Otto Sindram

Gesang der Lerchen


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Sie stellte sich vor einen Spiegel, betrachtete ihren Körper, strich mit ihren Händen über ihre Brüste und ihren Leib und stöhnte. Sie stöhnte und sprach auf einmal nicht mehr Deutsch.

      »Oh my body!,« sagte sie wiederholt und stöhnte und stöhnte auf englisch.

      »Gehen wir?«, fragte Christian.

      »Gehen wir!«, entschied Philipp.

      Draußen begann es zu dunkeln. Sie gingen über die Leipziger Straße zurück zur Wilhelmstraße.

      »Ich bringe dich noch ein Stück Richtung Alex«, bot Christian Philipp an.

      Vorbei am Studentenheim, bogen sie in die Behrenstraße ein. Ein Volkspolizist hielt sie an und ließ sich ihre Personalausweise zeigen. Neben der Komischen Oper war eine Kneipe.

      »Wollen wir uns besaufen?«, fragte Philipp.

      In der Kneipe waren wenige Gäste. Es war ungemütlich kalt, und es roch nach altem Tabakrauch. Sie tranken kurz hintereinander einige Biere und gingen bald wieder. Als sie in die Straße Unter den Linden einbogen, sahen sie vor sich das Gebäude der Friedrich-Wilhelm-Universität, die seit einiger Zeit Humboldt-Universität hieß. Davor waren im Lichte der Laternen die beiden Humboldts auf ihren Sockeln zu erkennen. Christian und Philipp gingen weiter und sahen links und rechts vor der Neuen Wache zwei verwaiste Sockel.

      »Wer möchtest du sein?«, fragte Philipp. »Ich lass dir die Wahl.«

      »Da kommst du doch nicht rauf«, wehrte Christian ab.

      Philipp wählte den Sockel mit der Aufschrift Scharnhorst, trat auf die Kante der unteren Einfassung, hielt sich am Kopf des aus dem Stein hervorspringenden Adlers fest, zog sich hoch, trat dem Adler erst auf die Krallen, dann auf den Kopf und war oben. Er stellte sich auf und reckte die Arme hoch.

      »Vorwärts Soldaten, auf in den Kampf für das Vaterland! Ich hole Verpflegung«, rief er.

      »Komm runter, da kommen Leute!«, warnte Christian.

      Aber das Herunterkommen war weniger leicht als der Aufstieg, und so stand Philipp noch, als die Leute sie erreicht hatten. Es waren junge Menschen in Blauhemden. Sie trugen eingerollte Transparente und Fahnen mit sich.

      »Freundschaft!«, rief Philipp und winkte zu ihnen runter.

      Sie schauten erstaunt und belustigt hoch und grüßten zurück: »Freundschaft!«, traten näher, lasen den Namen und riefen wiederholt: »Freundschaft!« und: »Hallo, Genosse Scharnhorst!«

      »Wo wollt ihr denn hin, Friedensfreunde?«, fragte Philipp.

      »Wir kommen von der Kundgebung. Heute ist doch die Deutsche Demokratische Republik gegründet worden.«

      Während Christian auf der Verkehrsinsel am Alex noch mit auf die Straßenbahn wartete, begann es leicht zu regnen.

      »Geh los!«, sagte Philipp, »du wirst sonst noch gehörig nass.«

      »Macht nichts; wenn ich dich nicht in die Bahn setze, machst du womöglich noch mehr Unsinn.«

      Eine junge, adrett gekleidete Dame trat auf die beiden zu und sprach sie an.

      »Ungemütlich heute Abend; wollen Sie sich nicht ein wenig bei mir aufwärmen?«

      Philipp fühlte sich geschmeichelt.

      »Was nimmst du?«, fragte Christian sie.

      »Einzeln je zwanzig Mark, zusammen dreißig.«

      Da verstand Philipp und war enttäuscht, gleichzeitig aber auch neugierig geworden.

      »Gehen wir uns für dreißig Mark aufwärmen?«

      »Dann zahle ich aber«, bot Christian an.

      Sie gingen mit in Richtung Scheunenviertel. Gleich hinter dem Polizeipräsidium kam ihnen eine Gruppe lärmender Menschen entgegen. Es waren zwei Männer und drei Frauen.

      »Wo wollt ihr hin?«, fragte die als Dame verkleidete Hure.

      »Komm mit!«, riefen die Frauen. »Wir sind zu einer Feier eingeladen.«

      »Was feiern wir denn?«

      Einer der Männer schwenkte eine Flasche.

