Marge Piercy

Menschen im Krieg – Gone to Soldiers


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eine Prüfung, die nie aufhörte. Aber dann merkte sie nur allzu rasch, dass ihre Ferien keine waren, denn die Tagesstätte ging sommers weiter wie winters. Außerdem versorgten jetzt Tante Rose und Sharon auf gleichem Raum mehr Kinder als vorher. Naomi wurde einkaufen geschickt, ein schwieriges Unterfangen durch die roten Marken und die blauen Marken und welche Marken diese Woche gültig waren und welche benutzt werden mussten, bevor sie verfielen.

      Sharon sagte, was für ein Glück Naomi hatte, so früh alles über Babys zu lernen, denn sie selbst hatte vorn nicht von hinten unterscheiden können, als sie Marilyn bekam. Nun konnte Naomi bald einem Mann eine gute Frau werden, denn sie wusste bereits, wie sie ihre eigenen Babys nähren, baden, halten und anziehen musste. Sharon sagte, das war viel wichtiger als alles, was Naomi auf der Schule lernte, und hier bekam sie die richtige Erziehung.

      Naomi widersprach nicht laut, aber sie fühlte sich nicht beglückt. Sie fühlte sich eingeklemmt. An den Spätnachmittagen entfloh sie, um an einer der Ecken Völkerball oder Brennball zu spielen. Jungen und Mädchen spielten bis Einbruch der Dunkelheit. Eines Abends versuchte Brillen-Rosovsky, sie zu küssen, als sie alle auf den Verandastufen des Hauses saßen, in dem Brille wohnte, und sie trat ihn vors Schienbein. Hinterher tat es ihr leid, dass sie mit dem Tritt nicht bis nach dem Kuss gewartet hatte, um herauszufinden, wie das war, aber sehr leid tat es ihr nicht.

      Naomis Haar war so kraus wie eh und je. Sie überredete Ruthie, es ihr für den Sommer kurz zu schneiden. Tante Rose bekam einen Anfall, als sie sah, was Ruthie getan hatte, aber Naomi gefiel ihr neuer Haarschnitt. Tante Rose sagte, sie sähe aus wie ein Pudel. Naomi sagte, Pudel seien französisch und das sei sie auch. Tante Rose sagte, sie werde so frech und vorlaut wie amerikanische Mädchen, und wo sei das liebe kleine Mädchen geblieben, das zu ihnen gekommen war?

      Naomis Brüste wuchsen. Die Brustwarzen juckten. Sie fühlte sich reizbar, und ihr war langweilig und heiß. Sandy wollte ein taubenblaues Kostüm und ein Taftkleid, wenn der Krieg vorbei war. Sharon wollte einen elektrischen Kühlschrank. Naomi wollte einundzwanzig, mit der Schule fertig und woanders sein. Wenn sie daran dachte, wie lange es noch dauerte, bis sie groß genug war, um irgendwas auf eigene Faust zu tun, fühlte sie sich im Voraus erschöpft. Es dauerte einfach zu lange, groß zu werden, es lohnte kaum das Warten. Am meisten freute sie sich auf die Tage, wenn der Eismann mit seinem Pferdekarren kam und sie sich ein Stück Eis zum Lutschen erbetteln konnte. Es war so heiß, dass Boston Blackie den ganzen Tag nur unter der blauen Hortensie im Hof schlafen wollte.

      Vielleicht wurde sie mal Sekretärin wie Ruthie. Ruthie arbeitete nicht mehr in dem Kaufhaus, sondern sie hatte eine Stellung beim Wohnungsamt von Detroit. Für kürzere Arbeitszeit bekam sie mehr Geld. Rose sagte, Sekretärin sei genauso gut wie Sozialarbeiterin, aber Ruthie war nicht der Meinung und fuhr immer noch vier Abende die Woche zur Wayne.

      Ruthie erklärte, dass sie nicht als richtige Sekretärin arbeitete, sondern im Schreibsaal für die Stenotypistinnen. Als Jüdin hatte sie Glück, solch eine Stellung zu finden, in einem Büro, aber es war nicht das, was sie wirklich wollte, und sie hatte nicht vor, auf Dauer dabeizubleiben, vertraute sie Naomi an. Ihrer Mutter erzählte sie das nur ein einziges Mal, denn Rose ging an die Decke, wenn sie so was hörte. Rose bekam es mit der Angst, wenn sie meinte, eins ihrer Kinder wollte etwas, was es nicht haben konnte, aber Ruthie sagte, dass Rose sich mit zu wenig zufrieden gab, weil sie nicht begriff, wie die Welt sich veränderte. »Für Leute wie uns kann alles nur noch schlechter werden oder besser.«

      In letzter Zeit dachte Naomi viel über Geld nach. Als kleines Mädchen war es für sie selbstverständlich, dass ihre Eltern arbeiteten. Sie waren nicht reich, sie waren Arbeiter wie alle im Viertel, aber sie aßen gutes Essen, das Maman nach der Arbeit kochte, und alle Mädchen halfen, und sonntags fuhren sie aufs Land oder sie gingen ins Kino oder in den Jardin des Plantes oder das Musée de l’Homme. Jedes Jahr machten sie im August richtige Ferien und verließen für vierzehn Tage Paris.

      Als Papa in den Krieg musste, war ihre Familie ärmer geworden. Seitdem hier der Krieg angefangen hatte, ging es ihnen besser. Tante Rose und Sharon verdienten Geld, Ruthie hatte eine bessere Stellung, Arty stand am Fließband im Fisher-Karosseriewerk, und Onkel Morris machte viele Überstunden. Das Auto war endlich abbezahlt. Die Miete war zweimal erhöht worden, aber jetzt mit der Mietpreisbindung blieb sie stabil.

