Zimmer, das er mit seinem Bruder teilt. Dort hockt er sich in die Ecke, legt die Arme um die Knie und den Kopf auf die Arme. Er schaukelt vor und zurück, hin und her, als wenn er sich wiegt. Dann wird sein kleiner Körper von verzweifeltem Weinen geschüttelt. „Zehn Jahre … ihres Lebens … große Belastung“, flüstert er leise. Weder seine Mutter noch Paul selbst ahnen an diesem Tag, dass diese Worte wie ein Brandmal Pauls Leben prägen werden.
Als sich Paul beruhigt hat, tappt er leise, mit beiden Händen an Stühlen, Schränken, Türrahmen entlang tapernd, zur Küche und zum Spülbecken. Er fühlt die Tassen und Teller vom Kaffeekränzchen der Mutter. Er lässt Wasser einlaufen, tastet nach dem Spülmittel und gibt vorsichtig einen Tropfen hinein. Er beginnt, das Geschirr zu spülen, abzutrocknen und einzuräumen. Er braucht weit mehr Zeit als sein Bruder benötigen würde.
Arthur hat ein Buch geholt und ist auf den Boden geklettert. Dort hockt er auf einer staubigen Matratze, seinem Lieblingsleseplatz und schmökert. Er liest in jeder freien Minute ziemlich wahllos alles, was er vorfindet. Heut liest er „Der Hungerpastor“ von Wilhelm Raabe.
Paul hat den Abwasch beendet. Behutsam holt er den Besen aus dem Schrank und fegt die Küche. Das Küchenhandtuch, das auf den Boden gefallen ist und das er mit den Hausschuhen berührt, hebt er auf und hängt es über den Handtuchhalter. Dann fegt er weiter die Küche, wobei er wieder und wieder mit der linken Hand nach den Möbeln tastet. Mit dem Handfeger fegt er den Schmutz auf das Blech und fühlt, ob alles auf der Kehrschaufel ist. Er entleert den Kehricht in den Mülleimer, hängt Kehrschaufel und -besen wieder an ihren Platz, wäscht sich die Hände und tapert langsam und vorsichtig aus der Küche. Er greift kurz nach dem Verband auf seinen Augen, tapst die Treppe hoch in sein Zimmer und legt sich auf das Bett.
Währenddessen hört er, wie Mutter ihre Freundinnen verabschiedet, lautstark und aufgemuntert. Als alle gegangen sind, ruft sie nach Paul.
Er wäre gern in der Stille liegengeblieben, da hört er Mutter die Treppe hochstapfen. Sie betritt sein Zimmer, schiebt ihren Arm unter seinen Kopf, drückt ihn an sich und küsst ihn auf beide Wangen. „Mein Kleiner“, sagt sie liebevoll, „hast du dich hingelegt?“ Bevor er antworten kann, küsst sie ihn erneut und verlässt sein Zimmer.
Gern würde er mit jemandem bereden, was er heut erlebt hat. Aber mit wem? Vater ist selten da. Wenn Hermine ihren Kreis bei sich hat, spielt Gustav gern mit seinen Freunden in seiner Stammkneipe Skat. Oder ist im Baubetrieb seines Chefs, dessen rechte Hand er ist. Wenn Vater zu Hause ist, will Mutter mit ihm über ihre Anliegen reden. ‚Ist ja auch in Ordnung‘, denkt Paul. Und Arthur? Paul würde ihn nur beim Lesen stören. Arthur würde sich kaum für Pauls Kummer interessieren. Arthur findet sowieso, dass sich die meiste Zeit die Gespräche um Paul drehen. Wer will schon von Pauls Kopfschmerzen oder Augenschmerzen hören? Oder davon, was er heut durch den Türspalt mit angehört hat und lieber nicht gehört hätte?
Heut ist der Tag, den die Familie herbeigesehnt hat mit neuem Glauben, neuer Hoffnung und neuer Bangigkeit. Bereits sechsmal haben sie ein solches Ereignis hinter sich gebracht. Jedes Mal hieß es, auf das nächste Mal zu hoffen. Hermine und Gustav haben sich für den neuen Hoffnungstag gut angezogen, auch die beiden Kinder wollen mitkommen und haben ihre Sonntagssachen an.
„Wie geht’s, Paul?“, fragt ihn der Augenarzt. Paul ist so aufgeregt, dass ihm übel ist, was man ihm ansieht. Er ist sehr blass. Die blauen Adern an seiner Schläfe treten hervor. Er schluckt wiederholt. Der Arzt legt Paul auf sein Untersuchungsbett und beginnt, den Verband zu lösen. Die Mutter hält Pauls Hand, die sie mit der anderen streichelt. Sie würde gern etwas Tröstliches sagen, lehnt aber leere Worte ab. So sagt sie nur: „Du bist unserer tapferer kleiner Sohn.“
Der Verband ist entfernt. Die Lider beider Augen sind gerötet. Das rechte, jüngst operierte, ist sichtbar geschwollen.
