Mark in der 2.Klasse im Schnellzug von Zwickau nach Leipzig fahren konnte.
Zwei Schalter weiter hatte sich ein junges Mädchen auf einem Sims hingesetzt und die schmutzigen Turnschuhe auf die Marmorplatte hochgelegt, wobei sie flink die Tasten ihres Handys drückte. Es waren nicht viele Leute in der großen Halle. Der Bahnhof war in den dreißiger Jahren für mehr Fahrgäste erbaut worden. Wer hätte damals gedacht, dass jetzt die meisten Pendler mit ihren eigenen Autos zur Arbeit fahren? Mein Blick fiel wieder auf die Anzeigetafel: VGB nach Sokolov, 10 Uhr 11. Die Vogtlandbahn war pünktlich. Ich schlenderte zum Zeitungsladen, der jetzt „Press P & B Books“ heißt. Ein kleines Mädchen zerrte eine Frau mittleren Alters zu der Pixi – Jungenfigur hin, die vor der Eingangstür auf einer Schale die bunten kleinen Bücher anbietet. Natürlich hatte das Kind bei seiner Oma Erfolg. Mit zwei Büchlein in der Hand ging es strahlend zur Kasse. Die Oma bezahlte. Beim Hinausgehen fiel mein Blick auf eine Metalltafel im Inneren des Geschäftes neben der Wand.
Erbauer
Reichsbahnoberrat Otto Falck
geb. 1871 in Zwickau
Ich bezweifelte, dass das ein angemessener Platz für eine Erinnerungstafel ist. Die Tafel steht in keinerlei Zusammenhang mit den darunter liegenden Tageszeitungen und Magazinen. In der anderen Ecke gegenüber dem Zeitungsladen leuchtet in Intervallen ein roter Punkt, der Punkt über dem „i“ des Wortes Point, auf. Darunter steht über der Eingangstür „Supermarkt“. Hier kann man noch eine Bockwurst für 1,20 Euro kaufen. Die zwei Tische mit Stühlen und den Stehtisch nutzen nicht nur Reisende, um bei einem Imbiss die Zeit zu verkürzen, sondern auch diejenigen, welche in gleichgesinnter Gesellschaft in einem trockenen warmen Raum ein billiges Bier trinken wollen.
Daneben steht der Fahrkartenautomat, an dem eine Frau vergebens Tasten drückte, um zu einer Fahrkarte zu kommen. „Wenn ich die Karte im Reisezentrum kaufe, kostet sie 2 Euro mehr. Es ist so schon teuer genug“, sprach sie mich hilfesuchend an. Es wurde knapp für mich, denn der Zeiger hatte die Zehn überschritten. In diesem Augenblick kam ein sportlich gekleidetes Mädchen mit Rucksack angerannt. Sie schaffte es in Windeseile, dem Automaten für sich und die alte Frau die gewünschten Karten zu entnehmen. Dann eilte sie die Treppen hinunter und verschwand in der unteren Ebene des Bahnhofes.
Ich folgte etwas langsamer und bemerkte, dass sich hinter mir eine Gruppe Leute in Wanderkleidung bewegte. Sicher wollten sie auch mit der Vogtlandbahn fahren. Seit 1994 fährt diese Bahn in die südliche Region von Zwickau und inzwischen sogar bis nach Oberfranken und in das benachbarte Tschechien. So unkompliziert ins Nachbarland reisen zu können, war vor Jahren nicht möglich. Dafür konnte man mit dem „Sachsenringexpress“ direkt nach Ostberlin fahren. Jetzt sind Leipzig und Halle den Zwickauern wieder näher gerückt, denn im Stundentakt bringt die S-Bahn die Zwickauer in die Messestadt und zum Flughafen.
Bei allen Veränderungen ist die Bahnhofsatmosphäre durch die auf Autobahnen nicht zu ersetzen. Es rührt mich jedes Mal an, wenn nach Ankommen eines Zuges Menschen die Treppen hinaufströmen und dann Verwandte oder Freunde erwartungsvoll Ausschau halten, vielleicht ein älteres Ehepaar die Tochter mit Enkelkindern begrüßt, ein junger Mann seine Freundin küsst oder eine alte Frau von ihrer Schwester umarmt wird. Diese Szenen kann man nur auf einem Bahnhof erleben.
Für mich ist Bahnreisen selbstverständlich und interessant, obwohl ich da manchmal auf verwunderte Blicke stoße, wenn ich das begeisterten Autofahrern erzähle. Ob ich zum Verwandtenbesuch nach Dresden, ins Theater nach Chemnitz, nach Thüringen oder mit der Erzgebirgsbahn zum Wandern fahre, jedes Mal freue ich mich auf die Rückkehr zum „Tor“ zu meiner Stadt!
Eveline Hoffmann
Vertraute Klänge
Auch an der Ecke
zwischen Rosengässchen und Hauptstraße
hört man Straßenmusikanten
Akkordeon spielen.
