Marge Piercy

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers


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durch die Einöde fuhren und er leichtfüßigen, erdfarbenen Antilopen zusah, spielte er mit dem Gedanken, Mittelamerika zu erkunden oder vielleicht nach Brasilien zu gehen. Er malte sich die scharfen, zerklüfteten Rottöne der Mittelmeerfelsen aus, aber vor dem Hintergrund der gespenstisch pulsierenden Grüntöne eines Urwalds. Er nahm sich vor, in der Bibliothek über Orte im Süden nachzulesen, derweil er sich an Bernices guter Hausmannskost sättigte. Sie würden auf den Jumpers Mountain steigen, um einen Baum zu stehlen. Sie würden die alten Kartons mit Christbaumschmuck hervorholen, die tschechischen Prismen, die deutschen Kugeln mit dem eingeätzten Goldflitter, die Holzpferdchen und bemalten Trommler, die Rauschgoldvögel. Er würde seinen früheren Bildern an den Wänden von Bernices Zimmer und seinem Zimmer einen Besuch abstatten. Sein Versagen in Taos hatte sein Selbstvertrauen angenagt. Er brauchte es, seine besten Arbeiten zu sehen.

      Was oder wem hatte er denn eigentlich in Taos nachgeschnüffelt, dem Geist von D. H. Lawrence? Jeder zeigte ihm die Relikte, die Stätten, an denen Lawrence dieses oder jenes Unflätige oder Bedeutsame, Unsinnige oder Prophetische gesagt oder getan hatte. Die gefiederte Schlange mochte er von Lawrences Romanen am wenigsten, auch wenn ihn die Bildersprache faszinierte. Eine Schlange mit Federn fesselte seine Phantasie. Vielleicht hatte er in Taos solch ein Bild gesucht, eine Möglichkeit, den Flug und die Erdgebundenheit miteinander zu verknüpfen. Schlangen hatten ihn nie angewidert, sondern er hatte sie immer gefangen, Kletterschlangen und Milchschlangen und hübsche kleine Strumpfbandnattern.

      Er hatte eine Morris-Graves-Ausstellung gesehen, die ihn ungeheuer bewegt hatte, aber die Landschaften, auf die er ansprach, waren das Gegenteil von jenen nebligen, gischtübersprühten Visionen, die er bei Graves bewunderte. Er brauchte intensives Licht, harte Trennlinien, Fels und starke Formen. Warum hatte er dann in Taos so versagt?

      Sie hielten zum Mittagessen. Er kaufte sich einen Teller Chili. Der Fernfahrer spendierte ihm einen Kaffee. Es schien ihm zu gefallen, dass Jeff nicht versucht hatte, sich von ihm das Essen zahlen zu lassen. Er hatte ein interessantes Gesicht, alles platte Flächen, die auf verschiedenen Ebenen gegeneinander abgesetzt waren, ein Gesicht wie mit dem Meißel gemacht oder wie eine von Braques kubistischen Collagen. Als sie wieder im Sattelschlepper saßen, fragte er, ob Jeff so ein Ding fahren konnte. Als Jeff bewies, dass er es konnte, kletterte der Fernfahrer in den hinteren Teil des Führerhauses und legte sich schlafen.

      Es schneite ein wenig. Die Berge im Norden waren im oberen Drittel weiß. Staub mischte sich eine Weile mit Schnee und übersäte die Windschutzscheibe mit Pusteln. Er musste an einen Traum von einer Frau denken, deren Schenkel gefiedert gewesen waren. Blau und grün und golden schimmernde Federn, die sanft wehten, als er ihre Schenkel teilte. Ihr Haar war so jettschwarz gewesen wie das von Dolores. Allein beim Gedanken an sie erigierte sein Penis. Er stellte im Radio leise die Nachrichten ein und hörte nur halb hin.

      Seit 1939 hatte er in dem Bewusstsein gelebt, dass jeden Augenblick Krieg sein konnte. Die Nazis waren für ihn weitaus realer als für die meisten Amerikaner, denen er begegnete, und weit furchterregender. Er teilte nicht die Erheiterung seiner Bekannten über Hitler, den ehemaligen Tapezierer, der komische Fratzen zog und lächerliche Reden hielt, während seine Legionen im Stechschritt auf die Schnauze fielen. Er hatte sie auf den Straßen von Heidelberg und Berlin und Frankfurt gesehen. Sie waren trunken von Gewalt und Macht. Sie fühlten sich überlegen, weil sie zusammen waren, und zusammen fügten sie Leid zu. Sie hatten die Willkürherrschaft unter einem sichtbaren Gott für sich entdeckt. Er hatte einer Nazikundgebung beigewohnt und mit angesehen, wie Massen choreografiert, manipuliert und hypnotisiert wurden, bis sie in Ekstase und Blutrausch tobten und die Aufstachelung zu diesem Taumel liebten.

      Er erwartete den nächsten Schachzug von den Göttern oder seiner Schwester oder seinen Freunden. Er verließ sich darauf, aus seiner Langeweile errettet zu werden, aber er wusste nicht, wer es diesmal tun würde. Zach konnte es, immer. Es hatte ihn nicht überrascht, von Zachary Barrington Taylor zu hören, auch wenn er ihn seit wann – seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Irgendjemand würde ihm ein Angebot machen, so wie sich die Mitfahrt nach Cheyenne ergeben hatte.

