Heimat seiner Frau. Das Gehroldsche Haus in Würzburg war völlig abgebrannt; die Familie hatte sich rechtzeitig in einen bombensicheren Luftschutzkeller retten können.
Wenig später wurde uns über unseren Bürgermeister noch eine ganze Familie zugeteilt, ebenfalls ausgebombte Würzburger: Die Eltern und drei erwachsene Töchter. Sie erhielten zwei Zimmer im ersten Stock. Die Stapfs, so hießen sie, waren nette Leute. Der alte Herr war gelernter Schlosser; Leni, die älteste Tochter, war zwar verheiratet, aber ihr Mann befand sich in russischer Gefangenschaft. Daher schloss sie sich ihrer Familie an.
Insgesamt hatten wir unter unserem Dach neben den beiden Buben aus Würzburg, die mit uns Kindern lebten, noch Frau Folz mit ihrem Sohn Heinz aus Pirmasens und eben jetzt noch die fünfköpfige Familie Stapf. Dennoch ging alles schier lautlos über die Bühne. Man half einander, soweit möglich, und nahm Rücksicht aufeinander. Franz und Willi packten auf dem Hof und in der Landwirtschaft mit an, wie wir alle. Meister Stapf reparierte hier und dort etwas, auch in unserem eigenen Haushalt und auf dem Hof. Seine jüngste Tochter schenkte mir später eine alte Schreibmaschine (so schwer, dass ich, der gerade 12-jährige, sie kaum aufheben konnte) und brachte mir auch das Schreiben mit zehn Fingern bei.
So war es im ganzen Dorf: Niemand rief Halleluja, als die Evakuierten und Ausgebombten eintrafen und auf die Häuser verteilt wurden, aber man gewöhnte sich rasch aneinander. Und als später zahlreiche Flüchtlinge aus Schlesien und dem Sudetengau dazukamen, wurden auch diese an die einheimischen Familien verteilt, jetzt schon vom neuen, von den Amerikanern eingesetzten Bürgermeister.
Mit den Ost-Flüchtlingen kam neues Leben ins Dorf; auch die eine oder andere neue Idee. Es waren begabte Männer und Frauen unter ihnen. Was wir im Dorf nie zuvor erlebt hatten: Da wurden winters plötzlich Theaterstückchen aufgeführt, mitunter auch selbstverfasste Sketche, die sich auf das Dorfleben bezogen. Es wurde viel gesungen, gelacht und musiziert. Ich erinnere mich noch gut an einen Herrn Kindermann, der es meisterhaft verstand, das Mamatschi (schenk mir ein Pferdchen, ein Pferdchen wär das Paradies) so rührend vorzutragen, dass vielen Frauen die Tränen kamen.
Noch etwas war plötzlich ganz anders geworden: Mit den Fremden waren auch protestantische Christen ins Dorf gekommen, und die einst 100-prozentig katholische Gemeinde stellte allmählich fest, dass diese Andersgläubigen auch Menschen waren; Menschen wie wir – mit guten und weniger guten Seiten. Das war der Beginn eines allmählichen, wenn auch sehr zähen Umdenkens, hin zur einer ökumenischen Gesamthaltung.
Der Schwarzmarkt blühte allenthalben
»Gelassenheit ist eine anmutige Form des Selbstvertrauens ...« – Dieses Wort von Marie von Ebner-Eschenbach könnte über unsere Mama gesprochen worden sein. Selbstbewusstsein als Verankerung in Gottes Liebe und Fürsorge; als Urvertrauen in seine Güte – unerschütterlich und ohne Vorbehalte. Vor allem in den schweren Jahren nach dem Krieg; zur Zeit der Flüchtlingsströme, der Hamsterer und Hausierer, der Heimatlosen und Notleidenden.
Viele von ihnen zogen fast täglich durch die Bauerndörfer: Einen alten schäbigen Rucksack auf dem Rücken und eine verbeulte Tragetasche in den Händen. Ärmlich gekleidet und halb verhungert stolperten sie durch die Dörfer und bettelten um einen Esslöffel Schweinefett, um ein Stückchen Brot, um ein paar Eier oder auch um zwei, drei Holzscheite. Den Einheimischen waren sie lästig, diese von Hof zu Hof ziehenden Hamsterer, wie sie eher abfällig genannt wurden. Weil es so viele von ihnen waren! Weil man unmöglich allen helfen konnte!
Aber Mama hatte für alle ein gutes Wort. Meistens auch etwas Mehl, ein paar Kartoffeln oder Äpfel und einen Schluck Most. Mamas Augen waren immer voller Mitleid, ihre Gesten sagten zwar, wir hätten leider keine Wundertöpfe, aber ihr Mitgefühl und ihr Verlangen, diesen Hungernden zu helfen, waren stärker.
Damals blühten auch Schwarzmarkt und Tauschgeschäfte. Eingetauscht wurden vor allem Kleider, Anzüge, Mäntel und dgl. gegen Esswaren. Es gab zwar im ganzen Land Lebensmittelmarken für alle Bewohner, aber wo waren die vollen Läden? Und was man auf den Marken zugestanden bekam, reichte oft nicht aus, um den Hunger zu stillen.
