zu. Ein amerikanischer Soldat schoss ihr in die Brust; sie war sofort tot. Ihre beiden Töchter, vierzehn und sechzehn Jahre alt und mit ihren blauen Augen und blonden Locken richtige Schönheiten, hatten von ihrem Vater die Schwindsucht geerbt und starben beide im ersten Hungerwinter nach dem Krieg.
Onkel Hännes, der nach der Lehre als Bäcker und Konditor noch einige Jahre im Haus des Meisters wohnte, musste dort schließlich ausziehen, weil er die einzige Tochter des Meisters verschmähte, eine dickliche Jungfrau, welche eine Reihe von Jahren älter war als Hännes. Er nahm eine Arbeit in der neben der Teerdestillation neu gebauten Chemiefabrik an und backte nur noch zu besonderen Anlässen. So brachte er zu Josephas Geburtstagen jedes Mal eine wunderschöne Torte mit, auf der die herrlichsten Rosen, Elfen und Nixen, bunt und aus Marzipan, zu bestaunen waren. Josepha machte allerdings dem Staunen immer ein schnelles Ende, indem sie mit einem großen Küchenmesser ungerührt das Wunderwerk zerschnitt und die Kuchenstücke verteilte.
Hännes heiratete eine kinderlose Parteifunktionärs-Witwe, die für die Nazis schwärmte und ihn dazu brachte, in die Partei einzutreten. Als der Russlandfeldzug begann, wurde Hännes eingezogen, geriet bald in Gefangenschaft und kam erst vier Jahre nach Ende des Krieges aus Russland zurück. Seine Frau, die als Verkäuferin in einem Lebensmittelgeschäft gearbeitet hatte, nahm gleich nach dem Krieg den ausgebombten Geschäftsinhaber bei sich auf. Für Hännes war nach seiner Rückkehr kein Platz mehr in der Wohnung. Er nahm sich ein Zimmer, arbeitete wieder in der chemischen Fabrik und war in seiner freien Zeit meist betrunken.
Als Philipp ihn in den Sommerferien besuchte, erzählte Onkel Hännes von seiner Zeit in Russland. Sie sollten im ganzen Land die von der Demontage in Ostdeutschland stammenden Maschinen auspacken und aufstellen. Aber meist waren die Teile nicht vollständig, die Kisten standen im Freien, waren vorher schon aufgebrochen worden, die Maschinenteile, dem Regen und dem Schnee ausgesetzt, waren verrostet. Wenn die Kriegsgefangenen den russischen Bewachern dann erklärten, dass es unmöglich sei, aus den unvollständigen und verrosteten Teilen ganze Maschinen zu bauen, schimpften und fluchten die Russen, drohten mit Erschießung und brachten die Gefangenen zum nächsten Ort, wo sich das gleiche Spiel wiederholte. »Und wo wir auch hinkamen, Philipp, überall gab es russische Straflager. Wenn wir fragten, sagte man uns, ausgerechnet hier sei ein Zentrum für Strafgefangene. Ich glaube, ganz Russland besteht nur aus Straflagern.«
Opa Jacob wird still den Trubel der Beerdigung und die vielen Besuche über sich ergehen lassen. Man wird ihn kaum wahrnehmen und wenig beachten. Er war alt geworden und bekam schlecht Luft. Die Steinstaublunge machte ihm zu schaffen. In seiner besten Zeit war er Schießmeister auf der Zeche. Der Steiger hatte ihn als einen tüchtigen und zuverlässigen Arbeiter für diesen Vertrauensposten vorgeschlagen. Jacob musste beim Vortrieb neuer Strecken die Bohrungen im Stein überwachen, anschließend das Dynamit einfüllen, die Zündschnur legen und dafür sorgen, dass vor jeder Sprengung die Strecke geräumt wurde. Dann musste er dreimal ins Horn blasen und durfte endlich die Zündung betätigen. Wenn sich nach der Sprengung der Steinstaub gelegt hatte, musste er den Streckenabschnitt inspizieren und freigeben für das Wegräumen der Steine. Als bei ihm die erste Atemnot auftrat, war er schon Invalide. Er ließ sich untersuchen.
»Ihre Lungen sind versteinert, Krüger, Sie haben zu viel Quarz eingeatmet mit dem Steinstaub«, hatte der Arzt gesagt. Jacob stellte einen Antrag auf Anerkennung als Berufskrankheit und erhoffte sich dadurch eine höhere Rente. Aber der Vertrauensarzt der Bergbaugenossenschaft stellte nur altersbedingte Atembeschwerden fest. Der Antrag wurde abgelehnt.
Philipp sah vor sich ein Bild aus seiner Kindheit. Es zeigte einen Besuch bei Opa Jacob in der Schusterkammer: Sonntagmorgen. Der Vater sitzt am Fenster und liest. Philipp klettert hinter seinem Rücken den Sessel hoch, schaut ihm über die Schulter und betrachtet eine Zeichnung in seinem Buch.
