Ein Element von Kostbarkeit und Schönheit sollte dadurch in Pauls neues Leben kommen, in dem er nach sieben Augenoperationen endlich sehen konnte. Schule und Geigenunterricht waren für Paul ein Erwachen zu einem hellen, glücklichen Leben mit unendlich viel Neuem, was es zu sehen und kennenzulernen gab.
Tante Selma hatte damals vor ihm gestanden wie ein Geistwesen aus einer anderen Welt. Wie zart sie war, wie durchsichtig ihre Haut, blaugeädert Schläfen und Handrücken, wie weich und warm ihre eher leise, etwas brüchige Stimme. Als sie Paul die Hand gab, war ihm ein sanfter Schauer in die Seele gefahren. Wie schlank und fein diese Hand war. Er nahm sie vorsichtig und drückte sie nur leicht, um ihr nicht wehzutun.
Diesen ersten Augenblick würde er nie vergessen. Dieses wirkliche und gefühlte Bild hatte sich als eines der klaren Bilder eingegraben, einem scharfen Bild zwischen all den unscharfen oder undurchsichtig gewordenen Nebel- und Rauchschwadenbildern seiner Erinnerung.
Er liebte diese Frau von diesem Augenblick an, und er würde sie ein Leben lang lieben. Sie war seine Seelenverwandte, das fühlte er hellsichtig und tief. Einmal hatte er ihr gesagt, wenn er groß wäre, würde er sie heiraten. Sie hatte ihm mit einem wehmütigen Lächeln, das eher einem großen Schmerz glich, still geantwortet: ‚Ich bin keine Frau zum Heiraten.‘ Mehr musste sie nicht sagen. Paul sah selbst, dass sie verwachsen war. Sie hatte linksseitig einen Buckel, weil die Kinderfrau sie als Baby fallengelassen hatte. Damit war ihre Zukunft besiegelt. Sie hatte ‚ja‘ zu ihrem Schicksal gesagt und sich damit eingerichtet. Sie erlernte die Grafologie und arbeitete als vereidigte Grafologin am Amtsgericht Breslau. Jungen, Mädchen und Frauen, die aufgeschlossen waren für Musik, Kunst und Literatur, gab sie Geigen- und Lautenunterricht und hatte auf diese Weise ihre besondere Schar von Kindern und Jugendlichen um sich versammelt. Für diese jungen Menschen war Tante Selma die Eintrittspforte in eine neue Welt mit vielen wunderbaren weiteren Toren, die es zu öffnen und zu durchschreiten galt. Sie lernten Bücher kennen, Autoren, Noten und Komponisten, spielten Theater, diskutierten und schlossen Freundschaften fürs Leben. Tante Selma blieb für sie die gute Fee, die auch dann noch ihr Leben aufwertete und bestrahlte, als sie längst in oder über den Wolken webte als sublimierter Geist des Guten in ihrem Leben.
Wenn Paul an Tante Selma dachte, so ahnte er, dass es im Leben etwas gäbe wie eine weise Hand, die Geschicke lenkt, und dass es gut sei, darauf zu vertrauen. Dieser Gedanke war ihm zum ersten Mal gekommen, als er nach Jahren der Dunkelheit entgegen jeder Hoffnung doch noch eines Tages das Licht dieser Erde erblicken durfte. Und er für seine Dankbarkeit und sein Glück keine Worte fand. Er konnte nur die Hände falten und sagen: „Danke, lieber Gott.“ Er hatte sich vorgenommen, ein Leben lang dafür dankbar zu sein und sich dieses Himmelsgeschenks würdig zu erweisen.
Heut würde er Tante Selma wiedersehen nach dreizehn Jahren. In der Zwischenzeit war ein böser Weltkrieg verwüstend und vernichtend über Europa gerollt; die Menschen hatten gehungert, hungerten noch und erholten sich nur langsam. Millionen Soldaten waren auf den Schlachtfeldern verblutet. Kinder hatten ihre Väter, Mütter ihre Söhne verloren. Herbes Leid war in viele Gesichter geschrieben. Deutschlands Wirtschaft und Moral lagen am Boden. Die Friedensbedingungen der Siegermächte nahmen den Deutschen die Luft zum Atmen und die wirtschaftlichen Bedingungen, sich wieder zu erholen.
Er war herangewachsen. Aus einem Knaben mit ungewaschenen Händen und unsauberen Fingernägeln war ein gepflegter junger Mann mit scharfen Bügelfalten geworden.
Was Tante Selma wohl dazu sagen würde, dass er mit 23 Jahren der jüngste Geschäftsstellenleiter der größten Krankenkasse geworden war? Glücklich war er und ein wenig stolz, so gut vorangekommen zu sein. Immer wieder erlebte er Augenblicke, in denen er glaubte, aufzuwachen und alles sei nur ein wunderbarer Traum gewesen.
Als Paul vor Selmas Wohnungstür stand, die Hand nahe der Klingel, hämmerte sein Herz zum Bersten. Ein letztes Mal holte er tief Luft, dann klingelte er.