Auch größere Artikelwie Pelzmäntel, Nähmaschinen, Fahrräder oder auch kleine Motorräder wurden mitunter angeboten – etwa gegen mehrere Riemen geräucherten Schinken oder gegen ein paar Säcke Kartoffel oder Mehl.
Unser NSU-Motorrad (125 Kubik, Baujahr 1939 oder anfangs der 1940er Jahre) wurde auf diese Weise eingetauscht. Wir, mein Bruder und ich, fuhren es nach Papas Tod noch mehrere Jahre lang. Einen gebrauchten Volkswagen konnte sich unsere Familie erst viel später leisten. Papa hat es nicht mehr erlebt. Er hatte vor dem Krieg im Wolfsburger VW-Werk eine Bestellung aufgegeben und auch vorausbezahlt: 999 Reichsmark! Das war um 1938. Doch dann brach der Krieg aus und alle noch nicht ausgelieferten Wagen wurden konfisziert und für die Wehrmacht umgebaut. Das Geld erhielten wir nie zurück.
Gelassenheit war nie Papas herausragende Eigenschaft; das war Mamas Markenzeichen: Gleichmut, Dankbarkeit, Humor, Gottvertrauen – und Mitleid mit allen Minderbemittelten, Kranken, Schwachen und Leidenden. Sie sorgte sich um alle, die in Bedrängnis waren, und half mit, ihre Not zu lindern.
Das spürten auch wir Kinder. Nicht, dass sie uns alles durchgehen ließ. Nein, aber wenn sie mal eine Schelte erteilen musste, dann tat es ihr gleich wieder leid – und wir sahen es ihren Augen an, dass sie uns trotz allem sehr gerne hatte.
Erziehung der Kinder zum Stillhalten und Brav-Sein
Damals ging man mit Kindern noch allgemein ganz anders um als heute: Streicheln, Liebkosen, mal in die Arme nehmen – das tat man kaum. In der Kindererziehung galten Härte, Strenge und Bestrafung. Ohrfeigen und auch gelegentlich Schläge waren allgemein üblich. Der immer wieder zitierte Bibelvers klang noch nach: Wer seinen Sohn lieb hat, der züchtigt ihn!
Das war weithin auch die Regel in der Volksschule. Unsere Lehrer schlugen uns: Mit dem Rohrstock auf die Hände; bei Buben auch auf den Hintern ... Das Wort Misshandlung in diesem Zusammenhang zu benützen, wäre undenkbar gewesen. Nicht selten wurden die Lehrer von den Eltern geradezu ermutigt, ihre Zöglinge mit Strenge zu behandeln – und auch mit Watschen oder mit dem Rohrstock nicht zu sparsam oder zimperlich umzugehen.
Brav-Sein lautete das Zauberwort! Brav sein, das hieß nichts anderes, als mucksmäuschenstill in der Stubenecke zu sitzen und nur dann etwas zu sagen, wenn man (von einem Erwachsenen) gefragt wurde. Kein Wunder, dass wir mehrheitlich eingeschüchtert waren!
Das galt für mich noch sehr lange und weit über das Elternhaus hinaus: Überall nahm ich mich zurück, im Dorf und in der Schule; auch immer noch, als ich schon aufs Gymnasium ging. Und überhaupt, ich gehörte in meiner Jugend schon immer und wie selbstverständlich zu den Schüchternen und Braven.
Dazu trug auch Papas Strenge bei. Seine Schläge fürchtete ich, auch wenn sie so häufig nicht waren. Vielleicht war er auch deswegen mir gegenüber mitunter so hart, weil ich mich als Kind kaum für die Landwirtschaft interessierte. Ich hätte ja, weil Erstgeborener, mal den Hof übernehmen sollen! Doch der Kuhstall war nie mein Ding, auch nicht der Schweinestall. Natürlich arbeitete ich überall auf dem Hof und auf den Feldern mit, was man von uns Kindern erwartete, und ich bekam auch alles mit, was tagein, tagaus geschah. Aber besonderes Interesse zeigte ich nie daran. Damals jedenfalls nicht.
Wie sich später herausstellte (ich erinnere nur an meine Zeit in der Afrika-Mission!), bekam ich sogar sehr viel mit, was sich landwirtschaftlich bei uns tat. Aber Papas Haltung (mir gegenüber) machte es mir nicht leicht, dem Bäuerlichen etwas Angenehmes abzugewinnen. Heute sehe ich es anders; ganz anders. Und ich werfe ihm auch nichts vor. Schon gar nicht im Nachhinein. Weil ich weiß, dass man damals auf dem Land ganz allgemein so dachte: Wer keine landwirtschaftlichen Arbeiten verrichtete (oder sie ohne große Begeisterung ausführte), wurde als Faulenzer, Taugenichts, Schwächling und Stubenhocker hingestellt. Als einer, der das Brot für die Suppe nicht verdient hätte!
Erst als ich mit dem Gymnasium begann, änderte sich diese Haltung. Da stand bereits fest, dass mein Bruder Georg den Hof übernehmen würde.
Und