Horst Bosetzky

Auf leisen Sohlen


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OTTO KAPPE kam es manchmal so vor, als wäre er ein Feuerwehrmann. Dieser Beruf hatte mit dem seinen nicht nur die Angst um andere Menschen, das Riskieren des eigenen Lebens, sondern auch das Warten auf den nächsten Einsatz gemeinsam. Und was machte man in dieser Zeit, in der man auf einen Einsatz wartete? Die Feuerwehrleute übten den Einsatz mit Löschfahrzeugen, den richtigen Umgang mit Motorsägen und Schneidewerkzeugen. Aber was taten Kriminalbeamte? Die besuchten Fortbildungsveranstaltungen, gingen auf den Schießstand und arbeiteten ungelöste Fälle auf. Manchmal aber langweilte sich Otto Kappe auch. Dann spazierte er durch die anderen Abteilungen in der Gothaer Straße, um Kollegen zu treffen und ein wenig mit ihnen zu plaudern. Mitte September lief ihm auch der Kollege Friedhelm Dörner vom Dezernat 22 des LKA 2, sonstige Vermögens- und Fälschungsdelikte über den Weg. Man kannte sich vom Faustball her. Dörner war in Begleitung eines Mannes etwa seines Alters, der Kappe irgendwie bekannt vorkam. Wahrscheinlich hatte er dessen Foto schon einmal in der Zeitung gesehen.

      «Otto, darf ich dir Werner Brink vorstellen?»

      «Ah!», rief Kappe, um sofort hinzuzufügen: «Es geschah in Berlin.» Das war der Name der legendären Krimireihe, die der RIAS seit dem Februar 1951 ausstrahlte und für die Werner Brink jede Folge schrieb, Monat für Monat. «Ich habe gerade die Sendung gehört, in der ein Gauner durch Berliner Gaststätten zieht, naiven Zeitgenossen angeblich todsichere Tipps für Pferderennen auf der Trabrennbahn Mariendorf andreht, die einzig und allein seiner Fantasie entspringen, und ihnen auch gleich das Geld für die Wette abnimmt. Sehr schön! Auch, dass unser fiktiver Kollege Kommissar Zett dem Kerl auf die Schliche kommt.»

      Werner Brink bedankte sich für das Lob. «Das sind ja alles reale Fälle, es heißt ja im Abspann auch: ‹In Zusammenarbeit mit der Berliner Kriminalpolizei.›»

      «Teilweise sind die Fälle so aktuell», fügte Dörner hinzu, «dass die Hörer durch den Ansager dazu aufgefordert werden, der Polizei nach Möglichkeit bei der Aufklärung von noch unklaren Sachverhalten zu helfen.»

      «Und jede Folge ist ein Straßenfeger. Nur …», Kappe seufzte hörbar, «… kommt unsere Mordkommission leider nie zu Ehren.»

      «Tut mir leid, dass in unseren Geschichten niemals eine Leiche vorkommt», sagte Werner Brink. «Aber mir geht es um die alltägliche Kriminalität und das Berliner Milieu. Wie agieren die kleinen Ganoven, was treibt sie an? Wenn Sie das große Krimi-Ballyhoo wollen, dann müssen Sie sich 77 Sunset Strip, Auf der Flucht mit Richard Kimble oder Mit Schirm, Charme und Melone ansehen.»

      Der Kollege Dörner und Werner Brink zogen weiter, und Kappe fragte sich, wie er die Zeit bis zum Feierabend totschlagen sollte. Er blieb am Fenster stehen und sah auf die Straße hinunter, bevor er an seinen Arbeitsplatz zurückkehrte.

      Bald darauf traf Hans-Gert Galgenberg ein. Er kam etwas zu spät, denn er war gerade umgezogen und wohnte nun weit draußen in Steinstücken. Dort gab es günstig kleine Häuser zu kaufen, denn Steinstücken war eine West-Berliner Exklave in der DDR. Seit dem 13. August 1961 durften die Einwohner nicht mehr in die sie umgebenden Ortsteile Neubabelsberg, Babelsberg und Potsdam. West-Berlin war nun nur noch über einen Waldweg nach Kohlhasenbrück zu erreichen, wobei man aber zwei Grenzübergänge passieren musste. Nachdem es eine Reihe von Fluchtversuchen aus der DDR gegeben hatte, war Steinstücken noch stärker mit Mauer und Stacheldraht abgesichert worden als das übrige West-Berlin. Wer wollte hier schon wohnen?

      Galgenberg pflegte nun zu sagen: «Im Jahre 2061 werden wir die Wiedervereinigung Deutschlands feiern, und meine Ururenkel werden mir ein Denkmal dafür setzen, dass ich ihnen ein so schönes Stück Land vererbt habe.»

      «Und bis dahin halten dich die Grenzkontrollen so lange auf, dass du nicht pünktlich am Arbeitsplatz erscheinen kannst», scherzte Kappe.