      Ihm war nicht bestimmt, in Cheyenne, Wyoming, stecken zu bleiben, wo der Schnee von den Big Horns herunterwehte. Jeff hatte das Urvertrauen derer, denen Dinge einfach widerfahren. Er brauchte sich nur im Freien hinzustellen, davon war er überzeugt, denn so war es ihm passiert, und jemand sprach ihn an oder machte ihm ein Angebot oder bat ihn um einen Gefallen oder warf sich ihm an den Hals oder machte ihm einen Antrag, denn Jeff war allzeit bereit, und zwar wesentlich ernsthafter als die Pfadfinder. Er glaubte fest daran, dass die Götter ihn liebten und ihm bestimmt ein interessantes Abenteuer schickten, wenn er einfach nur wartete, mit leeren Händen und mit jener Bereitschaft von Körper und Seele, die seiner Vorstellung vom Zustand der Gnade entsprach.

      Wegen dieses Moments von Glück und Gnade hatte er sich in die Landschaftsmalerei verliebt. So ging er hinaus auf ein freies Feld, an einen Strand, auf einen Hügel, und richtete sich ein. Und während er den Blick auf die Szene vor ihm, um ihn herum richtete, die Szene, deren Teil er war und in der er Wurzeln schlug, erwachte sie zu immer intensiverem Leben, bis jedes Blatt und jede in der Sonne schimmernde Fliege und jedes Stäubchen seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Dann fühlte er sich völlig offen, verbunden, schutzlos, ein Gefühl besser als die Liebe und ehrlicher. Um gut zu malen, musste er von aller Herrschaft ablassen. Alles veränderte sich ständig um ihn her, und alles bewegte sich, und er stand in einem wirbelnden Chaos und redete es demütig an. Was er auch auf der Leinwand festhielt, es war unzulänglich, wie die Liebe.

      Wenn er klar, wenn er offen, wenn er schutzlos und stark genug war in seinem Sehen, dann erfasste er den alledem innewohnenden Geist und belebte das, was er malte, obwohl seine erste Reaktion auf das, was er geschaffen hatte, immer Abscheu war, denn es verfehlte die ungeheure, sich wandelnde Dingheit, die er staunend und leidenschaftlich miterlebt hatte. Studiomaler konnten von Herrschaft träumen, aber Landschaftsmaler wussten, wie sie vor den Ortsgöttern standen, winzig, voller Hoffnung, vor sich hin stümpernd. Alles, was er je malen konnte, war ein winziges Aufblitzen dessen, was sich ihm in Wahrheit gezeigt hatte, ein Zugriff auf einen Augenblick.

      So strebte Jeff nach Osten und nach Hause und dem nächsten Abenteuer entgegen, das ihn bestimmt davor bewahrte, lange dort zu bleiben.

      Ruthie 1

      Ruthies Sonnabend

      Ruthie Siegal war in der Highschool viel öfter verabredet gewesen als jetzt. Zum einen, weil sie viel mehr freie Abende gehabt hatte. Jetzt besuchte sie an vier Abenden in der Woche Kurse an der Wayne; Freitag war traditionsgemäß ein Familienabend. Obwohl ihre Familie nur an den hohen Feiertagen in die Synagoge ging und obwohl Mame nach Bobes Tod nicht mehr koschere Küche hielt, buk sie doch eine chala und briet ein Hühnchen. Freitag blieb ein besonderer Abend, mit den Kerzen in den Leuchtern, die Bobe aus Polen mitgebracht hatte, und mit einer sauberen Tischdecke über dem Wachstuch. So blieben nur die Sonnabend- und Sonntagabende, und manchmal brauchte Mame ihre Hilfe.

      Zum zweiten liefen ihr nicht sonderlich viele junge Männer über den Weg, die darauf erpicht waren, sie auszuführen. Das Verkaufspersonal bei Sam’s war weiblich, und nur Frauen kamen Kleider kaufen, auch wenn mal ein Ehemann widerwillig mitzottelte. In ihren Abendkursen waren viele der jungen Männer keine Juden, und die Juden waren verheiratet oder verlobt.

      Das ganze letzte Highschool-Jahr über war sie mit Leib gegangen, aber der hatte sie immer bedrängt, mit ihm zu schlafen. Sie wollte nicht. Sie hatte nicht nur Angst vor den Folgen, sie wollte auch nicht noch mehr Ärger ins Haus bringen und das Vertrauen ihrer Mutter missbrauchen, die ihr weitaus bereitwilliger vertraute als die Mütter ihrer Freundinnen ihren Töchtern. Den Ausschlag gab schließlich die Tatsache, dass es sein Wunsch war, nicht ihrer. Sie begehrte ihn einfach nicht genug, und wenn sie nachgegeben hätte, dann nur, um ihn zu behalten. So hatte sie ihn am Ende nicht behalten.

      Heute Abend war sie zum dritten Mal mit Murray verabredet, der ihren Montags- und Mittwochskurs besuchte, weil er auch Sozialarbeiter werden wollte. Nach jenem letzten fußstampfenden Auftritt von Leib, als er zusammengebrochen war, geweint und sie wüst beschimpft und sich dann abrupt beruhigt und aus ihrem Leben entfernt hatte, war Ruthie vielleicht mit fünf jungen Männern ausgegangen, aber mit keinem davon mehr als zweimal,