Sarah Dreher

Stoner McTavish - Schatten


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      Ein langsames rhythmisches Beben ließ den Boden erzittern. Sie lauschte nach dem Ursprung. Es kam vom Haus.

      Maschinen. Schiffsmaschinen.

      Keine Maschinen. Herzschläge.

      Der Herzschlag des Hauses.

      Sie wich zurück und wollte schreien. Nebel rollte sich über ihre Zunge, glitt in ihren Rachen. Ihre Füße berührten den Kies. Über ihr begann das Dach aus Schieferschindeln zu schmelzen.

      Sie machte einen Schritt …

      … und fiel!

      »Stoner, Liebes, du hast einen Alptraum.«

      »Was?«

      »Wach auf, Stoner.«

      Sie setzte sich auf und rieb sich die Augen. »Tante Hermione?«

      Die ältere Frau thronte auf der Bettkante und trank Tee. Ihr Pfauenkimono glänzte im grauen Licht. »Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.«

      »Sekunde.« Sie blickte sich im Zimmer um und machte Inventur. Eichenschreibtisch, Lesepult, Bücherregal, Stehlampe, Hocker, Fenstersessel, altweiße Wände, burgunderfarbene Vorhänge, gerahmtes Foto der Tetons. Alles am richtigen Platz.

      »Was hältst du davon, nach Maine zu fahren?«

      »Ich kann nicht nach Maine fahren. Ich muss arbeiten.« Sie nahm die Teetasse ihrer Tante, nippte daran und schüttelte sich. »Mate.«

      »Die Indianer Südamerikas haben ihn jahrhundertelang getrunken.«

      »Ich brauch was Stärkeres.«

      »Auf deinem kleinen Tischchen steht Kaffee, Liebes.«

      Kalt. Na gut. Sie kippte ihn runter. »Wie lange sitzt du hier schon?«

      »Ein paar Minuten.«

      »Und beobachtest mich beim Schlafen

      Ihre Tante wurde steif. »Natürlich nicht. Sich in die Privatsphäre anderer einzuschleichen ist eine Sünde, die das Karma belastet, Stoner.«

      »Gott sei Dank!«

      »Der«, schnaufte Tante Hermione, »der würde doch als Erster in unseren Herzen herumschnüffeln, der alte Wichtigtuer.«

      »Bestimmt hast du recht«, murmelte Stoner und schob die Bettdecke zurück. Der Alptraum ging ihr wie eine Schuld nach. Kalter Kaffee hatte nicht geholfen, vielleicht kaltes Wasser … Sie stolperte ins Badezimmer.

      »Soll ich für dich packen, Liebes?«

      »Was packen?«

      »Was immer du willst.« Tante Hermione rückte eine weiße Haarlocke zurecht. »Und wenn du meinen Rat hören möchtest …«

      Stoner sackte gegen den Schreibtisch.

      »… du solltest dich warm anziehen. Maine ist ekelhaft im März.«

      »Alles ist ekelhaft im März. Ich kann nicht nach Maine fahren.«

      Ihre Tante seufzte schwer. »Es gibt eine hauchdünne Grenze zwischen Hartnäckigkeit und Sturheit, Stoner. Ich wünschte, du würdest sie nicht so oft überschreiten.«

      »März bedeutet Frühjahrsferien. Frühjahrsferien bedeuten Kreuzfahrten und Charterflüge in die Karibik. Kreuzfahrten und Charterflüge in die Karibik bedeuten Arbeit. Stornierungen. Verwicklungen. Verlorenes Gepäck. Chaos, Tante Hermione, totales Chaos.«

      Die ältere Frau setzte sich die Brille auf und prüfte Stoners Bücherschrank. »Fahr in die Karibik, wenn dir danach ist, aber es würde unser Problem nicht lösen. Hast du Agatha Christie ausgelesen?«

      Stoner sah alarmiert auf. »Welches Problem? Haben wir ein Problem?«

      »Ich verstehe einfach nicht, wie du es fertigbringst, May Sarton zu lesen. Sie ist so kopflastig.«

      »Es war eine Liebesgabe.« Sie ballte die Fäuste. »Tante Hermione, was für ein Problem?«

