Marge Piercy

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers


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lachte kurz und trocken auf. »Sehen Sie, wir waren es eben gewohnt, dass wir gebrandmarkt wurden, dass aber alles so weiterging wie gehabt. Jeder zweite Deutsche war ein Antisemit, der über das Judenproblem geiferte, über die jüdische Vorherrschaft, über die zionistische Verschwörung. Und dann mit Verständnis dafür rechnete, dass er einen nicht persönlich meinte. Sondern natürlich die anderen, die schlimmen Juden. Man gewöhnt sich an zu denken, sie meinen es nicht so, wenn sie ihre kleinen Witze über die Juden machen. Man übergeht es einfach und wartet, bis sie sich wieder wie Menschen benehmen. Wir hatten uns mit all den kleinen und großen Beleidigungen fast gemütlich eingerichtet, solange es uns nur gut ging und wir unser Leben lebten.«

      Abra fand es schade, dass ihre Notate niemals Marlitts Stimme wiedergeben konnten, melodiös, klangvoll, spöttisch, bissig. Ingwereiscreme, dachte sie, süß und scharf zugleich. Dennoch hatte Marlitt eine Trockenheit, eine seltsame Distanziertheit, als wäre sie in Wahrheit viel älter, eine Nonne, die mit kühler Unbeteiligtheit auf ihr Leben in der verderbten Welt zurückblickte.

      »Nein, mein Vater und mein Onkel waren die politisch Engagierten. Ich war jung und hatte nur Mode im Kopf und Feste und Bälle und Ausstellungen. Berlin ist wie New York, es saugt alle Künste in sich auf. In Berlin waren die Nazis nur eine Handvoll Spinner. Niemand schenkte ihnen Beachtung. Es gab nicht mehr als zwei- oder dreihundert von ihnen, bis dieses üble kleine Frettchen Goebbels auftauchte. Der schickte sie los, die Linken zusammenschlagen. Sie marschierten in die Arbeiterversammlungen und störten und veranstalteten Krawalle. Das brachte sie in die Zeitungen, und alles Gesindel in der Stadt stand bald Schlange, um bei der Gaudi dabei zu sein. Und trotzdem, wenn die Reichen ihnen nicht nachgelaufen wären und sie beschnuppert hätten wie diese läufige Hündin Magda Quandt, die ihn schließlich geheiratet hat, dann hätten sie niemals diese Mittel zur Verfügung gehabt. Wenn ich denke, dass ich für die mal etwas entworfen habe! Ach je, von Politik war die völlig unbeleckt, und ich bezweifle sogar, dass die zu der Zeit antisemitisch war.«

      »Mein Mann?« Sie schwieg lange. Ihr Gesicht schien sich einzuebnen. »Nein, Speyer ist nicht wirklich mein Mann, ich werde es Ihnen erklären. Mein Mann war Martin Becker. Ein gutaussehender Mann, kräftig gebaut, über eins achtzig groß. Er hatte in der Schule Fußball gespielt. Er starb im Lager, in Buchenwald. Sie sagten, an einer Krankheit. Das sagten sie immer. Vielleicht werden wir es eines Tages wissen. Ich hörte, dass dort Fleckfieber grassierte …«

      Abra merkte, dass sich in ihrer Informantin ein Tor geschlossen hatte. Über ihren Mann wollte Marlitt nicht weiter sprechen. Abra änderte die Richtung ihrer Fragen und nahm sich vor, später darauf zurückzukommen. »Wir sind über Frankreich ausgereist. Ich fühlte mich nicht wohl in Frankreich, zu viele Einschränkungen gegen jüdische Emigranten, was wir tun durften, was nicht. Sie waren gegen uns eingenommen. Wir gingen weiter nach Portugal. Ich musste dort als Schneiderin arbeiten, fast schon als Näherin. Ein hübscher Abstieg, wie? Ich schneiderte den Damen Roben für Kostümfeste.«

      »Ach, Mr. Speyer. Den habe ich in Portugal kennengelernt. Speyer ist amerikanischer Jude, ein Witwer. Er hat mich geheiratet, um mich herzuholen, und wir haben auch meinen Vater und meine Mutter nachgeholt. Nein, es war reine Menschenfreundlichkeit. Er lebt mit seiner Freundin zusammen, aber er kann sie nicht heiraten – die Kinder seiner ersten Frau wollen das nicht zulassen –, und ich habe ein Papier unterschrieben, wonach ich auf sein gesamtes Eigentum verzichte. Nein, meine Liebe, nicht gerade eine weiße Hochzeit, aber lassen Sie das weg. Schließlich sind wir zusammen hergereist, und ich habe nach meiner Ankunft in seiner Wohnung gelebt, was seiner Freundin gar nicht gefiel. Jetzt, wo meine Staatsbürgerschaft gesichert ist, lassen wir uns in aller Stille scheiden. Und vielleicht wird Alfred es wieder tun. Er ist ein guter Mann, ich esse jeden Sonntag mit ihm – freitags mit meinen Eltern. Ich stelle mir zu gerne vor, wie Alfred hin- und zurückfährt und alle diese Frauen heiratet und es in Wahrheit genießt und uns dann hier in Sicherheit bringt. Er ist ein sehr guter Mann. Sie müssten ihn befragen …«

