Marge Piercy

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers


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      Ein nasser, rauer, verschneiter Februar war das gewesen, von allen Bäumen war Eis getropft und hatte die Seitenstraßen in zerfurchte Rutschbahnen verwandelt. Sie hatten viel Zeit im Kunstmuseum verbracht, in der öffentlichen Hauptbibliothek, in der Wandelhalle der Wayne. Wo konnten sie hin? Sie sahen mehrere Filme. Kinos waren für Schicht- und Nachtarbeiter vierundzwanzig Stunden am Tag offen und immer voll. Meistens mochte Murray ihre gemeinsame Zeit nicht darauf verschwenden, irgendetwas anderes anzuschauen als sie, sagte er. Sie trieben in einem prall gefüllten Stau, einem Netz der Zuwendung, das beide umfing. Sie redeten und redeten. Sie gaben einander ihre Kindheiten, als projizierten sie Familienfilme auf eine Leinwand im Kopf ihres Gegenübers.

      Leider hatten seine Eltern sich nicht für sie erwärmt. Beide schienen in panischer Angst, Ruthie und Murray könnten noch in dieser Woche heiraten. Seine Eltern sahen einander ähnlich, beide von ovaler Gesichts- und Körperform, mit hellbraunem, ergrauendem Haar, so dass sie Ruthie einheitlich beige vorkamen. Sie waren annähernd gleich groß. Beide trugen Goldrandbrillen und einen gemeinsamen Gesichtsausdruck aufgeregter Bestürzung, sobald sie sich ihr zuwandten. Vor dem Hintergrund ihrer einstigen soliden Mittelstandsexistenz konnten sie Ruthie nicht akzeptieren. Sie hatten eine Vorstellung von dem Mädchen, das Murray ins Haus bringen sollte, eines mit Geld, mit Beziehungen. Eines, das Nutzen abwarf. Seine Mutter begegnete Ruthie mit geschürzten Lippen und gerunzelter Stirn, war aber zu kraftlos, um unhöflich zu sein.

      Der Tag vor seiner Abreise war am schlimmsten, süßsaurer Schmerz. Sie sah ihn immer noch vor sich in jener Nische der Chilibude beim College, als er sagte: »Ich habe gegen den Drang angekämpft, dir einen Heiratsantrag zu machen. Dich an mich zu binden. Noch bevor ich fortmuss zu verlangen, dass du jetzt sofort die Meine wirst. Weil ich weiß, dass es falsch ist. Es ist Unsinn. Es geht nicht, dass ich dir die Heirat antrage und dich zu meiner Frau und meiner Liebsten mache, bevor ich verschwinde. Das ist egoistisch. Ein Stück von dir haben zu wollen, das mir gehört.«

      »Ich werde auf dich warten. Das kann ich dir versprechen. Ich liebe dich.« In der Sitzecke der Chilibude hatte sie es gesagt, als sie Hände hielten über Tassen mit kaltem Kaffee. »Du brauchst mir keinen förmlichen Heiratsantrag zu machen.« Danach war sie starr vor Verlegenheit, verblüfft, wie sie so etwas laut zu einem Mann hatte sagen können, insbesondere zu einem Mann, der es ihr nicht zuerst gesagt hatte.

      »Ich liebe dich, Ruthie. Ich glaube, ich liebe dich, seit wir das erste Mal miteinander aus waren. Ich dachte, ich rede mir was ein und erfinde mir ein Bild von dir, aber so war es nicht. Du bist genau, was ich will, und wenn bloß der verdammte Krieg nicht im Weg wäre. Eine blödsinnige Zeit, um sich zu verlieben. Es zerreißt mich innerlich, wenn ich denke, dass wir uns gefunden haben und vielleicht nie dazu kommen, unser Leben gemeinsam zu leben.«

      Seitdem hatte sie sich immer wieder gefragt, ob sie es nicht wie Leib und Trudi hätte halten und sagen sollen: Lass uns heiraten und auf alles andere pfeifen. Oder schlimmer noch, ob sie sich nicht hätte hingeben sollen, weil er zu sanft und rücksichtsvoll war, um zu fordern, wonach er sich so deutlich sehnte. Sie hatten sich geküsst, bis ihre Lippen wund waren. Ruthie begehrte ihn. Sie entdeckte, wie sich das anfühlte, und es jagte ihr einen Schreck ein. Sie machte sich Gedanken, ob der heftige Schmerz des Verlangens nur ihr zu eigen, etwas Krankhaftes war. Irgendwann würde sie Trudi fragen. Aber er musste fort und sie blieb hier, und alles war immer noch richtig: dass sie nicht so jung heiraten durften, dass eine eigene Familie sie beide zerstörte, dass sie sich mit einer zu engen Umklammerung gegenseitig zu den verzweifelten und verdreckten Straßen ihrer Herkunft verurteilten. Deshalb hatte sie seiner unausgesprochenen dringlichen Bitte widerstanden; deshalb hatte sie auf Trudis Hochzeit ein schlechtes Gewissen.

      Abra 2

      Geschichten, dass die Ohren bluten

      Berlinerin, ich war Berlinerin. Das verstehen Sie nicht. Das ist so was wie in Frankreich Pariserin, wie hier New Yorkerin, nu? Man ist gewandter und gewitzter, oder man glaubt es wenigstens. Und wenn man da geboren ist wie ich, dann meint man, alles aus dem Effeff zu wissen, ist Geburtsrecht.« Mrs. Marlitt Speyer war fünfunddreißig, aber mit dem aschblonden, hochgekämmten Haar sah sie jünger aus. Sie trug ein gut geschnittenes, maskulines Nadelstreifenkostüm, das sie, wie sie Abra erzählte, selbst geschneidert hatte. Sie nannte sich Damencouturier. Jetzt arbeitete sie bei einer Seventh-Avenue-Firma, die sie mit verächtlichem Schürzen ihrer festen Lippen beschrieb als »einen Laden, der Möbelbezüge für Frauen macht, die es nicht besser wissen«.