      Sie sparten und steckten das Geld in Kriegsanleihen. Ruthie gab Naomi jede Woche einen Vierteldollar, damit sie dafür in der Schule Verteidigungsmarken kaufen konnte, aber Naomi tat es oft nicht. Sie wusste, wie das Papiergeld, das die Regierung ausgab, sich über Nacht in simples Papier verwandelte, und sie brachte es nicht fertig, ihre Vierteldollarmünzen auf diese Marken zu verschwenden, mit denen man nicht mal einen Brief frankieren konnte. Ihrem Gefühl nach begriffen die amerikanischen Verwandten einfach nicht, dass man an Münzgeld festhalten musste. Sie hatte ein Versteck unter einer morschen Diele in dem Zimmer, das sie mit Ruthie teilte. Dort versteckte sie ihre Vierteldollars, zumindest bis feststand, ob die Regierung stürzen würde. Regierungen taten das oft.

      Wenn sie Leute sagen hörte, wie schlimm Hamsterer waren, lastete ihr Hamsterschatz aus Ruthies Vierteldollars auf ihrem Gewissen. Aber wenn all das Geld, das Tante Rose und Onkel Morris in Papieranleihen verwandelten, futsch war, dann konnte sie alle retten. Silber und Gold waren echt. Tante Batya hatte Polen mit ein wenig im Mantelsaum eingenähtem Gold verlassen, und davon hatten die Balabans nach Frankreich kommen und von vorn anfangen können.

      Wenigstens hatte Ruthie jetzt mehr Zeit für sie, denn Ruthie hatte aufgehört, mit Männern auszugehen. Manchmal ging Naomi mit Trudi ins Kino und manchmal mit ihrer ganzen Familie oder mit Sharon (Arty hatte Spätschicht und konnte nicht mit) und manchmal mit Ruthie allein. Kleine Restaurants und Geschäfte machten zu, aber die Kinos waren rund um die Uhr geöffnet und immer voll. Sie sahen Alan Ladd in Die Narbenhand, Greer Garson in Mrs. Miniver und Bob Hope in Geliebte Spionin. Sie saßen Abenteuer in Panama, Saboteure und Der Dollarregen aus, alle paar Tage zwei oder drei Spielfilme hintereinander.

      Jeden Abend hörten sie Radio und lasen Zeitung, sogar Naomi, deren Englisch sich so weit verbessert hatte, dass sie die Zeitungen ebenso gut las wie Onkel Morris. Ihr Lieblingsfach war Geografie, was Teil von Gesellschaftskunde war. Sie liebte es, die Namen aus dem Radio und den Zeitungen auf Karten im Atlas zu finden und die Bewegungen der Armeen in Ägypten, Neuguinea und der Sowjetunion nachzuvollziehen, obwohl es stets darauf hinauslief, dass die Achsenmächte vorrückten. Immer mehr musste auf den Karten schwarz schraffiert werden.

      Tante Rose hielt sie dazu an, im Haus und auf dem Hof den Sommer über barfuß zu laufen, denn Schuhe waren rationiert. Ihre Fußsohlen wurden so hart, dass sie vor Brille und Sandy prahlte, sie könne über Glasscherben gehen, ohne sich zu schneiden, also zertrümmerten die eine Limoflasche. Naomi wollte eigentlich nicht, aber sie setzte den Fuß auf die Scherben und humpelte darüber, und sie hatte recht, der Fuß blutete nicht. Sie gewann ein Zehncentstück von Sandy und eins von Brille, aber dann musste sie ihnen für die Hälfte des Geldes Eistüten kaufen.

      Alvin drehte einen Hydranten auf, und alle rannten durchs Wasser und spritzten im Rinnstein, bis die Polizei kam. Trudi sagte, sie könnten zu ihrem Haus kommen und unterm Gartenschlauch durchlaufen. Trudis Eltern wohnten im Erdgeschoss eines Zweifamilienhauses, und ihr Vater sprengte gern den Rasen. Naomi bekam von Ruthie einen neuen Badeanzug, leuchtend grün mit rückenfreiem Oberteil und einem süßen Röckchen. Sie versuchte sich einig zu werden, ob sie darin sexy aussah. Sandy redete andauernd davon, was sexy war und was nicht. Ihr anderes Wort war ›traumhaft‹. Sandy redete zu viel von Jungens, aber weil sie so nah wohnte, konnte Naomi sogar mit ihr spielen, wenn sie auf die Tagesstättenbälger aufpassen musste.

      Sandy hatte honigblondes Haar, ungewöhnlich unter den Juden ihres Viertels. Im Gesicht wirkte sie knochig, die Nase habichtartig, der Kiefer ein wenig vorspringend, aber Sandy bildete sich etwas auf ihr Haar ein und tat, als wäre sie hübsch, und alle andern machten das mit. Sandy musste auf ihren rotznasigen kleinen Bruder Roy aufpassen, noch ein Band zwischen ihnen.

      Sandy redete sich ein, der Hof zwischen den beiden Häusern sei was Besonderes. Ihr Paps hatte eine große Kabeltrommel aus Holz mitgebracht, die sie als Tisch benutzten, mit Holzkisten vom Kaufmann als Stühlen. Manchmal hatten Sandy oder sie Geld für eine Limo, aber meistens nicht. Da bei beiden Familien Zucker stets