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Die Psychologie des bürgerlichen Individuums


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wie das Einmaleins beigebogen bekommen, gehört nicht nur der Generalverdacht, dass vielleicht gar nichts „dahinter“ ist, sondern auch die Freiheit, nach gesellschaftlicher Stellung sehr unterschiedlich auf dem „Protokoll“ zu beharren. Während Politiker und Unternehmer, aber auch Lehrer und Meister gewaltigen Wert darauf legen, dass ihre Untergebenen ein tadelloses Benehmen an den Tag legen, können sie sich selbst der rüdesten Manieren befleißigen, ohne auf Kritik – außer hinter vorgehaltener Hand – zu treffen. Wenn es solchen Leuten beliebt, können sie sich auf Grundlage ihrer Stellung sogar beliebt machen mit einem unkonventionellen „Stil“, also ganz souverän nichts „auf Äußerlichkeiten“ geben und für lockere Töne plädieren. Umgekehrt ist das weniger leicht: so hat manche Übertretung in Sachen „Takt“ an Hochschulen und auch sonst bei der Ankunft hoher Herrn sehr schnell den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Folge, wenn nicht sogar den Einsatz der Ordnungskräfte. Für minder bemittelte und auf ihre Brauchbarkeit angewiesene Menschen ist es jedenfalls auch im 20. Jahrhundert ratsam, sich an der ursprünglichen Bedeutung von Grußworten wie „Servus“ und „Ciao“ zu orientieren und die Tonart anzuschlagen, die ihnen zusteht. An Flugblattverteilern und Bedienungen können sie sich dann die Kompensation verschaffen, die ihr ansonsten stark gebremster Materialismus benötigt.

      Das bürgerliche Individuum ist ein gelernter Heuchler. Es kennt sich also aus seiner eigenen Praxis sehr gut in dem aus, was andere so treibt, was sie meinen, wenn sie freundlich sind – und es entdeckt ohne Schwierigkeiten das Auseinanderfallen des proklamierten Anstands und des berechneten, also bedingten Umgangs mit ihm. Deswegen ist es auch fähig, die Heuchelei auf die Spitze zu treiben und im Namen der Moral andere der doppelten Moral zu überführen. Zwar ist an der Moral überhaupt nichts doppelt: ohne ihre Trennung von der Praxis gibt es sie nämlich gar nicht. Seinesgleichen und „Bessergestellten“ mit Kritik an ihrem Tun wie an ihrer Interpretation desselben zu kommen – in einem Fall hätte die Aufdeckung von Fehlern die Interessen des Kritisierten zur Grundlage, im anderen Falle auch, nur mit dem unterschiedlichen Ergebnis, dass die Erklärung der Gegnerschaft herauskäme –, ist im „zwischenmenschlichen Verkehr“ der bürgerlichen Individuen jedoch wenig ratsam. Anstand beweisen heißt vielmehr eben, sich als treuer Gefolgsmann des Scheins aufzuspielen, der sich an den Werken der ihn aufbauenden Mitmenschen blamiert. Dann gelangt man nämlich in den Genuss der Schadenfreude, die sich als äußerst berechtigtes Gefühl einstellt, sooft die Heuchelei anderer von Misserfolg gekrönt ist. Es ist üblich, im Namen des Anstands andere zu verurteilen: für ihre fingierte und berechnende Zurschaustellung von Moral ebenso wie für deren schlichte Verletzung. Das Bedürfnis nach „Information“ über fehlgeschlagene Versuche in beide Richtungen ernährt eine ganze Abteilung der Massenkultur, die sich der Dokumentation der Sentenz „Unrecht Gut gedeiht nicht“ annimmt. In dieser Welt leben dann folgerichtig auch gute – weil raffinierte und herzliche – Verbrecher, die sich zusammen mit dem „unverschuldeten Unglück“ ganz braver Leute gut ausnehmen. Der idealistischen Betätigung des subalternen Verstands sind nämlich keine Grenzen gesetzt – im Unterschied zum materiellen Erfolg der Individuen, die im Einverständnis mit den bürgerlichen Geboten zu etwas kommen wollen, ohne was zu haben. Eher kultiviert ein moralisches Subjekt, das den Materialismus in die Form des Conditionalis verbannt hat, sein Interesse in Gestalt des Neides, der für andere ebenso wenig fordert, wie man selbst abkriegt, als dass es sich auf die objektiven Schranken besinnt, die seine Wünsche dazu verurteilen, welche zu bleiben. Die Erfahrung, dass die List des Heuchelns ihren Dienst versagt, ist für ein solches Individuum eben nur Anlass, sich auch ohne zählbare Treffer zu behaupten.

      © 2018 Gegenstandpunkt Verlag

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