      »Meine Familie lebte seit hundertdreißig Jahren in Berlin und davor im Saarland, in einer Kleinstadt, wo wir ein Sommerhaus haben – hatten. Wir waren Weinhändler. Mein Vater und mein Onkel hatten ein Geschäft auf der Leipziger Straße … Nein, nicht mehr, denn in der Kristallnacht kam die SA, die Braunhemden. Sie zertrümmerten die Fenster und plünderten den Wein. Dann steckten sie alles in Brand. Sie verprügelten den Wachmann, und dann warfen sie ihn ins Feuer. Er war ein armer Jude, der schon aus der Kleinstadt vertrieben worden war, wo er gelebt hatte. Er war ungebildet, ein wenig einfältig, aber ein guter Mensch, der für seine Eltern sorgte. Er starb im Krankenhaus. Mein Vater war im Saarland und orderte die Auslese, die süßen, spät geernteten Weine, die teuren. Mein Onkel war zu Hause, und die Braunhemden verprügelten ihn und steckten ihn nach Sachsenhausen. Drei Monate lang war er dort, und dann haben wir ihn herausgeholt, arm, mit nichts mehr. Manchmal konnte man sich damals den Weg hinaus erkaufen. Jetzt ist er ein Krüppel, ich schicke ihm ein bisschen Geld nach Paraguay, wenn ich kann.«

      Marlitt beobachtete sorgfältig, merkte Abra, aber ohne auffällig zu starren. Abra bewunderte diese Fähigkeit und nahm sich vor, sie für ihre Befragungen zu vervollkommnen. Sie spielte inzwischen mit dem Gedanken, das Thema ihrer Doktorarbeit dahingehend zu ändern, dass es sich aus diesen Befragungen ergab, zumal sie an ihrem eigenen Thema nicht mehr gearbeitet hatte, seit sie für Oscar Kahan arbeitete. Es hatte mit Marlitt zu tun, so spürte sie, die immer wieder in sie hineinzuschauen schien, während Abra ihre Notizen konsultierte.

      »Die Nazis ließen uns erst hinaus, wenn sie uns bis auf die Knochen abgenagt hatten, und dann ließen uns die Amerikaner nicht herein, weil wir mittellos waren. Meine Tante und mein Onkel verschafften sich ein Visum nach Paraguay, aber wir hatten kein Geld mehr. Mein Onkel wollte hierherkommen, aber die Amerikaner sagten, er sei vorbestraft, weil er verhaftet worden war, als die Nazis damals über Nacht dreißigtausend Juden in die Lager steckten … Oh, ich habe bis zum Schluss gearbeitet. Ich hatte eine Sondererlaubnis, weil ich Modeschöpferin war. Sie hatten Bedarf für meine Modelle, wissen Sie, denn die deutsche Mode ist zumeist plump. Ich wollte Bildhauerin werden, aber auf der Akademie, meine Liebe, überzeugten sie mich, dass ich kein echtes Talent hatte, und dann entdeckte ich, dass ich doch eines hatte, aber nicht für Skulpturen – oder vielleicht für so was wie Skulpturen für Körper.« Marlitt zeichnete eine Gestalt in die Luft. Abra war beeindruckt von der Bewegung. Marlitt hatte die Angewohnheit, extrem still zu sitzen.

      »Orthodox? Oh nein, wir waren Liberale. Vergleichbar Ihren konservativen Juden, aber sehr, sehr deutsch. Wir waren alle sehr deutsch. Meine Liebe, die ersten Juden ließen sich in Deutschland bald nach der Diaspora nieder, im dritten Jahrhundert A. D. Ich glaube, wir waren sogar noch vor den Deutschen da. Mein Vater und mein Onkel engagierten sich im CV – ach so, das war der Central-Verein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Er ähnelte Ihrer Antidiffamierungsliga, war aber nicht so eng. Wir bildeten eine Front mit den Parteien des Zentrums und der Sozialdemokratie. Wir setzten alles auf diese Wahlen. Nicht einen Augenblick lang waren wir blind für die Gefährlichkeit der Nazis, aber wir hatten nicht die Mitgliederzahlen, das Geld, die Macht, sie aufzuhalten. Oh nein, bevor Hitler an die Macht kam, fanden wir die Zionisten lächerlich. Wir waren Deutsche, meine Liebe, wir konnten uns nicht mal dazu überwinden, uns mit den Ostjuden zu identifizieren – Juden, die aus Polen emigriert waren –, weil wir, wie Sie wissen, in Deutschland bis dahin keine Pogrome hatten und wirtschaftliche Möglichkeiten. Wir empfanden die Ostjuden als fremd. Unkultiviert.« Marlitt fuhr sich flüchtig mit schlanken Fingern über das Kinn. »Wir waren es gewohnt, dass deutsche ›Künder‹ uns verunglimpften. Wir nahmen es so auf, wie Sie es als Frau tun, wenn Sie hören, dass sich ein Mann über die Beschränktheit der Frauen auslässt. Sie denken, ach ja, und doch hat eine von uns dich geboren und dich genährt, und du wirst eine von uns heiraten.