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Die Psychologie des bürgerlichen Individuums


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beruht, den Lohnarbeiter zur lebenslangen Funktion einer Arbeitskraft erniedrigt, die sich den Konjunkturen des Kapitals – so tritt der gegen die Produzenten verselbständigte Reichtum auf – entsprechend verschleißt und ihre Selbsterhaltung ständig in Frage stellen lassen muss. An den beiden angeführten Fällen wird deutlich, dass „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend gemacht“ nicht gerade die gemütlichsten Sachverhalte darstellen: da wird die Trennung gewisser Leute von den ihnen eigentümlichen, ihren Existenzbedingungen praktiziert – eine Angelegenheit, die mit theoretischem Abstrahieren schwerlich zu machen ist, und sei es noch so falsch. In der Welt der kapitalistischen Warenproduktion ist das Geld das Mittel, an sämtliche Gegenstände des Bedarfs wie Genusses heranzukommen, und eben dieses Mittel beschränkt eine ganze Klasse in dem Bemühen, des gesellschaftlichen Reichtums teilhaftig zu werden. Der Ausschluss von den Produktionsmitteln, die als fremdes Eigentum Mittel ihrer gewinnbringenden Anwendung sind, verweist die Lohnarbeiter auf Arbeit fürs Kapital als den Weg, ihren Lebensunterhalt zu bewerkstelligen – und in der Verrichtung und den Folgen dieser Arbeit gewahrt er, dass erstens seine Kasse immer leer bleibt, zweitens die kontinuierliche Zerstörung seiner Arbeitskraft stattfindet – weil die Reduktion auf die für das Kapital erforderlichen Dienste so einem Menschen gar nicht gut bekommt – und drittens seine bloße Beschäftigung noch nicht einmal garantiert ist.

      Mit den ökonomischen Verhältnissen des Kapitalismus, also all den Verlaufsformen, die eine reale, praktisch an leibhaftigen Individuen vollzogene Abstraktion aufweist, befasst sich die Ökonomie; mit der Gewalt, die zur Aufrechterhaltung des ökonomischen Betriebs dieser Sorte vonnöten ist, die Theorie des bürgerlichen Staates, der politischen Herrschaft, die darüber wacht, dass sich die Betroffenen auch immer alles ganz manierlich gefallen lassen. Wie es die Nutznießer und vor allem die Opfer von kapitalistischer Ökonomie und bürgerlicher Politik anstellen, dass sie den ihnen zugestandenen freien Willen nicht anders handhaben als zum angestrengten Mitmachen, davon handelt eine Psychologie des bürgerlichen Individuums. Eine solche Theorie leugnet nicht die Freiheit der modernen Demokratie und ihrer Opfer, also auch nicht den freien Willen, von dem schon Hegel zu Recht bemerkt hat, dass seine Bezeichnung ein Pleonasmus ist; sie klärt, worin die Freiheit besteht, wie schäbig sie beschaffen ist und welchen hohen Zwecken – mit den kleinlichen Interessen gewöhnlicher Leute hat sie in der Tat wenig zu tun – sie entspricht. Allerdings erklärt eine Psychologie dieser Art nicht noch einmal Mehrwert, Stücklohn, fixes Kapital und Zins, auch nicht den Rechtsstaat, dessen Finanzhoheit und Parlament, sondern eben – weil sie Psychologie ist – die subjektiven Prozeduren, das, was ein frei entscheidendes Subjekt in seinen Gefühlen, Anschauungen und Gedanken leistet, um seine Unterwerfung unter den kapitalistischen Zirkus, sein Mitmachen, immerzu als alleiniges und wohlbegründetes Werk seines Willens erscheinen zu lassen. Psychologie des bürgerlichen Individuums ist diese Wissenschaft darin, dass sie nicht die formellen Bestimmungen der Subjektivität in ihrer Allgemeinheit, wie sie auch zu anderen Zeiten und in anderen Umständen entwickelt sind, herunterleiert: sie erklärt den bestimmten Gebrauch, den Leute in der kapitalistischen Produktionsweise von ihrem Verstand machen, die besondere Sorte von Gefühlen, deren Inhalt, wie er hier und heute normal ist. In Gestalt einer Ableitung vorgetragen, befasst sich vorliegende Schrift mit der Verlaufsform des Widerspruchs, der im Begriff des abstrakt freien Willens gefasst wird: Wie bringt es ein (freier) Wille fertig, seine eigenen Voraussetzungen: Gefühl, Bewusstsein, Sprache, Verstand so einzurichten, dass er sich aufgibt? Wie gelingt es Individuen, die per Ausbildung zu allerlei Kenntnissen und Fertigkeiten angehalten werden, damit sie im bürgerlichen Getriebe durch allerlei Leistungen ihr Interesse realisieren können – oder umgekehrt ausgedrückt: damit sie sich aus ihrem Interesse heraus nützlich machen –, mit allen Beschränkungen des Kapitalismus und der modernen Demokratie fertig zu werden und brav dabei zu bleiben? Um die Beantwortung dieser Frage ist es zu tun, was nicht zu verwechseln sein dürfte mit der Klärung einer ganz anderen, welche die bereits erwähnten Theorien über die kapitalistische Ökonomie und die ihr entsprechende politische Herrschaft erledigen: Warum geht es so zu? Wer in den moralischen und psychologischen Techniken der Individuen den Grund für Nudel-, Auto- und Rüstungsproduktion, für den Bau von U-Bahnen, Stauseen und Schulen ausmachen will, hat bestenfalls ein Menschenbild, das dann als Subjekt von allen Entscheidungen und Werken fungiert, die so zustandekommen. Dass irgendetwas passiert, weil die Menschen „so sind“ und Subjektivität bei der Gattung homo sapiens nun einmal „so beschaffen“ ist, blamiert sich als Erklärung schon vor der schlichten Tatsache, dass die Subjekte der Entscheidungen, die den Globus so wohnlich machen, ganz andere sind als die, welche dann zu Werke gehen müssen und die idiotischsten Meinungen darüber als ihre Freiheit feiern...

