sah, dass die Trauergemeinde sich auflöste und die Menschen dem Ausgang zustrebten. Draußen lagen die nassgeregneten Kränze. Die Kutsche wartete noch. Der Kutscher hatte das Verdeck hochgezogen, Ferdinand und die dicken Nachbarinnen saßen schon im Innenraum. Lisa half Jacob hinein. Philipp bat die beiden Alten zusammenzurücken, damit der Pastor bis zur Kirche mitfahren könne.
»Kommen Se mal, Pastorken«, sagte die dickere der Nachbarinnen, »wir nehme Se in de Mitt.« Damit griff sie energisch zu, und der Pastor landete auf ihrem Schoß. So fuhren sie davon. Die anderen gingen zur Straßenbahnstation. Als die Straßenbahn kam, hörte es so plötzlich auf zu regnen, wie es angefangen hatte.
Das Lokal »Zur Sonne« wurde weiterhin mit dem Namen Hermann in Verbindung gebracht. Hermann war lange tot, seine Witwe aber lebte noch und glich immer mehr einer alten Indianerin mit spitzer Nase und einer gelben Lederhaut. Das Lokal war von einem jungen Ehepaar gemietet worden.
Als Lisa mit der Familie, den Verwandten und den Nachbarn das Lokal betrat, saßen Ferdinand, die beiden dicken Nachbarinnen und Hermanns Witwe schon am Tisch und aßen Streuselkuchen. Das Lokal füllte sich. Frauen in schwarzen Kleidern und mit weißen Schürzen schenkten Kaffee aus. Nach dem Streuselkuchen und dem Kaffee gab es Bier, Schnaps und Eierlikör. Philipp fragte die Mutter, wie sie das alles bezahlen wolle.
»Hab gutes Sterbegeld gekriegt, und den Rest kann ich beim Heinkes über zwei Jahre in Raten abstottern«, sagte sie.
Man redete über das schlechte Wetter, über die Sorgen mit den Kindern, über gemeinsame Bekannte und über die Politik. Hugo erzählte aus seinem Buckel-Vorrat eine lustige Geschichte, Johanna schüttelte den Kopf und schimpfte mit ihm. Der Heinkes gab einen unanständigen Witz zum Besten, man lachte, prostete sich zu und war bald recht fröhlich. Einer fragte, wo denn Jacob abgeblieben sei. Der Kutscher berichtete, dass er ihn auf dem Wege zum Hermann in der Neuen Kolonie abgesetzt habe.
»Schau doch mal, wo Opa geblieben ist!«, bat Oma Josepha Philipp.
Philipp ging nach Hause und fand den Großvater in der Schusterkammer. Er saß am offenen Dachfenster und atmete schwer. Philipp setzte sich zu ihm.
»Willst du nicht rüberkommen, Opa?«
»Lass mich mal hier, Junge.«
Gemeinsam schauten sie den Tauben am Schlag auf dem Dach des Nachbarhauses zu und schwiegen eine Weile. Wasserdampf stieg von dem noch warmen, aber regennassen Dach auf. Immer mehr Tauben kamen aus dem Schlag.
»Weißt du noch, Opa«, sagte Philipp auf einmal, »wenn du früher mit mir durch die Felder gegangen bist, und die Lerchen stiegen hoch in den Himmel und sangen?«
»Ja, früher − die Lerchen«, sagte Jacob.
Auf der Rückreise nach Berlin kam Philipp zu dem Entschluss, auch in die Partei einzutreten, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands genannt wurde, abgekürzt SED.
13
Zwei Wochen nach seinem Parteieintritt bekam Philipp vom Sekretariat der Universität die Mitteilung, dass er in das Studentenheim einziehen könne. Als Sophie davon hörte, überbrachte sie ihm die Nachricht ihrer Wirtsleute, er könne bei ihr in Weißensee wohnen.
»Jetzt, wo du ein Genosse bist, sind sie damit einverstanden. Meine Wirtsleute haben noch das Zimmer ihrer Tochter frei. Mutti ist auch einverstanden. Wenn sie das nächste Mal nach Berlin kommt, möchte sie dich sowieso kennen lernen.«
Philipp war erschrocken.
»Das geht mir alles zu schnell.«
»Aber du hast mir doch immer gesagt, du wolltest aus deiner Bude am Prenzlauer Berg ausziehen.«
»Ja, sicher, will ich ja auch. Warum ziehst du nicht auch ins Studentenheim ein?«
»Ich habe in der Sowjetunion neun Jahre in Heimen gewohnt. Das ist genug. Ich ziehe nie wieder in ein Heim, nie, nie!«
Philipp wusste nicht weiter.
