was die koloniale Erfahrung begraben und überlagert hat, darum, die versteckten Kontinuitäten ans Licht zu bringen, die von der kolonialen Erfahrung unterdrückt worden sind? Oder erfordert diese Forschung eine gänzlich andere Praxis, nicht die Wiederentdeckung, sondern die Produktion von Identität, nicht eine Identität, die sich in der Archäologie, sondern in der Wieder-Erzählung der Vergangenheit finden lässt?
Wir sollten jedoch zunächst nicht die Bedeutung dieses Aktes der imaginären Wiederentdeckung unterschätzen oder vernachlässigen, die mit dem Konzept einer wiederentdeckten, wesenhaften Identität verbunden ist. ›Verborgene Geschichten‹ haben in der Entwicklung der wichtigsten sozialen Bewegungen unserer Zeit eine bedeutende Rolle gespielt: im Feminismus, im Antikolonialismus und im Antirassismus. Die fotografischen Arbeiten einer Künstlergeneration von Jamaikaner/innen und Rastafaris wie z. B. Armet Francis (ein in Jamaika geborener Fotograf, der seit seinem achten Lebensjahr in Britannien lebt) sind Zeugnis für die anhaltende kreative Macht dieser Identitätskonzeption innerhalb der entstehenden Repräsentationspraktiken. Francis’ Fotografien von Menschen des Schwarzen Dreiecks, die in Afrika, in der Karibik, in den USA und im Vereinigten Königreich aufgenommen worden sind, versuchen »die tiefe Einheit der schwarzen Menschen, die durch Kolonisierung und Sklaverei über die afrikanische Diaspora verteilt wurden«, in visueller Form zu rekonstruieren. Seine Arbeit ist ein Akt imaginärer Wiedervereinigung.
Entscheidend ist, dass solche Bilder einen Weg eröffnen, der Erfahrung von Zerstreutheit und Fragmentierung, die allen Geschichten der aufgezwungenen Diaspora gemeinsam ist, einen imaginären Zusammenhang zu verleihen. Sie tun dies, indem sie Afrika als die Mutter dieser unterschiedlichen Zivilisationen repräsentieren oder ›versinnbildlichen‹. Das ›Zentrum‹ dieses Dreiecks ist immer noch Afrika. Afrika ist der Name für den fehlenden Begriff, die große Aporie, die im Mittelpunkt unserer kulturellen Identität steht und die ihr eine Bedeutung verleiht, die sie lange Zeit nicht besaß. Niemand kann heute bei der Betrachtung dieser strukturellen Bedeutungen, im Lichte der Geschichte von Deportation, Sklaverei und Migration übersehen, dass die Wunde der Trennung, der ›Verlust der Identität‹, der für die karibische Erfahrung wesentlich gewesen ist, nur dann zu heilen beginnt, wenn diese vergessenen Verbindungen erneut einen Platz erhalten. Solche Arbeiten stellen eine imaginäre Vollständigkeit oder Fülle wieder her, die gegen die zerbrochene Vorstellung unserer Vergangenheit gesetzt werden kann. Sie sind Ressourcen des Widerstandes und der Identität, anhand deren wir uns mit den fragmentarischen und pathologischen Formen auseinandersetzen können, in denen diese Erfahrungen innerhalb des dominanten Regimes der filmischen und visuellen Repräsentation des Westens rekonstruiert wurden.
Nun gibt es eine zweite, mit der ersten verwandte und doch davon unterschiedene Sichtweise von kultureller Identität. Die zweite Position erkennt in dem, ›was wir wirklich sind‹ oder – da die Geschichte eingegriffen hat – ›was wir geworden sind‹, neben den vielen Ähnlichkeiten auch die entscheidenden Punkte einer tiefen und signifikanten Differenz. Wir können nicht mehr länger exakt über ›eine Erfahrung, eine Identität‹ sprechen, ohne ihre andere Seite anzuerkennen: die Brüche und Diskontinuitäten, welche gerade die karibische ›Einzigartigkeit‹ ausmachen. In diesem zweiten Sinne ist kulturelle Identität ebenso eine Frage des ›Werdens‹ wie des ›Seins‹. Sie gehört ebenso zur Zukunft wie zur Vergangenheit. Sie ist nicht etwas, was schon existiert, was Ort, Zeit, Geschichte und Kultur transzendiert. Kulturelle Identitäten haben Ausgangspunkte und Geschichten. Wie alles Historische unterliegen sie ständiger Veränderung. Weit entfernt davon, in einer wesenhaften Vergangenheit für immer fixiert zu sein, sind sie dem permanenten ›Spiel‹ von Geschichte, Kultur und Macht unterworfen. Weit entfernt davon, in einer bloßen ›Wiederentdeckung‹ der Vergangenheit begründet zu sein, die darauf wartet, entdeckt zu werden, und die, wenn sie entdeckt wird, unser Bewusstsein über uns selbst bis in alle Ewigkeit absichert, sind Identitäten die Namen, die wir den unterschiedlichen Verhältnissen geben, durch die wir positioniert sind und durch die wir uns selbst anhand von Erzählungen über die Vergangenheit positionieren.