      Wenn Marlitt sich in ihrer trockenen, distanzierten Art auch weigerte, für die Akten zu lügen und zu behaupten, ihre Beziehung zu Speyer sei rein platonisch, so sprach sie über ihn doch ebenso distanziert wie über alle anderen. Abra fragte: »Aber ist es nicht lästig, dass man Sie für verheiratet hält, wenn Sie es gar nicht sind? Sie sind eine attraktive Frau. Sie lernen doch bestimmt Männer kennen.«

      »Es ist praktisch«, sagte Marlitt bündig. »Es lässt keinen falschen Eindruck aufkommen, denn ich war verheiratet und habe keinerlei Neigung, es wieder zu sein … Was? Mein richtiger Mann? Er war Journalist, aber nachdem sie die Juden aus den Zeitungen hinausgeschmissen hatten, betätigte er sich im Kulturbund. Sehen Sie, uns wurden die Schauspieler und Musiker und Sänger auf die Straße gesetzt, und wir alle wurden nach und nach von öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Er begann, kleine Stücke für den Kulturbund zu schreiben. Deshalb haben ihn die Nazis so früh geholt. Die Stücke, sie waren sehr komisch. Alles natürlich in versteckten Anspielungen. Wenn man irgendetwas Direktes sagte, dann kamen sie sofort, und man wurde verhaftet. Wir haben etwas benutzt, was wir den Neuen Midrasch nannten, alles war in Geschichten verpackt, die wir kannten. Er schrieb und inszenierte ein Purimspiel, und wir alle wussten, wer Haman war. Aber ich glaube, das haben selbst die Nazis spitzbekommen.«

      Marlitt war einfach zu befragen. Ihr Englisch war ausgezeichnet, und sie bestand darauf, es zu benutzen. »Es ist schwerer, von diesen Dingen auf Deutsch zu reden«, sagte sie fest. Sie sprach trocken, ohne Tränen. Abra begann in ihr eine Frau zu sehen, deren Tränen versiegt waren. »Ja, ich hatte einen Sohn. Das geht niemanden etwas an, der solch einen Tod nicht mit angesehen hat. Ich möchte nicht darüber sprechen.«

      »Mein Vater, mein Onkel waren beide in der Reichsvertretung. Das war das Instrument, mit dem wir versuchten, den Nazis eine einheitliche Front zu bieten. Wir hofften immer noch, dass dieser Irrsinn nicht andauern konnte. Eine Regierung, die wahnsinnig war? Wer konnte das glauben? Alles wie gehabt, Propaganda, Übergriffe, aber weiter würde es sicher nicht gehen. Die anderen Mächte würden sicher nicht zulassen, dass die Nazis uns tatsächlich antaten, was sie da ankündigten. Wir warteten immer darauf, dass Hitler anfing, wie eine vernünftige Regierung zu handeln. Er hat jetzt die großen Industriebarone hinter sich, sagten wir uns, sie werden ihn zum Nachgeben zwingen. Die Krupps, die Thyssens, die wollen das Land nicht in Stücke reißen. Wenn sie darauf bestehen, wird er uns in Frieden lassen. Während der Olympischen Spiele schienen sich die Dinge zu lockern. Wir hofften weiter. Immer wieder gingen unsere Freunde oder wir hin und erkundigten uns nach Auswanderungsmöglichkeiten, aber niemand wollte uns ein Visum geben. Die Briten ließen uns nicht nach Palästina und wollten uns nicht in England, und die Vereinigten Staaten wollten auch keine Juden. Aber nach der Kristallnacht hatten wir keine Hoffnung mehr, keine Illusionen. Wir nahmen Reißaus. Wir ließen unsere Toten in der Erde, auf der wir jahrhundertelang gelebt hatten, und nahmen Reißaus.«

      Marlitt war plötzlich sichtlich erschöpft. Sie berührte ihre hohe Stirn mit einer blassen Hand und regte sich kurz in ihrem Sessel. Abra verabschiedete sich und hoffte, dass Professor Kahan ihre Fragen eindringlich genug fand. Wenn er ihre getippten Protokolle durchging, wies er oft auf Bereiche hin, wo sie hätte nachhaken müssen. Sie lernte, sich auf dem Terrain zurechtzufinden. Zwar kannte sie nach und nach die Namen der Verbände und Vereine, in denen diese Menschen sich in Deutschland betätigt hatten, bat aber trotzdem jede Informantin, ihr diese Organisation zu erklären. Denn Professor Kahan sagte, über eine Organisation in einem anderen Land gäbe es immer noch mehr zu erfahren, und was die Menschen über eine Gruppierung dachten, wenn sie ihr beitraten, und was die Gruppierung ihrer Meinung nach tat, sei ebenso wichtig wie das, was sie tatsächlich bewirkte.

      Er spielte manchmal Fragesteller oder Informant mit ihr und zeigte ihr Wege, die gleiche Frage so zu stellen, dass sie anders klang, oder Wege, angesichts von Verschlossenheit ein Thema zu verfolgen, ohne aufdringlich zu klingen oder bedrohlich zu wirken. Der wichtigste Aspekt von Abras Auftritt – so nannte er das – war, naiv und guten Willens und interessiert zu erscheinen und so, als verfolge sie keinen tieferen Zweck. »Eine Studentin, eine gutherzige, wohlmeinende amerikanische Studentin ist das, was Sie sind, und ist das, was Sie ihnen vorführen.«

      »Das ist also die Summe dessen, was ich bin?«, fragte sie ziemlich pikiert.

      »Das