»Lass mir Zeit, ich muss mir alles in Ruhe überlegen.«
Er überlegte zwei Tage, dann hörte er von Christian, dass im Heim ein Zweierzimmer frei geworden war. Philipp dachte an die Heizung im Studentenheim; die Zeit des Frierens würde vorbei sein. Er sagte Christian nichts von Sophies Angebot, und am Ersten des Monats zog er ins Heim ein. Das Zimmer war nicht groß, aber ihnen standen sämtliche Gemeinschaftsräume offen. Auch gab es eine Küche, in der sie sich Teewasser heiß machen und auch mal eine Suppe kochen konnten. Erst nach dem Einzug und im Beisein der Klasse teilte Philipp Sophie mit, dass er nun im Heim wohne.
Das Leben im Heim bot vielerlei Vorteile, Anregungen und Abwechselungen. Die Zimmer waren immer warm und wurden gereinigt, täglich gab es irgendeine Veranstaltung, eine Versammlung, einen Gesprächskreis oder auch nur die Möglichkeit, in den Gemeinschaftsräumen an den Abenden miteinander zu reden oder Gesellschaftsspiele zu spielen.
Treffen in kleinerem Kreis fanden auf den Zimmern statt, intimere Treffen in den Zweierzimmern. Diese Treffen dauerten dann auch schon mal bis zum nächsten Morgen. Weil es aber sowohl für die weiblichen als auch für die männlichen Studenten als kleinste Wohneinheiten eben nur Zweierzimmer gab, erforderten solche Treffen organisatorische Vorbereitungen und manchmal auch die Anwendung von Überredungskünsten bei den Zimmerpartnern.
Christian kannte sich schon aus bei den Studentinnen der Musikhochschule. Lena, eine sächsische Studentin, blond und von kräftiger Statur, mit einem großen Brustumfang und einem ebensolchen Stimmvolumen die künftige Wagnersängerin, zeigte sich seinem Werben geneigt. Sie hatte − so fand Christian − nur einen unüberwindbaren Nachteil: Sie sächselte stark.
»Aber ich will ja keine Diskussionsabende mit ihr veranstalten«, sagte er.
Ein weiterer, aber überwindbarer Nachteil war, dass sie mit einer anderen Gesangsstudentin zusammen wohnte, die weniger mit körperlichen Reizen, dafür mehr mit konservativen Moralvorstellungen auf sich aufmerksam machte.
Isa, die eigentlich Isabella hieß, war nicht sehr groß, brünett und von der Natur mit einem lieblichen Gesicht ausgestattet. Sie kam aus Schwaben, hatte dort einen festen Freund zurückgelassen und wollte sich diesem Jüngling und künftigen Ehemann in Keuschheit erhalten. Sie duldete zwar, dass Christian und Philipp als Gäste sie und Lena auf ihrem gemeinsamen Zimmer besuchten; wenn es aber um die Organisierung der Schlafmöglichkeiten ging, dann war am Ende Philipp immer der Dumme.
Christian und Lena zogen sich in das Zimmer der Männer im Keller zurück, Isa lag allein in ihrem Bett in der zweiten Etage, und Philipp saß mit einem Buch oder mit den Schularbeiten oft bis weit nach Mitternacht im Gemeinschaftsraum, bis Christian endlich kam und verkündete, dass das Bett auf ihn warte. Der Erfolg war, dass Christian am nächsten Morgen, beflügelt von der Liebe, aufmerksam dem Unterricht folgte, während Philipp gegen den Schlaf ankämpfen musste. Ihm kam schon der Verdacht, dass Christians Einsatz für ihn als Mitbewohner eines Zweierzimmers nicht so ganz aus reiner Männerfreundschaft geschehen war. Er beklagte sich bei ihm.
»Weißt du«, entgegnete Christian, »ich habe schon mit Lena gesprochen. Aber sie kann einfach nicht, wenn du daneben in deinem Bett liegst und schläfst. So sind eben die Weiber!«
Endlich gelang es Lena, Isa davon zu überzeugen, dass es doch eigentlich gleich sei, in welchem Bett sie die Nacht verbringe, wenn man ihr nur einen ungestörten Schlaf garantiere. Isa stellte nur eine Bedingung: Wenn sie schon in Christians Bett schlafen musste, dann nur mit ihrem eigenen Kopfkissen. Eines Abends war es dann soweit. Christian nahm sein Kopfkissen, wünschte eine Gute Nacht und verschwand. Nach kurzer Zeit ging die Zimmertür einen Spalt auf und Isas Kopf erschien.
»Dreh dich mit dem Gesicht zur Wand!«, befahl sie Philipp. Sie huschte mit dem Kissen unter dem Arm ins Zimmer, entkleidete sich, legte sich in Christians Bett und löschte das Licht. Eine ganze Weile hörte Philipp nur ihre kräftigen Atemzüge, dann sagte sie: »Das mache ich nur Lena zuliebe.«
»Natürlich«, antwortete Philipp. »Ich bin dir aber auch