»Was machen die Männer da?«
»Sie reiten.«
»Wohin reiten sie?«
»In die Sierra Morena.«
»Was ist eine Sierra Morena?«
Keine Antwort.
»Warum ist der große Mann so dünn?«
»Er hat wenig gegessen.«
»Hat sein Pferd auch wenig gegessen?«
»Ja, gefressen heißt das.«
»Der kleine Mann ist sehr dick, hat der dem großen alles weggefressen?«
Statt zu antworten, ruft der Vater nach der Mutter.
»Nimm mir den Jungen aus dem Nacken!«
»Sofort«, sagt sie, »gib mir das Buch, mach den Sessel frei und stell dich hier an den Herd.« Und zu Philipp: »Hör mal! Ich glaube, Opa ist in der Schusterkammer.«
Im Nu ist Philipp vom Sessel heruntergesprungen, die Treppe hochgeflitzt und öffnet nun vorsichtig die Tür zur Schusterkammer.
»Opa, soll ich Kautabak holen?«
»Ich hab noch welchen.«
Behutsam schließt Philipp die Tür und setzt sich auf den alten, wackligen Schemel. Mit einem Blick übersieht er die Lage. Ein Paar Schuhe der Großmutter bekommen neue Ledersohlen. Die neuen Sohlen sind schon vorgeschnitten. Sie liegen in der braunen Brühe in einer Schüssel, die als Spucknapf für Opas Kautabaksud und zum Wässern der Sohlen dient. Der Opa rückt den Dreifuß zurecht, entnimmt der Schüssel eine neue Sohle, legt sie auf den Dreifuß und beginnt sie mit dem Schusterhammer zu klopfen. Von Zeit zu Zeit hält er inne, und Philipp darf die wieder feucht gewordene Sohle mit einem Tuch abtupfen. Dann nimmt Opa Jacob einen Schuh, der schon auf einen Holzleisten gespannt ist, legt die neue Sohle darauf, gibt einen geschlossenen Riemen darüber, legt den Schuh quer über seine Knie und tritt mit dem Fuß in die herunterhängende Riemenschlinge. Jetzt können sie beginnen. Opa nimmt den Pinnort und den Schusterhammer und macht ein kleines Loch in die Sohle, Philipp reicht ihm aus einer Schachtel einen Holzpinn, den Jacob vorsichtig einschlägt. Schon ist die erste Verbindung zwischen Schuh und neuer Sohle hergestellt. So arbeiten sie, bis zwei Reihen eingeschlagene Holzpinne die Sohle nahe am Rand zieren. Jetzt müssen die Enden der Pinne und die Sohle mit einer Raspel und anschließend mit einer Glasscherbe geglättet werden. Aber dazu kommt es nicht.
Onkel Gorski besucht Opa Jacob. Er lässt sich schwer auf den einzigen Stuhl in der Kammer nieder, zieht eine volle Schnapsflasche aus seiner Jackentasche, stellt sie auf den Schustertisch und sagt zu Philipp: »Geh, Jungchen, hol Gläser!«
Philipp beeilt sich. Wieder unten, sieht er, dass die Großmutter schon von dem Kirchenbesuch zurück ist und den zu zwei großen Lappen ausgerollten und zum Trocknen aufgehängten Nudelteig von der Herdstange nimmt, um ihn in lange Streifen zu schneiden. Sie bietet Philipp an, aus den Rändern, die für die Streifen nicht reichen, Figuren für sich zu formen und diese im Herd zu backen. Aber heute verzichtet Philipp darauf.
Zurück in der Schusterkammer, sieht er, dass Onkel Gorski schon abgeschnallt hat. Das Holzbein lehnt mit dem nach oben gekehrten Knüppelende am Schustertisch, während an Onkel Gorskis Stuhl ein leeres Hosenbein herunterhängt. Philipp stellt die Gläser auf den Tisch, Onkel Gorski schenkt ein.
»Na, Jacob, dann wollen wir erst einmal!«
Schon sind die Gläser leer. Opa Jacob schüttelt sich und streift mit dem Handrücken nach links und rechts über seinen Schnurrbart.
»Teufelszeug!«
»Ja«, sagt Onkel Gorski, »aber auf einem Bein kann man nicht stehen.«
Er füllt erneut die Gläser. Dann folgt noch einige Male die gleiche Zeremonie, wobei Onkel Gorski vor dem dritten Einschenken noch »Alle guten Dinge sind drei« sagt, danach aber ohne weitere Sprüche einfüllt. Opa Jacob hat das Holzbein zwischen seine Knie geklemmt und mit einer Zange die abgelaufene Gummiplatte heruntergerissen. Philipp reicht ihm aus der Vorratskiste ein Stück Gummi, das der Opa passend schneidet und das sie unternageln, wobei der Junge ihm die Nägel reicht. Onkel Gorski schimpft auf die Kapitalisten, auf die Militaristen, auf die Freikorpsleute, die einem Bergmann schon bei der