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am Bahnhof Zoo! / Amis, Stella und Orient, / das sind die Marken, die ein jeder Schieber kennt.»

      «Warum keiner hier steht?» Hertha Börnicke sah sich um. «Es wird gerade eine Razzia gegeben haben. Komm, wir fahren mit der Stadtbahn bis Lehrter Bahnhof, und dann sehen wir weiter.»

      «Wenn ich das Wort Razzia höre, zucke ich immer zusammen», sagte Kappe.

      Hertha Börnicke lachte. «Kein Wunder, das Wort kommt aus dem Arabischen – ghazwa heißt so viel wie Kriegszug, Raubzug, Angriffsschlacht.»

      «Mann, bist du gebildet!», lästerte Kappe.

      «Zumindest gebildeter als Klara», gab seine Cousine mit spitzer Zunge zurück.

      Vom Lehrter Bahnhof war es nicht weit zu laufen. Am Brandenburger Tor schien sich tout Berlin versammelt zu haben.

      «Hier ist es so schwarz von Menschen, dass ich endlich weiß, warum es schwarzer Markt heißt», sagte Kappe.

      Hertha Börnicke hörte gar nicht richtig hin, denn ihr war etwas aufgefallen, das sie sofort auf ihrem Notizblock festhalten musste. «Guck mal, die amerikanischen Soldaten wickeln ihre Geschäfte vom Auto aus ab.»

      «Besser als vom Panzer aus», sagte Kappe.

      Von amerikanischen, englischen und russischen Soldaten wurde alles gekauft, was es an Uhren, Kleidungsstücken, Ringen, Juwelen, Stiefeln, Ferngläsern, Fotoapparaten, Rasiermessern, Pelzmänteln und seidener Damenwäsche in den Berliner Haushalten noch gab. Ausgehungerte Menschen brachten ihr letztes Schmuckstück und tauschten dafür Essbares ein, Brot, Butter, Wurst, Speck und Zucker. Die Nikotinsüchtigen waren auf Zigaretten aus.

      «Eine Stange mit zweihundert Zigaretten kostet den GI weniger als einen Dollar», wusste Hertha Börnicke zu berichten. «Und hier auf dem schwarzen Markt kriegt er für eine einzelne Zigarette unter Umständen fünf Reichsmark. So kann er aus einem Dollar tausend Reichsmark machen. Jeder Zigarettenschieber verdient sich eine goldene Nase.»

      Kappe lachte. «Es lebe die Zigarettenwährung!»

      Sie fädelten sich ein in den träge dahinfließenden Menschenstrom. Es war wie bei einer großen Prozession. Alle gaben sich furchtbar gleichgültig und taten so, als ob sie Selbstgespräche führten. Kappe brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, dass die Leute kundtaten, was sie zu verkaufen oder zu tauschen hatten: «Brotmarken» – «Stopfnadeln» – «Eipulver» – «Schinken» – «Bohnenkaffee» – «Broschen, Ringe, Armbanduhren».

      Hertha Börnicke fiel dabei ein, dass sie ja – es sollte eine Art Selbstversuch werden – einen Ring ihres verstorbenen Vaters mitgebracht hatte. Sie holte ihn aus ihrer Handtasche und steckte ihn auf den Daumen ihrer rechten Hand, denn für den Ringfinger war er viel zu groß. Dann ging sie mit etwas abgespreizter Hand weiter und sprach dabei leise, aber durchaus hörbar vor sich hin: «Weißgold mit Blautopas … Weißgold mit Blautopas …»

      Kappe erinnerte sich an den eigentlichen Grund seines Hierseins: Er wollte sich nach dem ermordeten Schieber Peter Rembowski erkundigen. Aber wen sollte er fragen? Obwohl er fast vierzig Dienstjahre bei der Kripo auf dem Buckel hatte, kam er sich plump und unbeholfen vor. In der Welt des Schwarzmarkts war er nicht zu Hause.

      In dieser Sekunde erblickte er seinen Sohn. Karl-Heinz stand neben einem untersetzten jungen Mann, der einem GI einen vergoldeten Sportpokal hinhielt, und spielte den Dolmetscher vom Deutschen in eine Sprache, die er für Englisch hielt. «From ze German football … Zis was for ze winner of ze Berlin Cupfinal … Some years before ze war. To ze Nazizeit, do you know?»

      Der Handel kam nicht zustande, und als Karl-Heinz dem Jeep des Besatzungssoldaten hinterherblickte, erkannte er seinen Vater und seine Tante. Sehr begeistert schien er nicht zu sein. «Willste mich verhaften, und der RIAS ist dabei?»

      Auch Kappe hätte diese Begegnung lieber vermieden, aber nun ließ es sich nicht ändern. «Du, ich bin immer noch bei der Mordkommission … Und du hast hoffentlich niemanden auf dem Gewissen.»

