Ruth Malten

Liebe und Tod im Grenzland


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setzte es einen Moment lang aus. Heiß und kalt, dachte sie, gleich falle ich tot um. Dann sagte sie mit kaum gebändigter, überschwänglich glucksender Stimme: „Ja, Paul, möchte ich. Ich möchte deine Frau werden.“ Ihr fiel auf, dass sie Paul gerade geduzt hatte. Er hatte gefragt: „Fräulein Menzel, möchten Sie …“ Deshalb hielt sie sich die Hand vor den Mund und sagte: „Entschuldigung.“

      „Wofür?“

      „Weil ich Sie gerade geduzt habe.“

      „Danke für das Du“, sagte Paul mit belegter, tiefer Stimme, „dabei sollte es bleiben, ja?“ „Kommst du noch auf ein Bier mit in den Braunen Hirsch ?“, fragt Paul seinen Kollegen Ewald. „Klar, wollte sowieso mit dir einiges besprechen.“

      Sie waren zu dieser Zeit die einzigen Gäste im Lokal und setzten sich in ihre bevorzugte Fensternische. „Was hältst du von dem amerikanischen Young-Plan, mit dem endgültig die Reparationszahlungen festgelegt werden sollen?“ Paul hat leise gesprochen. Das Thema ist heikel. Die Meinungen in der Bevölkerung sind geteilt. Schnell entsteht Streit, wenn zwei entgegengesetzte Ansichten aufeinanderprallen. „116 Milliarden Reichsmark, zu zahlen bis 1988. Das heißt, auch unsere Enkel zahlen noch für unseren Krieg“, entgegnet Ewald. Paul sieht, wie ihm die Zornesröte ins Gesicht gestiegen ist. „Und trotzdem vorteilhafter als die bisherige Regelung“, wendet Paul ein. „Gewaltiges Problem“, gibt Ewald zu bedenken, „die Nazis werden da nicht mitspielen. Werden Zulauf bekommen, weil viele das so sehen wie sie: Keine Reparationszahlungen, die bis in das Leben unserer Enkel hineinreichen sollen.“

      Beide heben ihren Bierkrug und nehmen lustlos einen Schluck. „Und jetzt noch der sogenannte ‚Schwarze Freitag‘ in New York. Experten befürchten, Deutschland könnte in den Sog hineingeraten mit einer schweren Wirtschaftskrise als Folge“, erwidert Paul mit gedämpfter, düsterer Stimme. „Hoffen wir, dass diese Propheten Unrecht haben.“

      Paul machte sich Sorgen um Emma, sie könne sich bei den Patienten im Sanatorium anstecken. Deshalb bat er sie, sich bei der WKK in Dresden als Sachbearbeiterin zu bewerben. Emma wurde in Dresden eingestellt. Ihre Treffen waren nun weniger zeit- und kostenaufwendig als bisher.

      Für beide ist entschieden, dass sie zusammengehören und für immer zusammenbleiben wollen. Sie heiraten im Jahr 1930 und beziehen eine Wohnung in Görlitz.

      Die beiden Neuvermählten bedauerten, dass eine ersprießliche Beziehung zu Pauls Eltern nicht zustande kam. Hermine lehnte Emma ab. Paul versuchte Emma zu erklären, warum das nach seiner Meinung so war.

      Durch Hermines fast übermenschliche Kraft, die immer wiederkehrenden Rückschläge und Enttäuschungen seiner misslungenen Augen-Operationen während seiner frühesten Kindheit zu ertragen, hatte sie immer neue Hoffnung aus sich selbst geschöpft. Die dämpfenden Aussagen der Ärzte wollte sie nicht hören oder verdrängte sie sofort wieder. Sie klammerte sich an die winzige Chance, die die Mediziner Paul einräumten. Ihre ausdauernde Hoffnungskraft führte zum Sieg. Im siebenten Jahr wurde es hell in Pauls vorher dunkler Welt und Paul gewann die Chance auf ein normales Leben.

      „Hermine betrachtet mich seitdem als ihr Werk und ihr Eigentum“, endete Paul. „Du, meine Emma, bist für sie der Eindringling, der ihr vermeintlich die Liebe des Sohnes nimmt. Meine Liebe soll auch weiterhin nur ihr gehören. Zudem vergleicht dich Hermine mit meiner Schwester Ilse. Jeder Mensch ist anders. Hermine hat da so ihre eigenen Maßstäbe“, fügte er schmunzelnd hinzu.

      Emma hatte Paul zur Verlobung Strümpfe gestrickt. Sie konnte nicht gut stricken, hatte durch ihr Klavierspiel auch wenig Zeit. Dennoch strickte sie diese Socken, um ihm ihre besondere Zuneigung zu zeigen: in jeder Masche ein guter Gedanke. Paul hatte sich über alle Maßen gefreut, mehr als über die Garnitur Bettwäsche von Hermine und Gustav.

      Das war unbewusst geschehen, aber Hermine hatte das sehr wohl registriert. Sie nahm die Strümpfe, betrachtete sie kritisch und sagte später zu Paul: „Wenn deine Emma alles andere auch nicht besser kann als stricken, dann gute Nacht.“ Ihre Ilse war eine perfekte Strickerin, was Emma neidlos anerkannte. Sie konnte anderes. Das wiederum ließ Hermine nicht gelten. Es interessierte sie nicht, dass Emma Klavier, Zither, Laute spielte und wunderbar sang. Dass sie ihre Sachen selbst nähte und gute Bücher las. Spinnereien waren das für Hermine. Emma war als Schwiegertochter durchgefallen.

