Wolfgang Fritz Haug

Jahrhundertwende


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wird nun auf uns wirken?

      7. September 1990, Ortisei

      Pluraler Marxismus. – Ist es zu spät, den dritten Band zu veröffentlichen? Unversehens renne ich nicht einmal mehr offene Türen ein, sondern da sind keine kriegssozialistischen Mauern mehr, vielmehr ist da eine neue Mauer, erbaut aus Geschwätz, welches das Schweigen über die Hauptsache kaschiert. Was gegenwärtig, nach dem Untergang des Marxismus-Leninismus als Offizialideologie des befehlsadministrativen Regimes, an Kritik post mortem geübt wird, steht unter dem Verdacht aller nachträglichen Kritik an Besiegten: Nachher ist man nicht vor allem klüger, sondern es ist opportun, das Gestürzte zu treten. Manche der Mitmacher des Alten machen schon wieder mit.

      Diesem Verdacht könnten die Beiträge meines dritten Bandes nicht ausgesetzt werden. 1. Historisierung des Projekts die Voraussetzung. 2. Bewertung meiner Beiträge zur »Widerspiegelungs-Diskussion« vom Standpunkt der Frage, was sie beitragen zur Archäologie des künftigen Marxismus. 3. Verselbständigung der angekündigten Beiträge zur Politik des Kulturellen.

      Die unfreiwillig komische, blamierte Losung der DDR-Führung: den Kapitalismus zu überholen, ohne ihn einzuholen, in der mehr Sinn steckte als im Triumph über den Untergang der DDR, passt auf den Streit, dessen eine Seite in diesem Buch festgehalten ist: Scheint diese ganze Diskussion überholt, so ist sie doch nicht eingeholt.

      Wenn es heute um rettende Kritik in den Trümmern geht, um Unterscheidungsvermögen –

      Wenn man mir heute, mit dem Rücken zum siegreichen Kapitalismus, vorwirft, ich hätte seinerzeit nicht völlig gebrochen, sondern Ja, aber … gesagt, so ist dies auf eine Weise richtig: Ich hatte das klassische Terrain, also das Terrain der Klassiker, das der ML beanspruchte, als Kampffeld akzeptiert. Im Klassikerauftrag zu handeln, war das Imaginäre des befehlsadministrativen Sozialismus. Insofern stellten meine Einwände immanente Kritik dar, ging es doch auch darum, die Bruchstellen zwischen dem Gedankenmaterial, aus dem dieses Imaginäre sich aufbaute, und der wirklichen Basis dieses Imaginären aufzudecken. Dabei nicht zu vergessen die partiellen Entsprechungen zwischen jener Basis, den befehlsadministrativen Produktionsverhältnissen, und diesem Material, mit dem die Fassade des ideologischen Überbaus verkleidet war.

      Pluraler Marxismus – Formel für Beliebigkeit? Dagegen: Vom IMSF zur SPD gewandert der Vorwurf, ich würde bestimmen, was Marxismus sei und was nicht.

      Schwäche: Nicht Kritik der avancierten bürgerlichen Theorien, sondern Sich-Freistrampeln im Veralteten.

      29. September 1990, Berlin

      Folge der Annexion Kuwaits durch den Irak: In Rotterdam der Ölpreis bei 41,5 USD, obwohl der US-Präsident 10 Prozent der nationalen Ölreserve hat verkaufen lassen. Das wird Inflation und Zinsen hochtreiben, die Depression in den USA kann zur großen Krise werden. Schon jetzt der Staatshaushalt am Rande des Chaos. Zu alledem saugt Japan Geld zurück aus den USA, weil die fallenden Börsenkurse das Wertpapiervermögen der Banken reduziert haben. Die Grundstückpreise in den USA fallen, weil Anlagen verflüssigt werden müssen.

      Die BRD verschuldet sich wegen der DDR, wo man derzeit »Besetzung« und »Vergewaltigung« erfährt, Begriffe, die selbst im noch drei Tage amtierenden CDU-Kabinett verwendet werden. Bitterkeit auf einem Hintergrund der Angst. Die Oktoberrevolutionäre geschasst. Die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften sollen systematisch ruiniert werden. Eine der Waffen ist ausgerechnet das Staatseigentum an Grund und Boden. Staatseigentum, vormals zur Vorenthaltung von realer Vergesellschaftung dienend, dient nun zur Entgesellschaftung.

      Überraschend durchs Bundesverfassungsgericht das Wahlgesetz verworfen, das eigens zugunsten der rechtskonservativen DSU und zur Vernichtung der PDS gemacht worden war. PDS und Bürgerinitiativen kriegen plötzlich doch noch eine Chance.

      »Kindergipfel« der UNICEF: als bildeten Kinder als solche eine Interessengruppe, also hungerten Kinder und nicht junge genau wie ältere Arme. Kinder als Kategorie quer zu den Klassen.