      Galgenberg schüttelte den Kopf. «Nein, ich habe noch eine Weile an der Bahnstrecke nach Potsdam gestanden und auf einen Postzug gewartet. Anders können doch arme Beamte wie wir nicht zu ein bisschen Geld kommen.» Er spielte damit auf den spektakulären Überfall auf einen Postzug an der Strecke Glasgow—London an, der sich vor gut einem Monat, am 8. August 1961 ereignet hatte. «Ein paar Millionen D-Mark könnte ich auch ganz gut gebrauchen.»

      Kappe lachte. «Wenn du mir ein bisschen davon abgibst, verpfeife ich dich auch nicht.»

      Ihre Witzeleien wurden unterbrochen, denn die Kollegen Gerhard Piossek und Günter Kynast betraten das Büro. Jürgen Rückert war momentan krank und deshalb nicht im Dienst. Galgenberg winkte ihnen nur kurz zu und verschwand dann in Richtung Kantine.

      Otto Kappe wandte sich den beiden Kollegen zu. «Was verschafft mir die Ehre?»

      «Bist du nicht gerade alte Fälle durchgegangen?», fragte Piossek. «Ist dir ein Fall mit einen Einbrecher in Erinnerung geblieben, der Menschen niedersticht, die ihn auf frischer Tat ertappen?»

      «Es geht um den Wittenbeck, den Pharmafabrikanten, der einen Einbrecher überrascht hat und von dem mit einem Messer attackiert wurde», ergänzte Kynast. «Wir sollen uns um den Fall kümmern.»

      Kappe dachte nach. «Nein, mir ist kein ähnlicher Fall untergekommen, der noch ungeklärt ist. Allerdings scheint es mir für einen Einbrecher eher untypisch, dass er jemanden niedersticht. Normalerweise suchen die doch das Weite, wenn sie bei einem Einbruch überrascht werden. Schließlich wissen solche Kerle, dass sie für einen Einbruchdiebstahl maximal ein Jahr bekommen, für Totschlag aber leicht zehn Jahre.»

      «Vermutlich ist er in Panik geraten und hat deshalb zugestochen», merkte Piossek an.

      «Und wenn nun jemand, aus welchem Grund auch immer, diesen Wittenbeck ins Jenseits schicken wollte und dabei einen Einbruch nur vorgetäuscht hat?», fragte Kynast.

      «Gibt es denn irgendwelche Spuren?», erkundigte sich Kappe.

      Piossek zuckte mit den Schultern. «Keine verwertbaren Fingerabdrücke. Und auch keine aufgehebelten Fenster oder Türen. Der Kerl scheint Schlüssel gehabt zu haben.»

      «Was für meine These sprechen könnte!», rief Kynast.

      «Hm …» Otto Kappe überlegte einen Moment. «Gut, forschen wir weiter nach.»

      Gisela Wittenbeck war gelernte Medizinisch-technische Radiologieassistentin, hatte aber nach der Heirat ihren Beruf aufgegeben, weil ihr Mann Angst gehabt hatte, die Nähe zu derart gefährlichen Strahlen könnte sie auf Dauer schädigen.

      Für den heutigen Tag hatte sie sich eigentlich vorgenommen, sich in den Krankenhäusern und radiologischen Praxen in der Nähe ihrer Pension umzuhören, ob es dort eine freie Stelle gab. Doch von Minute zu Minute wurde sie unsicherer, ob das eine gute Idee war. Denn sie konnte sich schon vorstellen, mit was für einer Antwort sie rechnen musste: «Liebe Frau Wittenbeck, Sie waren fünfzehn Jahre lang nicht mehr in Ihrem Beruf tätig, und in dieser Zeit haben sich die Röntgendiagnostik, die Strahlentherapie und die Nuklearmedizin stark weiterentwickelt. Wir haben deshalb leider keine Verwendung für Sie.»

      Gisela Wittenbeck konnte nichts aufmuntern, und sie lag am 18. September den ganzen Vormittag über nur auf dem Bett und starrte gegen die Decke. Im Radio berichteten sie unaufhörlich von der Hochzeit des Jahres. Der griechische König Konstantin II. und Prinzessin Anne-Marie von Dänemark heirateten in Athen. Sich das vorzustellen war Gift für ihre Seele, da sie selbst doch so unglücklich war.

      Plötzlich klopfte jemand an ihre Tür. Sie rang sich zu einem mehr gehauchten als hörbar gesprochenen «Ja bitte!» durch.

      Es war Gerda Groß, die Pensionsbesitzerin, die mit ihr das «Resi» besucht hatte. «Frau Wittenbeck, ist etwas mit Ihnen nicht in Ordnung?»

      «Was soll mit mir schon sein? Kommen Sie doch herein!» Sie schaffte es, sich wenigstens auf die Bettkante zu setzen.

      Gerda Groß trat ein. «Sie sehen ziemlich blass aus, gehen Sie doch mal ein bisschen an die frische Luft. In ein paar Minuten sind Sie im Preußenpark. Waren Sie denn eigentlich schon bei der Polizei, um diesen Uwe Dreetz anzuzeigen? Der ist doch garantiert ein Hochstapler, ein Gigolo.»

      Gisela Wittenbeck winkte ab. «Ach, und wenn schon! Das kann