Paul stutzt und stößt einen kleinen Schrei aus. Er blinzelt und zieht die Stirn kraus. „Mama“, sagte er dann und hält sich die Hand vor die Augen. „Paul, was ist?“, fragt sie aufgeregt. „Es ist so hell, das tut weh.“ Der Arzt legt eine dunkle Brille über Pauls Augen. „Was siehst du?“, fragt der Arzt, der sich dicht über Paul gebeugt hat und hoch angespannt ist. „Es ist hell!“, ruft Paul und zittert vor Aufregung. Der Arzt schaut das Kind an, sieht seine Erregung und legt ihm eine Hand auf die Stirn, die andere auf seine Brust. „Ganz ruhig, mein Kleiner“, sagt er besänftigend. „Erzähl mal, was du jetzt siehst.“ Die Mutter beugt sich dicht über ihren Sohn und sagt: „Paul, siehst du mich? Fass mal dahin, wo du etwas siehst.“ Paul greift mit seiner rechten Hand in ihr Gesicht und hält ihre Nase fest. „Meine Nase“, sagt die Mutter und bricht vor Glück und Freude in Tränen aus. „Ich sehe eine Nase“, sagt Paul und tastet jetzt zum Vergleich in sein eigenes Gesicht. Dann fasst er wieder in das Gesicht seiner Mutter. „Eine große Nase.“
Gustav tritt hinzu und spricht mit Paul: „Schau mal, dein Vater, erkennst du was?“
„Alles ist sehr hell, und da drin sehe ich einen großen, dunklen Kopf.“ Auch Hermine schluchzt aus tiefster Seele. Gerade hat der siebenjährige Paul den Umriss seines Vaters zum ersten Mal gesehen.
„Es ist geschafft“, sagt der Arzt und gratuliert Hermine, Gustav, Arthur und der kleinen Ilse. „Euer Bruder kann sehen“, sagt er zu den Kindern, „und wird von Tag zu Tag besser sehen können.“ Die Kinder nehmen Pauls Hand und streicheln sie. Ein Augenblick von großem Glück und Segen liegt über der Familie. „Danke, lieber Gott“, sagt Paul ganz leise. „Amen“, sagt Gustav, flüsternd vor Ergriffenheit.
Der Arzt erläutert den Eltern, die Bilder, die Paul wahrnehmen könne, seien zunächst verschwommen, das Erlebnis der ungewohnt großen Helligkeit lasse im Augenblick noch alles unschärfer erscheinen als in einigen Wochen, wenn das Auge sich an das Licht gewöhnt habe.
Der Arzt machte einen ersten Test für eine Sehhilfe, die Pauls Augenbilder erheblich schärfer gestalten würde. Die Brille würde nach und nach, dem Ausheilen folgend, individuell angepasst. Paul würde eine normale Schule besuchen können.
Im selben Jahr wurde er an der Grundschule angemeldet. Er gewöhnte sich an die Brille. Er erfuhr, dass ein Junge mit Brille, war er dazu noch klein und zart, bei seinen Mitschülern nicht besonders angesehen ist. Insbesondere beim Sport war er derjenige, der bis zuletzt dastand, wenn zwei Mannschaften von zwei starken Schülern ausgewählt wurden. Er wollte alles ändern, was er mit seinem eisernen Willen ändern konnte. Von seinen Eltern wünschte er sich Hanteln und einen Expander. Sein Vater unterstützte seinen Eifer und schenkte ihm ‚Müllers Handbuch der Athletik‘, ein Buch, in dem zahlreiche muskelbildende und kräftigende Übungen abgebildet und beschrieben waren. Paul war fest entschlossen, kräftig und sportlich zu werden. Die Brille war unabänderlich, für ihn aber ein Himmelgeschenk, trug sie doch den entscheidenden Teil dazu bei, ein normales Leben führen zu können. Die Nachteile, was seine Mitschüler anbelangte, nahm er in Kauf. An Worte wie Brillenschlange hatte er sich bald gewöhnt und konnte darüber lachen. Er wusste, dass es Schlimmeres gab, eine Welt ohne Licht und Augenbilder beispielsweise.
2. Kapitel
Adelheid ist dagegen
1903 Breslau
Helene befand sich in höchster Aufregung. Sie hatte rote Flecken am Hals, ihre Haut glänzte feucht. Haarsträhnen hatten sich aus ihrem Knoten im Nacken gelöst und hingen wirr um den Hals. Sie fuchtelte mit den Armen durch die Luft, dann griff sie an die Schläfen: „Wenn du jetzt gehst, bringe ich mich um“, platzte es verzweifelt aus ihr heraus. Elise kannte ihre Mutter gut genug, um zu wissen, es ging ihr schlecht. Helene stand mit zitternden Lippen vor der Tochter und wischte die silberblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ich kann nicht mehr“, flüsterte sie, „bin am Ende.“ Sie schüttelte den Kopf. Ihre Stimme zerbrach bei den letzten Worten. Sie nahm Elises Hand und drückte sie gegen ihre Brust. Sie schluchzte, konnte nicht verhindern, dass Tränen quollen und ihre Schultern bebten. Mit beiden Händen bedeckte sie ihr Gesicht. Sie schämte sich vor der Tochter, weil sie sich so gehen ließ.
Einerseits verstand Elise die Mutter. Andererseits spürte sie