Da stand seine Seelenfreundin vor ihm, zart und viel kleiner als das Bild seiner Erinnerung und lächelte ihm voller Liebe entgegen. Als sie sich die Hand gaben, spürte er ein leichtes Beben. Ihn tröstete, auch Tante Selma war bei seinem Besuch nicht seelenruhig geblieben. Sein inneres Beben versuchte er nicht zu verbergen. Die Freude des Wiedersehens überwältigte ihn vollkommen. Gern hätte er Selma in beide Arme genommen und fest an sich gedrückt. Aber er spürte klar, das durfte nicht sein. Sie war kein Mensch aus Fleisch und Blut. Sie war Selma, ein Wesen, das einer anderen Sphäre angehörte.
Sie bedeutete alles Feine, Unkörperliche. Sie nahm seine Hand mit ihren beiden Händen, die sich seidig und zart anfühlten. Auch Paul wagte, seine zweite Hand um ihre beiden Hände zu legen. So blieben sie einen Moment und sahen scheu auf ihre Hände. Paul vernahm seinen eigenen Herzschlag so dröhnend, dass er bangte, Selma könne dieses Hämmern hören. Was für wunderbar große Augen sie hatte, Augen, die mehr sahen, die intensiver wahrnahmen, Goethe-Augen, sann er.
Ihre Frisur trug sie noch wie damals, das aschblonde, glatte Haar in zwei schwere Zöpfe geflochten, die sie als Krone auf dem Kopf hochgesteckt hatte. Diese schweren Zöpfe hatten ihr schon früher an manchem Tag Kopfschmerzen bereitet. Aber keiner ihrer Schüler-Freunde hätte zugestimmt, sie abzuschneiden.
Während Selma Pauls Erscheinung und Ausstrahlung, seine Liebe zu ihr wahrnahm, durchbebte sie sekundenlang der Schmerz über ihren körperlichen Mangel. Ein dunkler Schleier überzog einen Augenblick lang ihr Gesicht. Schon in ihren jungen Jahren hatte sie entschieden, sich niemals zu beklagen, war ihr Leben doch auf eine andere, wundersame Weise ausgefüllt und gut. Dass sie auch ein Mensch aus Fleisch und Blut war und kein übermenschliches Wesen, hatte sie soeben verspürt. Sie schob diesen verstörenden Gedanken so schnell beiseite, wie er aufgetaucht war, und ihr Gesicht hellte sich wieder auf.
„Mein lieber Paul“, sagte Selma mit ihrer weichen, leisen, etwas brüchigen Stimme schließlich, „wie groß du geworden bist.“
„Und ich hatte dich so ehrerbietig groß in Erinnerung“, entgegnete Paul schmunzelnd. „Wie sich die Relationen wandeln, wenn aus einem Knaben ein junger Mann wird“, sann Selma und öffnete die Tür zu ihrem Wohnzimmer, das vom Nachmittags-Licht, durch das geöffnete Fenster dringend, durchflutet war. Der Tisch war mit ihrer handgestickten Tischdecke in Blau und Weiß fein gedeckt, an die er sich von früher erinnerte. Auch das Service in Blau-Weiß aus Arzberg erkannte er wieder. Paul nahm alles in sich auf wie Bilderbuchblätter aus seiner Kindheit. Auf dem Tisch stand ein Erdbeerkuchen, eine Schale mit geschlagener Sahne daneben, und ein herrlicher Kaffeeduft erfüllte den Raum. Paul fühlte sich allein durch den Duft des Kaffees erfrischt und belebt nach seiner Bahnreise. „Die Zutaten sind allesamt Geschenke von meinen Schülern“, bemerkte Selma lächelnd. „Es macht Freude, wenn weißes Mehl, Eier, Zucker und Erdbeeren nebeneinander in der Küche stehen und man nur noch anzufangen braucht mit Backen. Ich weiß, ein Luxus in diesen Tagen. Komm, wir wollen ihn genießen zur Feier unseres Wiedersehens.“ Selma nahm Paul an der Hand, führte ihn zu einem Stuhl, den sie zurechtrückte und forderte ihn herzlich auf, Platz zu nehmen. Sie schenkte den Kaffee ein, der unter einer Kaffeehaube auf der Tischmitte stand, stülpte die ebenfalls passend zur Tischdecke gearbeitete Kaffeemütze wieder über die Kanne mit dem geschwungenen Griff und setzte sich Paul gegenüber.
Nachdem die beiden Freunde gemeinsame Erinnerungen ausgetauscht hatten und sich den wunderbaren Erdbeerkuchen mit Sahne hatten munden lassen, bat Selma, Paul möge nun berichten, wie es in Görlitz beruflich mit ihm weitergegangen war.
Paul erzählte, wie er sofort nach der Ankunft der Familie in Görlitz mit einem Bank-Volontariat begonnen hatte. Sooft als möglich half er noch bei seinem Vater, wo jede Hand benötigt wurde. Im zweiten Jahr erkrankte Paul an einer Gelbsucht, die sechs Monate anhielt und ihn so schwächte, dass er kaum für einfachste Verrichtungen Kraft hatte.
Jede Woche ging er zu seiner Krankenkasse, um sein Krankengeld, drei Mark fünfzig pro Woche, abzuholen. Durch die häufigen Besuche bei der Kasse kam er mit den dort tätigen Damen ins Gespräch, auch mit der Leiterin, Fräulein Hauf. Sie klagte ihm ihr Leid, sie habe zu wenige Mitarbeiter und die Fülle ihrer Aufgaben, vor allem die Mitarbeiterführung und Gesamtverantwortung, bereite ihr häufig schlaflose Nächte. Zuweilen fühle sie sich schlicht überfordert.
Paul bot ihr seine Hilfe an,