Herbert Seibold

Mordgelüste in der Schlossklinik Buchenhain


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in der lokalen Presse nur eine kleine Notiz war, sollte für das Krankenhaus große Auswirkungen haben. Die Insider wussten natürlich mehr, behielten das meiste aber für sich. Nachdem das Klinikum in den vergangenen sechs Jahren, quasi exakt mit Beginn der Einführung des neuen Abrechnungsverfahrens, wie die Hälfte der Kliniken in Deutschland nur noch rote Zahlen geschrieben hatte, war der alte Geschäftsführer Gottfried Trost, dessen Politik nicht mehr in die moderne Geschäftsphilosophie zu passen schien, vom Vorstand in den vorzeitigen Ruhestand verabschiedet worden. Viele erinnerten sich noch an die pathetische Abschiedsrede des alten Verwaltungsdirektors wie an einen Wechsel vom Herbst zum Winter! Auch Doktor Muniel blieb die Rede in lebhafter Erinnerung. Als Gipfel einer unpassenden und geradezu abwertenden Konnotation einer flexiblen ökonomischen Geschäftsführung hatte er es nach Muniels Einschätzung doch tatsächlich gewagt, in seiner Abschiedsrede vor großem Publikum und Orchester die Lebensqualität der Patienten und der Mitarbeiter in den Vordergrund zu stellen.

      In seiner Rede strotzte er nur so von Selbstbewusstsein – seine Brust weitete sich unter dem breiten kurzen Hals, als er mit dramatischem Gesicht loslegte: „Ich blicke wenigstens in eine schöne Vergangenheit zurück. Die Akzeptanz des Hauses war während meiner Amtszeit immer groß. Wir müssen keine großen Gewinne erwirtschaften und auch nicht an die Börse gehen und uns größer vorkommen, als wir sind. Die niedergelassenen Ärzte wiesen nur zu uns ein, weil die Patienten unser Haus schätzten.“ Die genanten Ärzte unter den Zuschauern nickten begeistert und warfen sich zufriedene Blicke zu. Muniel hatte sich kurz umgesehen und nicht ohne Unbehagen festgestellt, dass alle, nicht nur diese Gruppe, zustimmend genickt hatten.

      „Auch die Mitarbeiter konnten jederzeit zu mir kommen, was für mich zwar anstrengend war, aber auch befriedigend. Wenn sie das Büro verließen, konnte ich sehen, dass sie einen Motivationsschub bekommen hatten. Ihr Abschiedsgruß klang wie Musik in meinen Ohren, was – meine Damen und Herren – zwar pathetisch klingen mag, aber die schlichte Wahrheit ist. Die Profitzahlen waren für mich wichtig, aber gleichbedeutend waren die menschlichen Aspekte bei diesem harten Job.“ Wie ein Prophet aus alter Zeit hatte er den Zeigefinger gehoben, um dann wie im Triumph vom Podium an seinen Platz zurückzukehren. Dass er an der letzten Stufe stolpernd fast gefallen wäre, verschmälerte nicht den guten Gesamteindruck.

      Der neue Geschäftsführer saß damals in der ersten Reihe. Nur die strenge Pflegedirektorin, die neben ihm saß, sah, wie er bei der Rede mehrmals unmerklich den Kopf schüttelte. Dieser Trost hat tatsächlich nichts begriffen, dachte Doktor Muniel damals. Meistens hörte er der Rede aber gar nicht zu und saß mit einem Katzenlächeln wie selbstverliebt im Stuhl und driftete mit seinen Gedanken in seine eigene Welt. Er betrachtete die Fenstermalereien, die sich als selten gelungene Exemplare des Jugendstils präsentierten. Immer wieder verlor er sich in diesen Bildern von den tanzenden Frauen, die er fast wie nur für ihn geschaffene Trugbilder wahrnahm. Die Tänzerinnen schienen wie im Traum direkt auf ihn zuzukommen. Das beklemmende schwarze Band um seinen Hals in seinen späteren Albträumen war damals noch nicht zu spüren.

      „Du bist jetzt der ausgewiesene Manager, der Erfolg für das Haus verspricht“, schienen ihm die Tänzerinnen zuzuflüstern. Jetzt bedurfte das Haus eines anderen Verwaltungsdirektors, eines Mannes von ganz anderem Kaliber. Herr Doktor Kurt Muniel – auf den Titel sowie seine Doktorarbeit zum Thema „Die Deckungsbeitragsrechnung im Krankenhaus unter Berücksichtigung des unberechenbaren Kostenfaktors Patient“ legte er größten Wert und trotz vieler Neider waren im Internet bis jetzt keine Plagiatsvorwürfe erhoben worden – hatte trotz seiner fünfundvierzig Jahre und leichtem Bauchansatz eine noch sportliche Figur und hielt sich an das Motto: „Eine Stunde Tennis pro Tag ist das Minimum für einen hart arbeitenden Manager!“ Dynamisch lief er über die langen Krankenhausflure, hatte es immer eilig, war wie auf der Flucht vor etwas nicht Sichtbarem. Wovor eigentlich?, dachte da so mancher.