      «Doch. Und das ist mein erstes Opfer.» Er zeigte auf seinen Begleiter. «Helmut Trompale. Mein Sparringspartner beim Boxen.»

      «Freut mich», sagte Kappe, drückte dem jungen Mann die Hand und stellte sich und seine Begleiterin vor.

      Hertha Börnicke sah Karl-Heinz mit großen Augen an. «Was, du bist jetzt beim Boxen?»

      «Ja, bei Karl Schwarz in seiner Boxschule.»

      «Das hat er von mir gelernt», sagte Kappe. «Ich hab doch in den letzten Jahren nichts weiter getan, als mich so durchzuboxen durchs Leben.» Die Frage, die ihm noch auf der Zunge lag, stellte er lieber nicht: wie andere Menschen reagierten, wenn Karl-Heinz in den Ring stieg und zu sehen war, dass unter seiner linken Achsel seine Blutgruppe eintätowiert war – was ihn als ehemaligen SS-Mann entlarvte. Aber vielleicht boxte er in einem langärmligen Hemd …

      «Wann ist denn dein erster Kampf?», wollte Hertha Börnicke von Karl-Heinz Kappe wissen.

      «Nächstes Jahr vielleicht.»

      «Na, da komme ich hin!»

      Kappe war schon immer ein Freund des Boxsports gewesen, aber einen Kampf seines Sohnes hätte er sich gern erspart. Klara und er hatten früher davon geträumt, dass ihr Jüngster etwas Akademisches würde, Diplom-Ingenieur, Arzt oder Staatsanwalt.

      «Was macht ihr’n hier?», fragte sein Sohn.

      Kappe kam direkt zur Sache. «Ich suche nach jemandem, der einen gewissen Peter Rembowski gekannt hat.»

      Sein Sohn grinste. «Ah, Auftrag von meiner Atze!»

      «Von wem?»

      «Von meinem Bruder, von Hartmut. Der darf nicht mehr im Westsektor ermitteln, und da hat er dich gebeten … Nee, du, keene Ahnung, wer den Langen auf’m Gewissen haben könnte.»

      «Du hast ihn also gekannt?»

      Sein Sohn nickte. «Ja, der hat mit Tabak gehandelt, und ich hab ihm mal geholfen dabei. Nicht hier, sondern hinten am Schlesischen Tor.»

      «Und – weißt du was über Rembowski, das Hartmut weiterhelfen könnte?»

      «Nee …» Sein Sohn hatte jetzt den Ring an der Hand seiner Tante entdeckt. «Mensch, wenn du den verscheuern willst, dann helf ich dir dabei. Zehn Prozent!»

      EIN FREIES FELD. Schneebedeckt. Je schneller er laufen wollte, desto tiefer sank er ein. Ringsum gab es kleine Anhöhen. Russische Soldaten standen dort und feuerten auf ihn. Wie auf einen Hasen. Und wie ein Hase suchte er sich dadurch zu retten, dass er wilde Haken schlug. Die Russen lachten nur höhnisch und machten sich einen Spaß daraus, so zu zielen, dass die Kugeln ganz dicht an seinem Kopf vorbeipfiffen, ohne ihn aber zu treffen. Noch nicht. «Du Mörder!», schrien sie. «Mörder, Mörder!» Da durchschlug eine Kugel seine Luftröhre. Er röchelte, er war am Ersticken.

      Helmut Trompale fuhr schreiend auf und tastete nach der Nachttischlampe. «Scheiße!» Immer wieder derselbe Alptraum. Es ärgerte ihn, dass er ihn nicht besiegen konnte, nicht auslöschen ein für alle Mal. Er war schließlich Boxer und hart im Nehmen. Und in Wirklichkeit hatte die feindliche Kugel ihn nur seitlich am Hals getroffen, ohne Schlagader und Luftröhre zu zerfetzen. Am Dnjepr war es gewesen, am 4. Dezember 1943. Er war danach zum

      XXII. Festungs-Infanterie-Bataillon 999 gekommen und hatte das Kriegsende als Obergefreiter in der Schreibstube erlebt. Niemand war bisher gekommen, um ihn dafür anzuklagen, dass er mit seinem Kommando Hunderte von Partisanen erschossen hatte. Die Kameraden, mit denen er sprach, meinten auch, dass ihnen nichts passieren werde, es habe sich schließlich um einen Befehlsnotstand gehandelt.

      Er wohnte in der Mariannenstraße, ein paar hundert Meter von der Kottbusser Brücke entfernt, also im Bezirk Kreuzberg, der wie Neukölln, Schöneberg, Tempelhof, Steglitz und Zehlendorf zum amerikanischen Sektor gehörte. Er selbst aber sprach nie von Kreuzberg, sondern immer nur von SO 36, dem Kiez zwischen dem zugeschütteten Luisenstädtischen