Nur diese zweite Sichtweise ermöglicht es uns, den traumatischen Charakter der ›kolonialen Erfahrung‹ richtig zu verstehen. Die verschiedenen Weisen, mit denen schwarze Menschen und schwarze Erfahrungen in den dominanten Repräsentationsregimes positioniert und unterworfen wurden, waren Effekte einer gezielten Ausübung von kultureller Macht und Normalisierung. Wir wurden durch jene Regimes nicht nur in Sinne von Saids ›Orientalismus‹ innerhalb der Wissenskategorien des Westens als unterschiedene und andere konstruiert. Vielmehr hatten sie die Macht, uns dazu zu bringen, dass wir uns selbst als ›Andere‹ wahrnahmen und erfuhren. Jedes Repräsentationsregime ist ein Machtregime, das, worauf uns Foucault hinweist, durch das verhängnisvolle Doppel von ›Macht/Wissen‹ geformt ist. Doch dieses Wissen ist internalisiert und nicht äußerlich. Es ist eine Sache, ein Subjekt oder eine Gruppe in einem herrschenden Diskurs als das Andere zu positionieren. Es ist jedoch etwas ganz anderes, sie diesem ›Wissen‹ nicht nur durch das Aufzwingen eines Willens und einer Herrschaft, sondern auch durch die Macht des inneren Zwangs und durch subjektive Anpassung (conformation) an die Norm zu unterwerfen. Das ist die Lehre – die dunkle Majestät – aus Fanons Einsicht in die kolonisierende Erfahrung in Schwarze Haut, weiße Masken.
Diese innere Enteignung der kulturellen Identität verkrüppelt und verunstaltet. Wenn ihrem Schweigen nichts entgegengesetzt wird, bringt es – wie es Fanon lebhaft beschreibt – »Menschen ohne Ufer, ohne Grenzen, ohne Farbe, Heimatlose, Nicht-Verwurzelte, Engel« (Fanon 1981, 185) hervor. Trotzdem verändert diese Vorstellung des Andersseins als innerem Zwang unser Konzept von ›kultureller Identität‹. In dieser Perspektive ist kulturelle Identität alles andere als ein fixiertes Wesen, das unveränderlich außerhalb von Geschichte und Kultur läge. Sie ist nicht irgendein in uns vorhandener universeller und transzendentaler Geist, in dem die Geschichte keine grundlegenden Spuren hinterlassen hat. Sie ist nicht ein für alle Mal festgelegt. Sie ist kein fixierter Ursprung, zu dem es irgendeine letzte und absolute Rückkehr geben könnte. Sie ist aber auch nicht nur ein bloßes Trugbild. Sie ist etwas Reales, nicht nur ein bloßer Trick der Einbildungskraft. Sie hat ihre Geschichten – und Geschichten haben ihre realen, materiellen und symbolischen Effekte. Die Vergangenheit spricht weiterhin zu uns. Doch da unsere Beziehung zu ihr, wie die Beziehung des Kindes zur Mutter, immer schon eine ›nach der Trennung‹ ist, spricht sie uns nicht als einfache, faktische ›Vergangenheit‹ an. Sie wird immer durch Erinnerung, Phantasie, Erzählungen und Mythen konstruiert. Kulturelle Identitäten sind die instabilen Identifikationspunkte oder Nahtstellen, die innerhalb der Diskurse über Geschichte und Kultur gebildet werden. Kein Wesen, sondern eine Positionierung. Daher gibt es immer eine Identitätspolitik, eine Politik der Positionierung, für die es keine absolute Garantie eines unproblematischen, transzendentalen ›Gesetzes des Ursprungs‹ gibt.
Diese zweite Sichtweise der kulturellen Identität ist uns weniger vertraut und verunsichert uns stärker. Wenn Identität nicht in einer direkten, ungebrochenen Linie aus einem fixierten Ursprung hervorgeht, wie können wir dann ihre Formierung verstehen? Wir könnten uns schwarze, karibische Identitäten so vorstellen, dass sie von zwei gleichzeitig wirksamen Achsen oder Vektoren, einem der Ähnlichkeit und Kontinuität und einem der Differenz und des Bruches, ›eingerahmt‹ werden: Karibische Identitäten müssen immer als die dialogische Beziehung zwischen diesen beiden Achsen gedacht werden. Die eine gibt uns eine gewisse Grundlage in der Vergangenheit und Kontinuität im Verhältnis zu ihr. Die zweite erinnert uns daran, dass das, was wir miteinander teilen, gerade die Erfahrung tiefgreifender Diskontinuität ist: Die Völker, die in die Sklaverei, Deportation, Kolonisation und Migration getrieben wurden, kamen vor allem aus Afrika – und als das Angebot an Menschen aus Afrika zurückging, wurde es vorübergehend durch Vertragsarbeiter/innen vom asiatischen Subkontinent aufgefrischt. (Diese oftmals vernachlässigte Tatsache erklärt, weshalb wir in Guayana oder auf Trinidad die paradoxe ›Wahrheit‹ des Fehlers von Christoph Columbus sehen können, die in den Gesichtern der dort ansässigen Völker symbolisch eingeschrieben ist: Wir können Asien‹ finden, wenn wir nach Westen segeln, wenn wir wissen, wo wir suchen müssen.)
In der Geschichte der modernen Welt gibt es kaum traumatischere Brüche als diese erzwungenen Trennungen von Afrika – ein Bruch, der in der europäischen Vorstellung von Afrika als ›dem dunklen