      Freilich ist damit nicht gesagt, dass die objektiven Verhältnisse, in denen sich das moderne Individuum so furchtbar individuell gibt, nicht zur Sprache kommen. Als das, woran es sich anpasst, worin es sich bewähren will, kommt der bürgerliche Zirkus immerzu vor – selbst im ersten Teil, wo in getreuer Befolgung des Prinzips „vom Abstrakten zum Konkreten“ die allgemeinen, immerzu präsenten, weil „befolgten“ Grundsätze bürgerlich-freien Gehorsams analysiert werden, sind die gegenwärtig im Amt befindlichen Subjekte der Geschichte, Kapital und Staat, nicht ganz vergessen worden. Einerseits erscheinen sie als die Voraussetzung für das schlechte Benehmen auch der „Volksmassen“, die nicht nur Brecht per Gedicht zum „eigentlichen“ Subjekt küren wollte. Andererseits lässt sich das falsche Bewusstsein samt seinen Winkelzügen auch in seinen noch so abstrakten Bestimmungen nicht darstellen ohne Erwähnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, für die es notwendig ist. So gut es allerdings ging, haben wir die Erinnerung an das, womit sich so ein Subjekt herumschlägt, im Dunkeln belassen, und zwar ganz einfach im Interesse der (zum letztenmal:) abstrakten, von ihrer Durchführung noch „unberührten“ Bestimmung der armseligen „Bewegungsgesetze“ der heutigen Seele.

      © 2018 Gegenstandpunkt Verlag

      § 1. Der falsche Materialismus des erlaubten Erfolgs

      Was in der Konkurrenz der Klassen, in der Hierarchie der Berufe durch individuelles Geschick erreicht werden kann, bemisst sich am Interesse anderer und den Mitteln, über die sie verfügen. Dabei findet ein direkter Vergleich, ein unmittelbares Kräftemessen längst nicht mehr statt, wo ein mit Gewaltmonopol ausgerüsteter Staat für Recht und Ordnung sorgt. Sein Erziehungswesen stellt nicht nur manchen Unterschied im Umfang der Bildung her und weist die Individuen in ihre Karrieren ein – von der öffentlichen Gewalt, die am nützlichen Fortgang der Konkurrenz ihren Daseinsgrund und Zweck hat, erfährt der Bürger auch gleich, was erlaubt und verboten ist. Sein Materialismus ist anerkannt, aber nur in den Grenzen von ihm aufgeherrschten Notwendigkeiten, durch die er für Staat und Kapital brauchbar wird.

      Indem sich das Individuum auf die mit seiner sozialen Lage speziell definierte Freiheit der Konkurrenz einstellt, die praktischen Zwänge seiner Stellung in der Welt zum selbstverständlichen Ausgangspunkt seines Strebens macht, pflegt es den spezifisch bürgerlichen Gebrauch seines Geistes: jeder sinnt im Rahmen des Erlaubten auf seinen Erfolg. Alle Einrichtungen der kapitalistischen Welt und jeden „Mitmenschen“ betrachtet es als Bedingung seines Fortkommens, wobei ihm manches positiv, manches negativ vorkommt. Stets be- und verurteilt ein solches Individuum die Taten anderer und die handfesten „Leistungen“ höherer Instanzen gemäß dem Kriterium des erlaubten Erfolgs, was dasselbe ist wie der Maßstab des erfolgreichen Anstands. Der praktischen Stellung des Subjekt, das in einer mit lauter Hindernissen erfüllten Welt sein Mittel sehen und nützen will, entspringt ein Weltbild, das mit Objektivität nichts zu tun hat. Das Bewusstsein, das sich der abstrakt freie Wille zulegt, hat sein Prinzip darin, dass es die dem Willen entgegenstehenden, von ihm unabhängigen Umstände seiner Betätigung in das Programm des Willens aufnimmt. Das bürgerliche Ich übersetzt den erzwungenen Entschluss, sich nach der Welt zu richten, wie sie ist, sich in den vorgeschriebenen Bahnen zu bewegen, in das freie Urteil über sie und beantwortet sich an jedem Gegenstand die Frage: Inwieweit entspricht er mir und meinen Absichten?