gebrauchen, um die Politik der Umgestaltung durchzusetzen und zu verhindern, dass irgendjemand »die Perestrojka zerbricht«.
Die Resolution »Für einen humanen, demokratischen Sozialismus« erklärt sich für die Überwindung der »historischen Spaltung der Arbeiterbewegung«, für Zusammenarbeit von »Kommunisten, Sozialisten, Sozialdemokraten, national-demokratischen Parteien sowie allen Organisationen und Bewegungen, die für Frieden, Demokratie und sozialen Fortschritt kämpfen«. Die innere Situation der SU sei bestimmt durch die Polarisierung zwischen einer »konservativ-dogmatischen Strömung«, die zurück zum autoritären Sozialismus der Vergangenheit will, und einem radikalen Antisozialismus, ja Faschismus und Monarchismus; in den nationalen Bewegungen immer mehr Chauvinismus.
Gorbatschow hat den Rückzug der KPdSU aus der Kontrolle der Massenmedien dekretiert. BBC brachte das in Zusammenhang mit der gestrigen Demonstration. Engelbrecht, den ich mit einigem Glück am Telefon erwische, sagt, der »konservative« Angriff sei dauerhaft abgewehrt. Daher sei die Demonstration auf dem Manegeplatz »die richtige Veranstaltung zum falschen Zeitpunkt« gewesen; nach dem russischen Parteitag wäre sie angemessen gewesen, jetzt nicht mehr. – Ich sage, im Fernsehen sei von 400 000 Demonstranten die Rede gewesen. E. erwidert, ich solle getrost die Hälfte streichen. Er war dort. Der Platz nur locker besetzt. Die Schaulustigen überwogen. Ein harter Kern von einigen Zigtausend umschloss die Rednertribüne. Weiter hinten zündeten die radikalen Sprüche nicht. Nicht die geballte Kampfstimmung wie im Februar oder April. Awaliani verglich er mit der SA. Dieser rechtsdemagogische Populismus sei gefährlich.
Wir hätten uns vom sinnlichen Eindruck zunächst irreführen lassen, als wir die Grundstimmung für machtkonservativ hielten. Was wir für »rechts« (er spricht diese Sprache allzu bedenkenlos) hielten, sei Ignoranz, Ungeübtheit, Verständnislosigkeit, Nicht-Mitkommen mit dem Neuen gewesen. Frei nach: Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht. Für das Folgenreichste hält E. rückblickend Gorbatschows Treffen mit den Sekretären der Grundorganisationen. Sie habe er gewonnen. Daraus sei ein zweiseitiger Energietransfer gefolgt. Kraft für ihn, Orientierung für die Verunsicherten.
Auf Gorbatschows Wunschliste (85 Namen) standen Gelman, Roy Medwedjew, Falin u.a. Sie hatten zwar mehr als die Hälfte der Stimmen erhalten, aber auch viele Gegenstimmen. Es bedurfte des massiven Auftretens von Gorbatschow u.a., die Beschwörung, nicht alles Erreichte des Kongresses in letzter Minute wieder zunichte zu machen, um die Delegierten dazu zu bewegen, das ZK entsprechend zu erweitern. – Der Opportunist Iwan Frolow hat es ins Politbüro geschafft. Ist aber nicht für »Ideologie« zuständig; dieses Ressort wurde Aleksandr Dsachossow (1934) übertragen, der den Ausschuss für Internationales im Obersten Sowjet leitet. Eine einzige Frau im Politbüro, anscheinend das übliche schamlose Feigenblatt: Galina Semenowa, Chefredakteurin der Zeitschrift »Krestjanka« (Die Bäuerin) seit 1981, nunmehr zuständig für Frauenfragen.
Mit Katja Maurer von der »Volkszeitung« meinen Abschlussartikel zum Parteitag vorbesprochen. Nach den Machtkonservativen wären nun die Gorbatschow-Leute zu behandeln. Allerlei Fragen von der Art, ob dies oder das »noch eine Zukunft« habe: die KPdSU, die Sowjetunion, der Sozialismus … Die nur 16 Prozent für Ligatschow eine große Überraschung. Wie zu erklären? Konzeptionslosigkeit der Machtkonservativen? Der Kultusminister, ehemals Chef des Tanganka-Theaters, zu den Delegierten: wir werden uns von der Jugend des Landes isolieren und die Beziehungen zu den Intellektuellen zerstören, wenn wir die Roy Medwedjew, Lazis, Gelman, Schatalin, Falin u.a. nicht wählen.
Die SU tut den großen Schritt von einem Wirtschaftsmodell zum anderen, das in der Logik der Dinge eigentlich nur mehr das des Westens sein kann. Zur sich neuen Konfiguration von Politik gehören der Nato-Generalsekretär, der die Feindrolle der SU für beendet erklärt, und Helmut Kohl, der eine Obergrenze der deutschen Armee und Geld und die Perspektive besonderer deutsch-sowjetischer Beziehungen anbietet.
