»Ich muss nicht mitgehen, Gräser zählen und Blümchen pflücken«, hatte er zu Philipp gesagt.
Frau Dr. von Braun, eine etwa fünfzigjährige Westberlinerin, gab sich Mühe. Groß, schlank, mit einem hoheitsvollen Blick und einer festen Stimme, trat sie betont selbstbewusst auf und wurde respektiert bis gefürchtet. Als ehemalige Nationalsozialistin, die in ihrem Unterricht die Rassengesetze der Nazis unterrichtet hatte, war sie nach dem Krieg aus dem Westberliner Schuldienst entlassen worden. Hier in Ostberlin unterrichtete sie Biologie nach dem Biologen und Naturphilosophen Ernst Haeckel, der ein Prediger des Darwinismus war. Die Lehre vom Kampf ums Dasein, von der natürlichen Auslese und dem Recht des Stärkeren wandelte sie ab zum Recht der neuen Klasse. Während der Exkursion dienten ihr alle Knospen und Pflänzchen zur Demonstration ihrer These vom Werden des Neuen und Absterben des Alten.
Auf dem Rückweg zur Bahnstation verstauchte Ruth sich den Fuß und bat Philipp, ihr den Arm zu reichen. So kamen beide nur langsam voran und verloren bald den Anschluss zur Klasse. Als sie endlich die Station Rahnsdorf erreichten, waren die anderen schon abgefahren, auch Sophie. Sie beide fuhren bis Köpenick und gingen in die Gartenlaube. Philipp machte mit den von Christian besorgten Briketts Feuer im Ofen. Ruth zeigte eine ganze Auswahl ebenfalls von Christian stammender Lebensmittel und bat Philipp zu wählen. Gemeinsam machten sie sich Mehlpfannkuchen, die sie sogleich heiß aus der Pfanne aßen. Dazu tranken sie einen von Christian mitgebrachten Wein. Als die Stromsperre begann und das Lampenlicht erlosch, zündete Ruth Kerzen an.
»Wie kommt es nur, dass ihr Freunde seid?«, fragte sie.
Philipp wusste, sie konnte nur Christian meinen.
»Es hat sich so ergeben.«
»So ergeben! Das ist doch keine Antwort! Du musst doch etwas an ihm gut finden.«
Philipp zögerte einen kurzen Moment.
»Er ist gut in Mathe.«
»Warum weichst du mir aus?«
»Dann sag du mir doch mal: Was findest du an ihm?«, fragte Philipp zurück.
»Ich? Ich weiß es nicht − er macht mir Angst.«
Philipp lachte: »Angst? Jetzt übertreibst du. Einer, der so gut Klavier spielen kann, soll Angst machen!?«
»Was hat das Klavierspielen damit zu tun?«
Ruth verstand ihn nicht.
»Man kann doch einen Menschen nicht danach beurteilen, ob er ein Instrument spielt oder nicht. Gibt es denn in deiner Familie niemanden, der musikalisch ist?«
»Doch, mein Vater, wenn er genügend getrunken hat, kann er ganz lustig sein und wunderbar singen.«
Ruth gab sich einen Ruck.
»Schluss damit!«
Sie trank ihr Glas leer, setzte sich auf Philipps Schoß, küsste ihn und knöpfte seine Hosen auf.
Gleich am ersten Morgen des neuen Semesters kam Christian zu spät zum Unterricht. Köhler unterbrach wie üblich, machte seinen Erschießungsgang, und Christian setzte sich.
»Ich muss dich gleich sprechen«, flüsterte Philipp.
»Wegen Ruth?«
»Ja, ich muss dir was beichten.«
»Quatsch beichten! Ruth hat mir schon alles erzählt.«
»Und?«
»Was, und?« Christian tat erstaunt. »Da gibt es doch nichts mehr zu bereden. Alles in Ordnung.«
Sie wandten sich dem Unterricht zu. Nach einigen Minuten wurde ein Zettel von Ruth an Christian weitergereicht. Christian las den Zettel.
»Hast du noch einen anderen Vornamen?«, fragte er Philipp.
»Ich? Nein, warum?«
»Hier, lies!«
Und Philipp las: Lieber Christian, verzeih mir, aber es muss vorbei sein mit uns. Ich kann ohne Karl nicht leben. »Das muss ein anderer sein − Karl? Heißt nicht ihr Lehrer-Freund so?«, flüsterte er.
Christian wurde zornig.
»Dann ist das Weib uns untreu geworden, aber das lassen wir uns nicht gefallen!«
Er zerknüllte den Zettel und schlug mit der Faust auf den Tisch, so dass selbst Köhler aufmerksam wurde.
Für Mitte Mai 1949 waren in Ostdeutschland Wahlen zum Volkskongress vorgesehen. Dieser Volkskongress sollte den Volksrat berufen, eine Art Regierung. Einige in der Klasse waren am Tage vor der Wahl und an den beiden Wahltagen zur Wahlwerbung, andere an den Wahltagen als Helfer in den Wahllokalen eingeteilt. Christian und Philipp mussten auf dem Bahnhof Friedrichstraße aus dem Büro des Aufsichtsbeamten über Lautsprecher eine Wahlparole verbreiten. Immer wenn ein Zug abgefertigt und das Mikrofon frei war, durften sie es benutzen. Sie hatten einen Zettel mitbekommen mit der Parole: Wer für die Einheit Deutschlands und einen gerechten Friedensvertrag ist, der stimmt für die Kandidaten zum Deutschen Volkskongress. Stimmen Sie mit ja!
Abwechselnd lasen sie diese Parole, fanden sie aber bald so langweilig, dass sie versuchten, sie immer mehr zu variieren. Bald befanden sie sich in einem Wettbewerb um die beste Variante.
Zwischendurch, und wenn der Aufsichtsbeamte nicht im Büro war, nutzten sie die Zeit, um sich über ihre Erfahrungen mit den Frauen im Allgemeinen auszutauschen und wie man mit ihnen umgehen sollte, damit sie nicht übermütig würden und treu blieben. Als ihr Einsatz beendet war und sie sich von dem Aufsichtsbeamten verabschiedeten, bekamen sie kostenlos − wie er sagte − noch einen Tipp von ihm.
»Wenn ihr nochmal so etwas machen müsst, nicht so nahe ans Mikrofon gehen und nicht so schnell und so laut sprechen, das dröhnt sonst zu sehr und überschlägt sich. Von euren Parolen war nichts zu verstehen. Ihr müsst so normal sprechen wie zwischendurch, als ihr über die Frauen geredet habt, das konnte man gut verstehen.«