Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland


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die Schwangerschaft waren sich Hermine, die junge Mutter, und Nina Golz nähergekommen. Die Hebamme spürte die große Anspannung, die von Hermine ausging. Nina gab sich unbefangen, um Hermine zu beruhigen.

      „Wie geht’s unserem Baby?“, redete sie deshalb munter drauflos. „Sieht ja prächtig aus, der Kleine.“ Hermine drängte ungeduldig: „Sie wollten nach den Augen sehen.“

      Unruhig trat sie von einem Fuß auf den anderen. Die kleinen Haarsträhnen, die wie ein Schleier Hermines Gesicht umrahmten, bebten leicht. Als Nina Golz ihrer Tasche ein Pendel entnahm und über Pauls Augen hin und her bewegte, blieb Hermine eng an ihrer Seite und vergaß das Atmen. Mit dem Zeigefinger wiederholte Nina die Schwingungen und sprach dabei sanft mit dem Baby, das mit weit geöffneten Augen strampelnd dalag, mit Händen und Armen ruckelnd und lächelte. Das Kind lächelte zum Schrank hin, wo niemand stand, nicht die Hebamme, nicht die Mutter oder Gustav, der Vater. Die Hebamme nahm eine kleine, sehr helle Stablampe und leuchtete in Pauls Augen. Er schaute in das grelle Licht und lächelte. Das Gesicht der Hebamme wurde ungewollt sehr ernst. Zögernd verstaute sie ihre Geräte. Die Augen der Mutter spürte sie angstvoll auf sich gerichtet. Nina Golz holte tief Luft und ließ sich Zeit, bevor sie so ruhig wie möglich antwortete. „Sie sollten bald mit Paul einen Augenarzt aufsuchen.“

      Hermine erblasste bei diesem Satz. Noch versuchte sie, ihre Erregung im Zaum zu halten: „Was ist mit Pauls Augen?“ Die Verzweiflung in ihrer Stimme war unüberhörbar. Nina kramte weiter in ihrer Tasche. Sie hatte nichts Tröstliches für die junge Mutter und zögerte, deren verzweifelten Augen begegnen zu sollen. Schließlich hob sie ihren Blick. Die Augen der Mutter mit dem letzten Funken Hoffnung brannten in ihren. Die Hebamme legte den Arm um Hermines Mitte. Mit besänftigender Stimme sagte sie endlich: „Was mit Pauls Augen ist, muss der Augenarzt herausfinden. Davon wird abhängen, ob Hilfe möglich ist.“ Hermine konnte nicht mehr an sich halten. Ein herzbewegendes Schluchzen brach aus ihr heraus. Sie hielt beide Hände vor ihr Gesicht. Einfühlsam strich ihr Nina über den Rücken. „Paul ist blind, nicht wahr?“, wagte Hermine mit tränenerstickter Stimme zu fragen. Die Hebamme nickte nur. Sie ahnte, wie schwer diese Erkenntnis für die junge Mutter war. „Die Röteln während ihrer Schwangerschaft könnten der Auslöser gewesen sein.“

      Gustav, Pauls Vater, hatte im Hintergrund des Zimmers das Geschehen verfolgt. Seine Anspannung löste sich wie bei seiner Frau Hermine in einem Strom von Tränen, die seine Wangen herunterliefen und deren er sich nicht bewusst war.

      Leise öffnete sich die Tür.

      „Darf ich reinkommen?“, fragte zaghaft Arthur, der fünfjährige Bruder des Babys. Seine braunen Haare waren verstrubbelt. Er hatte im Kinderzimmer in seinem Zeichenblock einen Bauernhof gemalt, fühlte sich einsam und wollte zu den anderen.

      Die Hebamme legte das Baby in Hermines Arm. „Arthur, komm nur zu deinem kleinen Bruder.“

      „Warum weinst du, Mama?“, fragte er arglos und sah, dass sich auch sein Vater soeben Tränen aus den Augen rieb. Statt zu antworten, zog Hermine ihren Sohn eng an sich und umarmte ihn.

      Noch ahnen die Eltern nicht, welche Leidenszeit Paul und ihnen bevorsteht. Paul wird in den kommenden sieben Jahren siebenmal an den Augen operiert werden. Als Paul drei Jahre alt ist, wird Ilse geboren.

      Sie ist Liebling und Trost der Eltern. Hermine und Gustav nehmen sich viel Zeit, mit ihr zu singen und Ball zu spielen. Ilse kennt bald die meisten Texte ihrer Kinderbücher auswendig und murmelt sie mit, wenn Hermine, Gustav oder Arthur vorlesen. Ilse ist für ihre Eltern der Seelentrost und die Glücksquelle nach den Kümmernissen mit Paul. Bei aller Liebe, die die Eltern dem kleinen Mädchen schenken, entgeht ihnen, wie sich der unglückliche Paul müht, einen Teil ihrer Liebe für sich zu gewinnen. Er sehnt sich danach, dass sie auch mit ihm spielen, ihm eine Geschichte vorlesen, ihn in den Arm nehmen. Er spürt, von seinen ständigen Kopf- und Augenschmerzen wollen sie nichts mehr hören. Er macht ihnen eine Freude, wenn er sagt: „Es geht mir gut.“ Wenn sie öfter eine Weile bei ihm blieben, die Mutter, der Vater, Arthur oder die kleine Ilse, das wünschte er sich von ihnen, spricht es jedoch nicht aus.