      In den folgenden fünf Jahren erblickten drei kleine Mädchen das Licht der Welt: Marie, die kernige Ernsthafte mit der tiefen Stimme, kastanienbraunem Haar und ebensolchen Augen, Renate, die blasse, oft kränkelnde Mittelblonde mit Honigaugen wie Emma, und Ute, die strohblonde, blauäugige Jüngste, Pauls kleiner Liebling.

      Emma hatte auf Pauls Wunsch ihre Arbeit bei der WKK aufgegeben, als sie schwanger wurde. Es war Pauls Stolz, seine Frau und die kommenden Kinder allein ernähren zu können.

      Emma hatte versucht, ihre Sache als sparsame Hausfrau, Köchin, fantasievolle Mutter und liebevolle Ehefrau gut zu machen. Nach besten Kräften setzte sie sich ein. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass ihr eines Tages die Kräfte ausgehen könnten.

      Als Paul eines Abends von der Arbeit nach Hause kam, saß Emma auf der oberen Stufe der steilen Holztreppe in ihrem zweiten Stockwerk, hatte die Hände vor dem Gesicht. Die Haare der aufgelösten Knoten-Frisur hingen zu beiden Seiten über die Hände. ‚Lass dich nicht so gehen‘, wollte Paul gerade empört sagen, da kam ihm Emma zuvor.

      „Ich kann nicht mehr … bin völlig am Ende“, brach es aus ihr hervor. Sie weinte hemmungslos. Das Weinen erschütterte ihren ganzen Körper. Tränen liefen über ihr Gesicht und tropften auf ihre Bluse. Paul hatte geglaubt, mit Zusammenreißen, gutem Willen und eiserner Disziplin ließe sich jede Aufgabe meistern. Er lernte innerhalb der nächsten Stunden, dass dieses Rezept nur bedingt anwendbar war. Wenn die Kräfte aufgebraucht waren, die Nerven ihren Dienst versagten und der gute Wille demgegenüber schrumpfte und sich in Luft auflöste.

      Emma hatte einen Tag hinter sich wie so manchen. Paul arbeitete hart, seine zusätzliche Geschäftsstelle Reichenbach ohne zusätzliches Personal beanspruchte ihn bis zu seinen eigenen Grenzen. Überstunden waren für ihn selbstverständlich geworden. An den Sonntagen zu Hause zu arbeiten, war für ihn ein Dank an das Schicksal, das es mit ihm trotz aller Startschwierigkeiten dennoch gut gemeint hatte. Auch den Urlaub ausfallen zu lassen, fiel ihm nicht schwer. Sie hätten ohnehin nicht in Urlaub fahren können. Dafür fehlte das Geld bei drei kleinen Kindern und nur einem Gehalt. Emma wollte ihrem arbeitsamen Mann ihre Sorgen nicht auch noch aufbürden.

      „Marie hat dreimal das Bett vollgebrochen. Dreimal habe ich abgezogen. Die Wäsche trocknet schlecht bei dem feuchten Wetter in dem Keller da unten. Renate hatte wieder Ohrenschmerzen und jammerte fast den ganzen Tag. Die Ohrentropfen halfen nicht mehr“, Emma sprach schnell, die Tränen liefen weiter. Sie war kaum zu verstehen. Ihre Stimme war voller Verzweiflung, als sie fortfuhr: „Nur Ute war fröhlich und lächelte. Wenn ich die Kleine nicht hätte …“ Emma schüttelte den Kopf. Ihre aufgelösten Haare klebten an ihren feuchten Wangen. „Ich wollte zum Arzt mit den Kindern, stand vor der steilen Treppe. Plötzlich dachte ich: Ich werde da runterstürzen … mit dem Baby auf dem Arm. Hab nicht gewagt, da runterzugehen. Ich glaube, ich werde verrückt.“ Paul stand fassungslos vor Emma, hob sie unter dem Arm hoch und ging mit ihr in die Wohnung. Es roch nach Windeln und Erbrochenem. Die Windeln kochte Emma in dem Wäschetopf in der Küche. Der Geruch war unvermeidlich.

      Paul erfuhr, Emma habe seit langem den Eindruck, dass ihre Kräfte immer weniger würden. Die zwei Treppen mit drei kleinen Kindern. Renate, die nicht nur einmal die Treppe runtergefallen war und sich ein Loch in der Stirn geholt hatte. Der Kinderwagen, der unten nicht stehenbleiben konnte. Der Hausflur war zu eng. Er musste täglich bei dem Spaziergang rauf- und runtergetragen werden. Emma sagte: „Wenn ich mal eine Nacht ruhig schlafen könnte! Wenn mal einen Taglang kein vollgebrochenes Bett wäre! Wenn mal einen Tag Renate keine Ohrenschmerzen hätte! Ich geh kaputt. Ich weiß nicht weiter. Paul, tut mir leid.“

      Erschöpft! Höchste Alarmstufe, durchfuhr es Paul. Schnell musste etwas geschehen. Am nächsten Abend traf er sich mit Ewald nach Feierabend wieder in ihrer Fensternische im ‚Braunen Hirsch‘ auf ein Bier. „Kur“, sagte Ewald, nachdem er sich Pauls Leidensgeschichte angehört hatte.