wussten Bescheid über Autos und Sport und Anziehsachen, über Radioprogramme und Comics. Für die anderen Kinder war der Krieg etwas im Radio, war weit weg und gehörte zu »Terry und die Piraten«, was auch sie sofort nach der Schule anstellte, gefolgt von »Käpten Mitternacht« und »Jack Armstrong, ein echt amerikanischer Junge«. Die waren alle nie mit Bomben beworfen worden. Hatten nie vor Angst gezittert, weil Flugzeuge im Tiefflug auf sie zukamen und mit Kugeln schossen, um zu töten. Hatten nie eine Mutter gesehen, die ein Baby ohne Kopf hielt. Hatten nie Menschen und Kühe tot auf den Feldern liegen sehen wie ekelhaftes, stinkendes Fleisch. Stellten sich den Krieg nicht als Feuersbrunst vor, die aus der Richtung kam, wo die Sonne aufging, so dass das Morgenrot von den Feuern entfernter Bomben zu kommen schien, von brennenden Städten, von einer Angst wie Rauch, den der Wind immer mit sich trug.
Bernice 1
Bernice und die Piraten
Bernice war in der Überzeugung aufgewachsen, ihr Name sei »Bernice-Professor-Coates’-Tochter«, etwa wie Kristin Lavransdatter, fiel ihr auf, als sie den Roman von der Undset las. Zu der Zeit war ihr Name schon seit Jahren zu »Arme-Bernice-Professor-Coates’-Tochter« erweitert worden, der arme, mutterlose Jeff und die arme, mutterlose Bernice.
Mutter war eine mollige, warme, schusselige Frau gewesen, der ständig Schals und Handschuhe herunterfielen und die stets eine voluminöse, aus den Nähten platzende lederne Handtasche, so rund und zylindrisch wie ein Flusspferd, mitschleppte und dazu eine mit Büchern und Strickzeug, Taschentüchern und Arzneien vollgepfropfte Reisetasche, nicht nur auf ihren allsommerlichen Europareisen, sondern auch bei Tagesausflügen nach Boston oder zu Abendbesuchen bei Freunden. Wer den Professor, hager, vorzeitig ergrauend, mit einem Spazierstock, den er hauptsächlich beim Treppensteigen benutzte, neben seiner fülligen, oft nachlässig gekleideten Frau Viola sah, der hielt ihn für den Kopf und sie für den Körper.
Und doch erinnerte sich Bernice, wie sich Viola bei den Donnerstagsessen mit zwei ihrer Freundinnen durch die Ilias und Pindar rezitiert und diskutiert hatte. Violas Latein und Griechisch waren dem des Professors weit überlegen, und Viola war auch keine taube Nuss auf seinem Spezialgebiet, den modernen europäischen Sprachen. Wenn der Professor seine Schützlinge – Studenten oder Klubfrauen oder Rentner oder Schullehrer – jeden Sommer in den Ferien auf eine Bildungsreise durch Europa führte, um die vornehme Armut seines Salärs aufzubessern, kamen aus Violas Tasche die Guides Bleues und die Baedeker, ergänzt durch Geschichte und Kunstgeschichte.
Viola war eine stattliche Frau gewesen, mit weitem Schoß und herzlicher, belustigter Stimme, eine Frau, der niemand zugetraut hätte, innerhalb eines Monats zu sterben, an doppelseitiger Lungenentzündung in einem scheußlichen, unvergesslichen Februar. Bernice war damals elf gewesen, Jeff zwölf und schmächtig für sein Alter, scheu, in Bücher vergraben. Bernice hatte begonnen, den Haushalt zu führen, in tiefer Verwirrung und mit ständigem innerem Gebet, ihre Einsamkeit und ihre Last mögen nicht von Dauer sein. Mutter würde wiederkommen, ebenso unversehens, wie sie entschwunden war, zuerst ins Krankenzimmer, dann ins Krankenhaus, dann in den plötzlich geschrumpften Leib. Ihr Vater hatte immer nur hinter meist verschlossenen Türen gelebt, doch ihre Mutter hatte sie, bei allem Respekt, den sie für ihre Konzentration verlangte, immer auf den Schoß genommen, während sie las oder plauderte.
Das ganze nächste Jahr über wachte Bernice jeden Morgen mit der Hoffnung auf, ihre Mutter würde in der Küche sein und Schinkenspeck braten, Rosinenzimttoast bereiten. Immer wieder wartete sie auf diesen Geruch nach Zimt und Kaffee.
Doch sie kam herunter in eine kalte und leere Küche mit dem Geschirr vom Vorabend, schon von ihr abgewaschen oder auch nicht, um Frühstück zu machen, ein Mädchen, bald groß genug, um an die hohen Borde heranzukommen. Für Jeff und sich machte sie Haferschleim mit einem Drittel Erdbeermarmelade, ihre Erfindung. Sie erfand viele Gerichte in ihrer frühen Kochphase, die meisten davon sonderbar. Zu ihrem dreizehnten Geburtstag schenkte ihr der Professor ein Fannie Farmer-Kochbuch. Sie hasste es auf Anhieb, seinen ruhigen, gebieterischen Ton, sein Gewicht, seine Schnürschuhmanier, aber sie meisterte es trotzdem. Schlichte, vernünftige Küche. Warum nicht? War das nicht, wie die Leute sie sahen? Ein schlichtes, vernünftiges Mädchen.