Paris ist gar nicht so weit.
Annerose Kolbe
An der Katharinenkirche
Für mich ist die Katharinenkirche die schönste Kirche in Zwickau. Sie wurde Anfang des 13. Jahrhunderts errichtet und soll sogar noch älter als der ehrwürdige Mariendom sein.
Wenn ich aus Richtung der Paradiesbrücke komme, vor dem historischen Dünnebierhaus stehe und die schnurgerade Katharinenstraße entlang zur Kirche blicke, scheint allerdings hier gar nichts zusammenzupassen. Will ich die Kirche betrachten, wirkt der Supermarkt selbst aus der Ferne übergroß, da stören sogar die unschuldigen Wohnungsneubauten rechts. Aber ich werde magisch angezogen von dem Kontrast, den die neueren, hellen Gebäude mit der dunkel wirkenden Kirche bilden. Wenn ich näher komme, beherrscht sie immer mehr das Bild. Und plötzlich passt alles. Ich habe die Alte Posthalterei zur Linken und das Schloss Osterstein im Hintergrund.
Nun kann ich endlich herantreten und die alten Mauersteine berühren. Es ist schön zu wissen, dass die Kirche schon so alt und immer noch vorhanden ist. Wie sie wohl ursprünglich ausgesehen haben mag? Die Mulde ist nur 250 Meter entfernt, es gab wiederholt Überschwemmungsschäden und auch von Stadtbränden blieb die Kirche nicht verschont. So wurde repariert, umgebaut und modernisiert, dem jeweiligen Zeitgeschmack entsprechend. Einstmals als romanische Kirche gebaut, gilt sie heute als spätgotisch. Auf jeden Fall gehört sie zu den ältesten Gebäuden Zwickaus und ist Zeuge der wechselvollen Geschichte der Stadt.
Ich schließe die Augen und versuche, mich ein wenig in vergangene Zeiten zurückzuversetzen. Gar nicht so einfach. Um mich herum brummt der nachmittägliche Verkehr. Gespräche sind keine zu hören, die Leute sitzen in ihren Autos und brausen vorbei. Eine laute Hupe dröhnt. Ich nehme erschrocken die Hand von den Steinen und öffne die Augen. Nein, ich bin nicht gemeint.
Ich gehe ein paar Schritte weiter nach hinten, bemüht, mir die Geräusche von damals vorzustellen. Das kennt man ja aus alten Filmen: Pferdegetrappel, das Holpern von Wagen, lautes Rufen. Aber vielleicht war es auch ganz ruhig hier. Es existieren alte Stiche, da sind nahe bei der Katharinenkirche Häuser und Gärten zu sehen und die Gegend hatte sehr ländlichen Charakter. Da hatte Zwickau noch nicht so viele Einwohner. 1530 waren es beispielsweise 7700 Menschen, die hier lebten. Da kann es wohl sein, dass die meisten sich untereinander recht gut kannten. Und so werden sich Neuigkeiten ganz schnell herumgesprochen haben, ausgetauscht vielleicht beim sonntäglichen Kirchgang.
Inzwischen bin ich beim Thomas-Müntzer-Denkmal angekommen. Die Figur hier wurde 1989 anlässlich seines 500. Geburtstages aufgestellt und hat mir schon immer gefallen. Überhaupt mochte ich früher Thomas Müntzer viel lieber als Martin Luther. Aber das kann am Geschichtsunterricht in der DDR gelegen haben. Jedenfalls sind sie beide zur damaligen Zeit in Zwickau gewesen. Ob sich die beiden über die weitreichenden Folgen ihres Tuns klar gewesen sind? Sicher nicht. Denn wer ist das schon?
Thomas Müntzer kam 1520 für ein halbes Jahr in die Marien- und danach in die Katharinenkirche. Es war ein kurzes, aber heftiges Gastspiel und wenn ich diese Skulptur hier so ansehe, ein sanfter Prediger war er bestimmt nicht. Er geriet mit den Stadtherren in Konflikte, da er Umgang mit den sogenannten Zwickauer Propheten und ihren urchristlichen Überzeugungen hatte. Er predigte vor den einfachen Leuten und es wird bestimmt sehr aufregend und so gar nicht andächtig gewesen sein. 1521 mußte Müntzer die Stadt wieder verlassen. Er hat gewiss nicht von vornherein gewaltsame Auseinandersetzungen, wie sie vom Bauernkrieg bis zu den Refomationskriegen auftraten, gewollt.
Beim Stichwort „Krieg“ muss ich plötzlich an Tschingis Aitmatow denken. War es 1992 oder 1993? Er war hier in der Kirche zu einer Buchlesung. Der Andrang war groß, die Kirche voller Menschen. In der DDR hatten viele Leser immer schon auf jeden neuen Roman von ihm gewartet, wohl auch in der Hoffnung, Antworten auf die Fragen der Zeit zu erhalten. Ich kaufte damals