      Hermine hat drei Freundinnen zum Kaffee geladen. Ihr hilft, ihnen ihr Leid klagen zu können, ihren Kummer mit Paul, der kein Ende nehmen will. Mit jeder neuen Operation haben sie und Hermine neu gehofft. Diese erneute Zuversicht hat ihnen Kraft gegeben und Mut. Nach dem Entfernen der Verbände im Krankenhaus dann wiederkehrend die Erkenntnis: vergeblich. Und die nachfolgende Aussichtslosigkeit, die Tränen und Depressionen bei Hermine. Neuer Anlauf zu neuer Hoffnung. Noch eine Operation. Zermürbendes Mühlrad aus Erwartung und Misslingen.

      Paul und sein fünf Jahre älterer Bruder stehen vor der geschlossenen Wohnzimmertür. Dahinter hören sie Stimmen. Die beiden wissen, dass sie nicht stören dürfen, wenn Mutter ihre Freundinnen bei sich hat. „Was machen die da drin?“, fragt der siebenjährige Paul, einen Verband über beiden Augen nach einer erneuten Operation. Arthur hält ihn an der Hand.

      „Weiß nicht, aber wart’ mal.“ Arthur schaut durchs Schlüsselloch. Er sieht, wie alle vier Frauen die Hände gespreizt auf dem Tisch liegen haben, sodass sich die Daumen und kleinen Finger der Nachbarinnen berühren. Mutter sagt: „Wenn du hier im Raum bist, so gib uns ein Zeichen.“ Alle schauen erwartungsvoll zur Kerze, die in der Mitte des Tisches steht.

      „Ich bin schuld, dass sich nichts tut“, sagt Hermine, „ich kann mich heut nicht konzentrieren. Das gestrige Gespräch mit dem Augenarzt lässt mir keine Ruhe. Ihr wisst schon, der Paul zum siebenten Mal operiert hat.“

      Arthur schaut Paul an. Deutlich kann man jetzt durch die geschlossene Tür vernehmen, was Mutter mit ihrer nicht zu überhörenden Stimme sagt: „Das linke Auge wird niemals sehen können. Ein Missgeschick bei einer Operation. Er wird ein Kunstauge bekommen.“ Bei diesem Satz springt die temperamentvolle Käthe auf, fährt sich mit ihrer Rechten in die Haare, die sie mit einem Kopfschwung nach hinten geworfen hat und ruft empört: „Ein Missgeschick?“ Ihre Haut glänzt vor Aufregung, ihre Wangen sind gerötet: „Und das nimmst du so einfach hin?“

      „Ich habe unterschrieben, dass ich über das Risiko aufgeklärt wurde. Ich bin dankbar, dass der Arzt für das rechte Auge Hoffnung macht. Aber noch ist alles offen.“ Hermine hat keine Kraft mehr, sich zu ereifern. „Wie viel Hoffnung?“, fragt Henriette. „Wenn alles gut läuft, wird Paul ein Drittel Sehfähigkeit auf dem rechten Auge haben.“ Auch Henriette ist nun empört wie Käthe. „Nur ein Drittel?“ Hermine bleibt ruhig. Seit Jahren lebt sie mit Ungewissheit und Unglück. „Das wäre ein Glücksfall, wenn du bedenkst, dass er bis heute seinen Vater, seine Mutter, seine Geschwister noch nicht gesehen hat. Ein Segen wäre das nach seinem siebenjährigen Leben im Dunklen. Mehr ist nicht zu erwarten. Aber ob dieses Mal alles gut gegangen ist, wissen wir erst in drei Tagen, wenn der Verband entfernt wird.“

      Hermine wagte kaum daran zu denken. Dieses Wechselbad zwischen Zuversicht und Misslingen in den letzten Jahren hatte ihren Nerven beträchtlich zugesetzt. Sie spürte, ihre Nervenkraft musste sie einteilen, wenn sie nicht schlappmachen wollte. Nicht auszudenken bei drei Kindern!

      „Und wie geht’s nun weiter?“, will Henriette wissen. „Sobald der Verband entfernt werden kann, wird Paul eingeschult. Hoffentlich nicht auf einer Blindenschule.“

      „Wie alt ist er jetzt?“, fragt Käthe.

      „Sieben. Aber in seiner Entwicklung weit zurück, etwa wie ein Fünfjähriger. Er ist zu klein und viel zu zart. Die vielen Spritzen vor und nach den Operationen, die Medikamente, vor allem die Schmerzmittel. Die vor allem haben seinem Magen geschadet, sodass es mühevoll ist, ihn zu ernähren. Sport hätte gutgetan. Das geht auch nur, wenn ein Kind genug Kraft dafür mitbringt. Er ist einfach zurück. Die Strapazen waren für Paul enorm. Und für mich. Pauls Augenerkrankung hat mich zehn Jahre meines Lebens gekostet. Mindestens.“ Hermines Stimme klingt müde und resigniert, bevor sie aufseufzend weiter spricht: „Die schlaflosen Nächte; die Arzt- und Krankenhausbesuche; Pauls Unselbständigkeit. Er braucht einfach viel Hilfe. Er ist ja nicht allein da. Ein solches Arbeitspensum mit diesen seelischen Belastungen wünsche ich niemandem.“ Hinter der Tür ist eine große Stille eingetreten.

      Paul,