Jetzt, dreizehn Jahre später, machte sie immer noch jeden Morgen dem Professor das Frühstück. Montags bis freitags mochte er seine Eier pochiert oder als Ochsenaugen auf Zimttoast, mit knusprigem, aber nicht angekohltem Schinkenspeck. Er trank Café au lait mit einem Teelöffel Zucker. Er mochte seine Morgenzeitung, den Globe, zusammengefaltet neben seinem Teller. An Wochenenden bevorzugte er Pfannkuchen mit Ahornsirup, und das Frühstück wurde um neun Uhr serviert.
Der Professor verließ zeitig das Haus, um zum fünf Querstraßen entfernten Campus zu gehen, aber letzte Nacht hatte es geschneit, und er nahm sich zusätzliche Zeit zur Bewältigung der noch nicht freigeschaufelten Bürgersteige. Die Leute dachten oft, sein leichtes Humpeln rührte von einer Kriegsverletzung her, denn er hatte in dem Krieg gedient, der allen Kriegen ein Ende machen sollte. Bernice wusste, dass ihr Vater den Krieg in Washington mit dem Übersetzen deutscher Kommuniqués zugebracht hatte. Sein Fuß war verletzt worden, als ihm eine Kuh drauftrat, auf der Farm ihres Großvaters in Putney, Vermont, als Bernice noch klein war.
Den Eberkopfspazierstock hatte er in Köln erstanden, als Ersatz für einen älteren Hickorystock, der – auch wenn das allen hier unglaubhaft vorgekommen wäre – in einer Straßenschlägerei entzweigegangen war, als der Professor einen jüdischen Heine-Forscher besuchte, mit dem er eine Korrespondenz unterhielt. Beim Verlassen eines Theaters waren die Braunhemden über seinen Freund hergefallen, der kurz zuvor bereits von der Universität gejagt worden war. Bernice sah dieses Abenteuer als die vielleicht beste Stunde des Professors; den jedenfalls hatte sein körperlicher Mut halb überrascht und halb beschämt, denn Schlägereien fand er unkultiviert. Bernice hielt den Eberkopfgriff auf Hochglanz. Deutschland hatten sie danach von ihrer Reiseroute gestrichen.
Bernice stand am Spülbecken und wusch das Frühstücksgeschirr ab. Sherlock Holmes streckte den mageren, sehnigen Arm und injizierte sich die Kokainlösung, die sie sich immer als blaue Flüssigkeit vorstellte, wie Kobalt. Ihre eigene Droge war, sich im Kopf Abenteuerfilme vorzuspielen. Am Sonntagnachmittag war sie mit ihrer Nachbarin Mrs. Augustine im Kino gewesen, um sich Errol Flynn als Pirat anzuschauen. Danach hatte sie diesen Film mit Variationen durchgespielt, während sie das Haus putzte, während sie die Socken des Professors stopfte, während sie die Manuskripte anderer Professoren tippte, aber ihre Vorstellung von sich selbst als herausgeputzter Beutemaid irgendeines Piraten hatte sich innerhalb eines Tages abgenutzt, war eigentlich vom ersten Moment an unglaubwürdig. Seitdem hatte sie sich zu den Piraten geschlagen. Doch, es hatte auch Piratinnen gegeben, Anne Bonney zum Beispiel.
Mit dem Säbel um sich zu hauen und sich durch die Takelage zu schwingen war ihr Schönstes, auch wenn sie an Flynns sinnliches Gesicht und seinen drahtigen Körper mit Wohlgefallen zurückdachte. Bernice handhabte das Rapier mit einiger Fertigkeit, denn sie hatte mit ihrem Bruder in St. Thomas gefochten, unter dessen Eleven immer einige, wenn auch nicht besonders gern gesehene Mädchen waren. Nun rief sie einen Tagtraum auf, von dem sie drei Jahre lang gezehrt hatte. Darin flog sie zum Pazifik und rettete Amelia Earhart von einer unkartierten Insel, auf der sie abgestürzt war. Manchmal führte Bernice die Expedition an, und manchmal flog sie als blinder Passagier mit und übernahm dann an einem kritischen Punkt, erwies sich als beste Fliegerin der ganzen Gruppe: So sehr aus der Luft gegriffen war das gar nicht. Die Burschen auf dem Flugfeld achteten ihr Talent.
Als Nächstes stapfte sie zum Campus mit einer Liste von Büchern, die der Professor haben wollte. St. Thomas war kein katholisches College, denn das hätte es in den Ruch gebracht, von Schülern niederer sozialer Herkunft bevorzugt zu werden. Wenn überhaupt, dann war es episkopal (Teilnahme an den Gottesdiensten war, zumindest auf dem Papier, Vorschrift); im Grunde jedoch war St. Thomas ein College, auf das reiche Eltern die Söhne schickten, die es geschafft hatten, woanders rauszufliegen, Jungen, die sich an Wochentagen betranken, Jungen, die am falschen Ort in der falschen Gesellschaft oder mit dem falschen Geschlecht erwischt worden waren, Jungen, die, um die Prüfungsfragen vorher zu erfahren, den Pedell bestochen hatten und dabei aufgeflogen waren.
Ihr Vater hatte einst den Ehrgeiz gehabt, St. Thomas für etwas Vielversprechenderes