      »Wir feiern die Staatsgründung, komm mit!«

      Christian und Philipp waren wieder allein.

      Als Philipp sein Zimmer betrat, lag auf dem Tisch ein Telegramm. Er riss es auf und las: Papa auf Zeche verunglückt stopp Dienstag Beerdigung stopp Mama.

      Er war sofort nüchtern, traurig und ratlos.

      Philipp hatte kein gutes Verhältnis zu seinem Vater gehabt. Er wollte nicht verstehen, dass der Alkohol so sehr Besitz von einem Menschen ergreifen und ihn so verändern konnte. Er dachte daran, wie stolz er als Kind auf seinen Vater gewesen war. In dem kalten Zimmer am Tisch sitzend, den Kopf in die Hände gestützt, starrte er auf das Telegramm. Ein Bild aus seiner frühen Kindheit kam ihm in den Sinn: Opa Ferdinand hat den Vater gebeten, die Wiese an der Scheune zu mähen. Der Vater nimmt Philipp mit, setzt ihn am Rand der Wiese ins Gras, ergreift die Sense und beginnt zu mähen. Er führt die Sense mit weitem Bogen durch das hohe Gras, unterbricht kurz, zieht das Hemd aus und mäht mit bloßem Oberkörper weiter. Ein Nachbar kommt, stapft durch das gemähte Gras, redet eine Weile mit dem Vater und reicht ihm einen Brief. Auf seine Sense gestützt, liest der Vater darin, reicht den Brief zurück und sagt: »Ja, Emil, da wirst du wohl zahlen müssen.« »Na ja«, sagt Emil, »wenn du meinst, dann zahle ich eben«, steckt den Brief in die Hosentasche und stapft wieder zurück. Der Vater nimmt aus der Gesäßtasche einen Wetzstein, streicht damit einige Male über das Sensenblatt und mäht weiter. Philipp schaut auf den muskulösen, braungebrannten und schweißbedeckten Oberkörper des Vaters, atmet tief den Geruch der gemähten Wiese, hört das Zirpen der Heuschrecken und sieht dem Flug eines Schmetterlings nach.

      Einen Interzonenpass werde ich nach so kurzer Zeit nicht wieder bekommen, dachte Philipp. Außerdem begann das Wochenende. Was sollte er tun?

      Sophie! Sie war Genossin, sprach perfekt Russisch, war die Tochter einer bekannten Funktionärin und eines von den Nazis hingerichteten Widerstandskämpfers. Philipp fuhr am späten Abend noch nach Weißensee. Gemeinsam überlegten sie, was zu tun sei. Endlich wusste Sophie eine Lösung.

      »Morgen früh gehe ich zur Parteileitung, die wissen immer einen Weg, oder noch besser, wir gehen zusammen.«

      Sie bat Philipp über Nacht zu bleiben.

      »Meine Wirtsleute haben nichts dagegen, sie wissen, dass du aus der Arbeiterklasse bist.«

      Philipp unterdrückte eine ironische Bemerkung.

      »Ja, das bin ich.«

      »Bist du hungrig?«, fragte Sophie.

      Sie machte ihm eine Mehlsuppe. Während er die Suppe löffelte, dachte er an Ruth und an die vielen Lebensmittel in der Laube, an seinen Geldumtausch und an den HO-Einkauf. Er erwähnte aber nichts davon.

      »Bekommst du nur Mehl von deiner Mutter?«

      Sophie berichtete, dass ihre Mutter nur einmal bei einem Besuch Mehl mitgebracht habe. Als Funktionärin achtete sie strickt darauf, nichts anzunehmen und nur von den Rationen der Lebensmittelkarte zu leben. Dieses Mehl aber, das für ihre Tochter bestimmt war, habe sie angenommen.

      Sophie erzählte von den Jahren in der Sowjetunion, wie schwer das Leben dort im Kriege war, und dass sie und ihre Mutter es von daher gewohnt seien, sparsam zu leben und auch manchmal zu hungern. Von ihren wenigen Erinnerungen an ihren Vater erzählte sie, und wie traurig und zornig sie war bei der Nachricht, dass er von den Nazis hingerichtet worden sei.

      »Nur weil er ein guter Mensch war, haben sie ihn getötet. Er wollte nicht akzeptieren, dass man Menschen jagt und umbringt, die nicht zu germanischen Rasse gehören.«

      »Ist er nicht wegen Hochverrats hingerichtet worden?«

      »Er