      30. September 1990

      Traum von meinem Vater. Er stand an meinem Bett, und schien sich zu entschuldigen, dass es ihm nie leicht gefallen sei, Liebe zu zeigen. Ich sagte: Ich hätte mir nicht vorgestellt, dass es ohne dich so schwer sein würde. Er umarmte mich, hob mich dabei hoch. Ich war wohl wieder ein Kind. Die Tränen schossen mir in die Augen. Aber es war klar, mir würde Kraft zuwachsen. – Zu denken, was für ein verhutzelter Männerembryo er war, als ich ihn zuletzt lebend sah.

      *

      Aus Mexiko Bolívar Echeverría zu Besuch. Er sprach über die arabische Gegenmodernisierung als Reaktion auf schlechte Modernisierung. Sieht den deutschen Kapitalismus in der Pflicht, den Osten bis Sibirien zu modernisieren und sich zu subsumieren.

      Weil Subsistenz nicht viel mehr als nichts kostete, sei die Arbeitskraft in der DDR keine Ware gewesen. Die sozialistischen Länder hatten die Grundversorgung als Ziel. Dagegen sieht Bolívar heute im Sozialismus die Perspektive der Befreiung des Marktes. Folglich habe Lenin unrecht, wenn er in der Ware schon das Kapital angelegt sieht. Man müsse den Einschnitt zwischen dem ersten und dem zweiten Abschnitt bei Marx ungeheuer stark lesen. Eingreifen heiße zerstören; das Kapital greife ein. Kurz, Bolívar versucht, die Rehabilitierung des Marktes zu Marx zurückzuverlegen.

      Fidel Castro sei im Kriegskommunismus befangen; ein Kapitän, der mit dem Schiff unterzugehen sich anschicke. Im Gegensatz dazu hält Bolívar die Regierungsabgabe der Sandinisten für »ganz logisch«. Ungeheuer wichtig, dass sie die Armee behalten haben. Die ökonomische Krise völlig ungelöst. Die Sandinisten suchen zusammen mit der bürgerlichen Regierung nach einer Lösung.

      Bolívar erzählte vom »theoretischen Stierkampf« (corrida de toros) um Octavio Paz (Agnes Heller, Cornelius Castoriadis, Peter Sloterdijk und 15 andere): Das Ende des Kommunismus, Zeit des Liberalismus. Erhielten für ihre Inszenierung beste Sendezeiten. Die Linke eingeschüchtert. Carlos Monsiváis war der eingeladene Lizenz-Linke. Als er auf Paz, der alles erdenklich Schlechte von den Linken behauptet hatte, erwidern wollte, schnitt man ihm das Wort ab. Tags darauf replizierte er in La Jornada. In der Folge meldeten sich immer mehr Intellektuelle zu Wort, dazu der Politologenkongress. Pablo Gonzalez Casanova, der auf diesem Kongress eine Rede über die Lage der Sozialwissenschaften Lateinamerikas gehalten hat, soll zu Armando Hart gesagt haben: »In Kuba braucht ihr eine zweite Revolution.«

      Die von Bolívar mitherausgegebene Zeitschrift Cuadernos Políticos unterbricht fürs erste ihr Erscheinen. »Wir brauchen zunächst einige Zeit zum Nachdenken.«

      Bolívar arbeitet über Barock in Lateinamerika. Leitet die spezifische Diskursweise von diesem Phänomen her. Barock als Modernitätsform. Z.B. existiere die Bedeutung »nein« nicht. Um zu negieren, benützten sie »ja, ja«. Das Wesentliche wird im Nebensächlichen bedeutet.

      Als erste Kulturpolitik der Geschichte sieht er die der Jesuiten des 17. Jahrhunderts: Dammbau gegen die Reformation.

      *

      Zum »Veralteten« der DDR gehörte die Orientierung auf Schriftkultur. Das Buch. Die Zeitschrift.

      Wieso der Platinpreis fällt: Man rechnet mit Rezession (Krise), daher mit weniger Investition in Umweltschutz, für den Platin gebraucht wird.

      1. Oktober 1990

      Die USA drängen sich der westlichen Welt als Söldner auf, sagte Bolívar. Sie wollen den Krieg und haben nun wenigstens den Kriegszustand.

      Panik an der Börse von Tokio. Die Kurse halbiert im Vergleich zum Jahresbeginn.

      Zum ersten Mal Schüsse bei einer PDS-Veranstaltung.

      *

      BVG-Urteil zum Wahlgesetz. – Parteien der DDR müssten dort 23,75 Prozent der Stimmen erhalten, um insgesamt über die 5-Prozent-Hürde zu gelangen. Bundesdeutsche Parteien, die einzig im Bundesgebiet kandidieren würden, bräuchten