Was verstehen die Leute um G unter »sozialistischem« Charakter der Politik? Die Rettung vor einem wilden Kapitalismus in einem drittrangigen Land.
Fragen. – Droht ein sowjetischer Bonapartismus, ein Präsidialregime mit Exekutiv-Verselbständigung auf Basis eines Klassengleichgewichts? Spricht dafür nicht die demokratisch dubiose Durchsetzung von Gorbatschows Kandidaten? Das Wiederholenlassen von Mehrheitsentscheidungen? So war freilich auch gehandelt worden, nachdem Ligatschow durch Mehrheitsentscheid von der Kandidatenliste gestrichen worden war. Oder entsprang es blindem Gehorsam, dass der kurz zuvor noch Gefeierte nicht gewählt worden ist? Nachträglich herrscht anscheinend der Eindruck, Gorbatschow habe den Kongress »total beherrscht«. NZZ erklärt Gorbatschows Erfolg mit alten Disziplin-Mechanismen und Angst vor weiterem Autoritätsverfall der KPdSU in der Öffentlichkeit.
Inwiefern ist Gorbatschow der (einzige) Garant der Umgestaltung? Ist die Angst des Westens vor seinem möglichen Verschwinden begründet?
Ist die Bewegung in den Städten, obwohl sie sich gegen Gorbatschow richtet, progressiv? Gibt es Ansätze einer nach Selbstverwaltung strebenden demokratischen Bewegung? Was bliebe andrerseits als Machtbasis der Partei? Provinz? Armee? Es sind doch wohl nicht nur die Funktionäre.
17. Juli 1990
So viele Energien in den Startlöchern, bereit zum Sprung –
Zwei Ungleichheiten: 1. Gedanken ungleich Worte; – 2. Worte ungleich Taten.
Manche sagen, Gorbatschows Text sei gut, aber unwirklich. Worte, denen nichts gefolgt sei. Und doch ist eine Revolution im Gange! Allerdings könnte sie in eine Konterrevolution münden. Dies dadurch begünstigt, dass dem Zerstören kaum ein neuer Aufbau entspricht.
25. Juli 1990
Perestrojka-Journal. – Erich Wulff, dem ich große Teile zu lesen gegeben hatte, schreibt dazu: »Es wirkt fast wie ein Drama, eine Schicksalstragödie, was da abläuft, an welcher der Seher auch nichts mehr ändern kann. Vielleicht ist ein bisschen zu kurz gekommen die rückblickende Reflexion darüber, weshalb die anderen Alternativen – Demokratisierung der DDR nach dem 9. November – sich als Illusionen erwiesen haben. Was und wann wurde Entscheidendes versäumt? Oder: gab es danach nichts mehr, was versäumt werden konnte? Irgendwann im November oder Dezember schätzt Du die Wiedervereinigungsparolen noch als ganz randständig, extrem ein – und nicht lange danach beherrschen sie nicht nur das Bild, sondern sind auch allesamt international akzeptiert.«
6. August 1990
Gestern bei Helmut Steiner, in seiner von Büchern und Papieren belagerten Wohnung am Prenzlauer Berg. Seine Frau, Roswitha März, eine Mathematikerin, hat fünf Jahre in Leningrad studiert. »Mathematiker beweisen Sätze.« Steiners Vorstellungen vom Nacharbeiten der Vergangenheit hängen noch in dieser. Das Unrecht, das den Bloch, Kofler, Trotzki zugefügt wurde, soll gutgemacht werden. Aber, sage ich, ihr verfehlt die Gegenwart.
8. August 1990
Inzwischen Jelzin angeblich »Hauptstütze« Gorbatschows. Die Stäbe der beiden arbeiten gemeinsam am Übergangsplan.
Türkei. – 75 Prozent Inflation. Hauptgrund: 50 Prozent des Staatshaushalts gehen für den Schuldendienst an westliche Banken drauf. In Istanbul würde der Durchschnittslohn gerade zum Mieten einer bescheidenen Wohnung reichen. Die guten Nachrichten gelten dem andern Extrem der Gesellschaft: Seit 1986 sind die Börsenkurse um 3000 Prozent gestiegen. Allein von Januar bis April 1990 um 50 Prozent! Der Export besteht zu 70 Prozent aus Rohstoffen, 10 Prozent sind Konsumgüter.
Börsenkrise in Tokio und New York. Die USA vor der Rezession. Die Invasion Kuwaits durch den Irak hat die Ölpreise hochgetrieben, was zusätzlich niederdrückend auf die US-Konjunktur wirkt.
9. August 1990
Von Ilse Ziegenhagen erfahren, dass »Sonntag« (DDR) und »Volkszeitung« (BRD) fusionieren.
10. August 1990
In der »Volkszeitung«