      Unter den Assistenten kursierte schon am ersten Tag ein Spruch des Chefs der Geriatrie: „Muniel ist immer auf der Flucht, vielleicht vor den roten Zahlen oder nur vor sich selbst!“ Mit diesem Satz konnten viele etwas anfangen. Veronika von Hess-Prinz, die Chefsekretärin, die damals bei der Verabschiedung von Herrn Trost in der zweiten Reihe gesessen hatte, dachte auch nach Monaten immer noch an die alten Zeiten, die sie aber vor dem Angesicht ihres Chefs und der Belegschaft schon gar nicht preisen konnte und wollte. Ihr Bauchglucksen war beim Anblick des „Neuen“ aufgetreten und war beim Klang der „Ode an die Freude“, die vom Orchester im Fortissimo anlässlich der Verabschiedung des alten Geschäftsführers gespielt wurde, wieder verschwunden. Das war die Geburt einer neuen Taktik, sich abzulenken und sich wieder wohlzufühlen.

      Wenn sie sich später bei der Arbeit über den „Neuen“ ärgerte, schlug sie auf die Tastatur ihres Computers ein, träumte vom „Alten“ und von Beethovens Musik und summte die „Ode an die Freude“. Sie gönnte sich Entspannungspausen sowie Erinnerungen an den alten Herrn Trost. Es war für sie noch bis vor Kurzem wie eine Verhaltenstherapie. Ihr alter Chef hatte in ihrer Erinnerung eine eher behäbige Ausstrahlung mit gütigem Lächeln auf dem runden Gesicht. Jedes Mal, wenn sie ihm einen Milchkaffee brachte, hatte er sie zu einem kleinen Plausch zu sich an den Tisch gebeten. Nicht lange, aber lange genug, dass sie sich froh wieder an ihre Arbeit machen konnte. Er neigte damals schon zur Glatze, die in einen Stiernacken überging, und war eindeutig bauchspeckdominant übergewichtig. Seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, war sie auf der Suche nach einem anderen die Stimmung aufhellenden Chef wie ihrem alten.

      Die letzte Erinnerung an ihn hatte sie sogar traurig gemacht. Sie sah ihn zuletzt im Supermarkt. Total glatzköpfig und deutlich vorgealtert mit hängenden grauen Wangen. Kein glückliches Gesicht. Doch man sieht selten glückliche alte Gesichter, besonders nicht in Supermärkten, wenn sie in die Abrechnungszettel starren. Ein Blick in seinen Einkaufswagen schien alles andere als tröstlich. Nur fetthaltige Fertiggerichte und Kohlenhydrate vom Billigsten, nichts Frisches, kein Gemüse und Salat, dafür aber Zigaretten! Sie war sehr erstaunt, dass ihr alter Chef jetzt auch noch damit angefangen hatte. Sollte er seinen eigenen Tod herbeisehnen? Oh je!, dachte sie dabei, konnte oder wollte ihn aber nicht begrüßen. Sie war wie blockiert! Sollte er inzwischen Single geworden sein? Seine Frau war doch noch relativ jung gewesen. Hat sie ihn verlassen, nachdem das üppige Gehalt ausblieb? Der arme alte Kerl. Der Herrgott meint es nicht gut mit den Seinen! Bekümmert verließ sie den Supermarkt, immer noch in Gedanken an Herrn Trost. Die Ungerechtigkeit seines Schicksals sah sie sehr wohl. Das hatte dieser herzensgute und auch kompetente Mann nicht verdient.

      An ihrem Arbeitsplatz sah sie den Frust im Gesicht ihres neuen Chefs mit anderen Augen. Ihr Chef war immer akkurat gekämmt, zog sich jeden Morgen einen geraden Scheitel in das duschnasse Haar mit dem beginnenden Grauansatz und den Geheimratsecken. Was aber die bösen Zungen und selbst seine Sekretärin nicht wussten, war die frühe traurige Kindheit ihres Chefs.

      Sein Vater – ein pietistischer Pastor – hatte ihn als Kind regelmäßig geschlagen, wenn er nicht korrekt mit Mittelscheitel frisiert war. „Gott mag keine Schlamper“ war dessen Standardsatz. In der Schule war er auch gemobbt worden. Muniels hageres Gesicht hätte schön sein können, wenn die tiefen senkrechten Falten an den Wangen und seine spröden Lippen nicht wären. Er war schon einmal wegen eines Magengeschwürs behandelt worden. Sein leicht schräger Mund und die von oft wiederkehrenden Herpesbläschen gezeichneten Lippen luden seine Frau und in der Fantasie der Sekretärin nicht gerade zum Küssen ein. Diese lädierten Lippen waren der Sekretärin erstmals aufgefallen, als sie ihm auf Facebook eine Nachricht über das Krankenhaus zeigte. Darin stand Ungeheuerliches: „Der Geschäftsführer wäre lieber Arzt geblieben. So bräuchten wir ihm nicht eine Spritze mit unbekanntem tödlichem Inhalt ansetzen und ihn zwingen, seine zynischen Ansichten über die Mitarbeiter zu rächen.“

      Es war eine hinterhältige Drohung, die das Blut zum Stocken brachte. Von wem kam so was? Waren Verbrecher hinter ihm her? Berieten Psychopathen untereinander, wie sie ein rätselhaftes Drehbuch, ein tödliches Spiel inszenieren sollten? Wie räche ich mich an einem unbequemen und zynischen Vorgesetzten? Steckten jetzige oder frühere Mitarbeiter des Krankenhauses dahinter?

      Auch in der Personalkantine war dieser Internetauftritt hinter vorgehaltener Hand diskutiert worden. Niemand konnte sich aber vorstellen, wer hinter der Drohung stand. Ein naseweiser Assistent, Doktor Gscheidle aus Ulm, meinte nur lapidar: „Wer Angst sät, wird