      »Eine Gabe«, sagte Tante Hermione, die eine misshandelte Nancy Drew-Originalausgabe aus der ›Blauen Reihe‹ inspizierte. »Wunderbar. Ich kann meinen Freundinnen erzählen, ich habe eine Nichte mit Gaben.«

      In höchstens siebenunddreißig Sekunden wirst du eine Nichte mit Psychosen haben. »Tante Hermione …«

      Tante Hermione drehte sich um und spähte über ihren Brillenrand. »Claire Rasmussen.«

      »Wer ist Claire Rasmussen?«

      »Die Schwester von Nancy Rasmussen. Ich wusste nicht, dass du einen Urlaub in die Karibik geplant hattest. Fährt Gwen auch mit?«

      Stoner raufte sich wild mit beiden Händen die Haare. »Gwen muss unterrichten.«

      »In den Frühjahrsferien? Kein Wunder, wenn der Lehrerverband den Aufstand probt.«

      Irgendetwas rastete aus. »Ich fahre nicht in die Karibik! Andere Leute fahren in die Karibik. Und ich muss sie dahin bringen.«

      »Stoner, wenn diese Leute meinen, sie müssten unbedingt in die Karibik, dann werden sie schon irgendwie hinkommen.«

      »Genau, und deshalb wäre es mir lieb, sie würden mit Kesselbaum & McTavish hinkommen und nicht mit TUI.« Sie angelte frische Unterwäsche aus einer Schublade.

      »Ich habe dir schon tausendmal gesagt«, beharrte ihre Tante, »Kesselbaum & McTavish ist dazu ausersehen, erfolgreich zu sein. Nicht rasend erfolgreich, aber erfolgreich.«

      »Wir müssen nur noch entsprechend arbeiten.«

      »Wahrscheinlich hast du recht.« Tante Hermione ließ sich mit Agatha Christie auf dem Rand der Badewanne nieder. »Man muss sich wohl gelegentlich blicken lassen, nicht wahr?«

      »Genau. Und zwar muss man sich pünktlich blicken lassen, also wenn es dir nichts ausmacht …« Stoner deutete zur Tür.

      »Angenehmes Duschen, Liebes«, sagte Tante Hermione freundlich. »Wenn sich deine Laune etwas gebessert hat, können wir ein nettes kleines Gespräch über Claire Rasmussen führen.«

      »Ich kenne niemanden namens …«

      Sie stellte fest, dass sie mit der Badezimmertür sprach.

      ***

      »Claire Rasmussen?«

      Tante Hermione schenkte sich eine weitere Tasse Matetee ein. »Sie ist verschwunden. Wir sprechen darüber, wenn du etwas gegessen hast. Du bist immer ausgesprochen unausstehlich vor dem Frühstück.«

      »Immer?«

      »Jeden Morgen, seit sechzehn Jahren, bist du unausstehlich. Warst du schon so unausstehlich, bevor du dein Elternhaus verlassen hast?«

      »Vermutlich.« Sie bestrich ein Milchbrötchen mit Butter. »Oh Göttin, muss ich langweilig sein.«

      »Findest du? Ich fand es immer sehr angenehm. Soll da wirklich die ganze Butter draufbleiben, Stoner? Sie ist so fett.«

      »Ich brauch das, um den Tag durchzustehen.«

      »Du isst nicht genug.« Tante Hermione nahm ihren eigenen Teller in Augenschein, kaum noch zu sehen unter einem Berg Rührei, Toast mit Marmelade und sechs Scheiben Schinkenspeck. Daneben stand ein Schälchen mit Krautsalat, übrig vom Vorabend. »Ich allerdings futtere wie ein Fernfahrer.«

      »Ohne jemals ein Gramm zuzunehmen. Wie machst du das bloß?«

      »Das ist die Arbeit. Manchmal saugen die Sitzungen an meinen Energievorräten wie ein Elektrolux. Vielleicht sollte ich mir doch lieber ein Haustier als Medium zulegen, aber das kommt mir irgendwie so unpersönlich vor.«

      »Warum grübeln, solange dir das Essen Freude macht.«

      »Das war sehr inspiriert«, sagte ihre Tante strahlend. »Du bist immer so gut im Finden von Entschuldigungen.«

      »Mutter