aber nicht allein das Deutsche Reich etwa aufgrund seiner besonderen nationalpolitischen Entwicklung seit dem Kaiserreich. Ein ähnliches autarkistisches Denken für nationalimperiale „Großraumwirtschaften“ findet sich vielmehr sowohl in der Vor- als auch in der Zwischenkriegszeit in allen Ländern des kapitalistischen Zentrums, wenn auch sicherlich im angelsächsischen Bereich nicht derart ausgeprägt wie bei den Nazis.
Der wirklichen Sachlage und dem vorherrschenden imperialen Diskurs gemäß hatte Lenin in seiner berühmten Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus“ (1917) das nationalimperiale Bestreben wesentlich als territoriale Annexionspolitik bestimmt: „Jetzt sehen wir, dass … ein ungeheurer ‚Aufschwung‘ der kolonialen Eroberungen beginnt und der Kampf um die territoriale Aufteilung der Welt sich im höchsten Grade verschärft… Die Jagd aller kapitalistischen Staaten nach Kolonien gegen Ende des 19. Jahrhunderts und besonders seit den achtziger Jahren ist eine allbekannte Tatsache in der Geschichte der Diplomatie und der Außenpolitik… Für den Imperialismus ist … das Bestreben charakteristisch, nicht nur agrarische Gebiete, sondern sogar höchst entwickelte Industriegebiete zu annektieren (Deutschlands Gelüste auf Belgien, Frankreichs auf Lothringen), denn erstens zwingt die abgeschlossene Aufteilung der Erde, bei einer Neuaufteilung die Hand nach jedem beliebigen Land auszustrecken, und zweitens ist für den Imperialismus wesentlich der Wettkampf einiger Großmächte in ihrem Streben nach Hegemonie, d.h. nach der Eroberung von Ländern, nicht so sehr direkt für sich als vielmehr zur Schwächung des Gegners und Untergrabung seiner Hegemonie…“ (Lenin 1970/1917, 82 f., 97).
Auch wenn Lenins Analyse von einem arbeiterbewegungsmarxistisch beschränkten und verkürzten Begriff des Kapitals ausgeht, der eine falsche Gegenüberstellung von Konkurrenz- und sogenanntem Monopolkapitalismus impliziert, so trifft er mit seiner Charakterisierung des Imperialismus als polyzentrischer nationaler Annexionspolitik durchaus die tatsächliche Erscheinungsform der damaligen weltkapitalistischen Entwicklung. Diese Epoche, die 1945 zu Ende gegangen ist, war aber eben noch keineswegs das „letzte und höchste Stadium des Kapitalismus“, das Lenin zeitbedingt vor allem unter dem Aspekt weniger einer kategorialen Krise der ökonomischen Formen, als vielmehr des politischen Zusammenbruchs der bisherigen weltkapitalistischen Konstellation sah.
Solange sich die USA noch im Windschatten der polyzentrisch um die Welthegemonie kämpfenden europäischen Großmächte entwickelten, also im 19. und im frühen 20. Jahrhundert, folgten sie ebenfalls der Logik einer nationalimperialen „Ausdehnungsmacht“. Schon 1823 hatte der damalige US-Präsident James Monroe die nach ihm benannte Doktrin verkündet, wonach die USA keine europäische Intervention auf amerikanischem Boden dulden wollten. Die Monroe-Doktrin, die den lateinamerikanischen Unabhängigkeitskampf gegen Spanien zum Hintergrund hatte und die USA zur selbsternannten „Schutzmacht“ des südlichen Teilkontinents machte, wurde geradezu ein Präzedenzfall; nicht umsonst berief sich noch Carl Schmitt in seiner Schrift über „Großraumordnung und Interventionsverbot“ darauf. Auch die nationalimperiale direkte Annexionspolitik war den USA nicht fremd: 1848 rissen sie sich nach dem erfolgreichen Krieg gegen Mexiko Texas, New Mexico und Kalifornien mitsamt den dortigen Goldfeldern unter den Nagel; 1898 annektierten sie im Krieg gegen Spanien die Philippinen, die (nach der japanischen Besetzung im Zweiten Weltkrieg) erst 1946 in die staatliche Unabhängigkeit entlassen wurden.
Schon in der Epoche von „Wirtschaftswunder“ und Kaltem Krieg, in der die USA zur alleinigen Führungsmacht des westlichen Kapitalismus aufstiegen, änderte sich jedoch die Sachlage grundsätzlich. Unter dem Dach der Pax Americana machte der Status der Weltmacht zusammen mit der Entwicklung des Weltkapitals eine entscheidende Metamorphose durch, in der die alte nationalimperiale Expansionspolitik obsolet zu werden begann. Als erste Weltmacht im buchstäblichen Sinne konnten die USA keine territoriale „Ausdehnungsmacht“ mehr sein, und das galt eine Etage tiefer auch für die nunmehr abhängigen, als Vormächte abgetakelten europäischen Nationalstaaten. Diese grundsätzliche Metamorphose war vor allem durch zwei Momente bestimmt, ein politisch-militärisches und ein ökonomisches.
Zum einen war der Kalte Krieg mit der Gegenweltmacht der „nachholenden Modernisierung“ von vornherein nicht mehr im Stil einer nationalökonomisch fundierten territorialen Kontrolle über ein partikulares „Weltreich“ zu führen, sondern nur als langfristige strategische Orientierung in einem unmittelbar globalen Maßstab. Als „Weltpolizist“ mit dem selbst gegebenen Auftrag, das staatskapitalistische Gegenimperium und „Reich des Bösen“ (Reagan) niederzuringen, musste der US-Imperialismus gewissermaßen zum „ideellen Gesamtimperialisten“ werden, also auf einer Meta-Ebene jenseits der bloß nationalen Expansion operieren.
Es ging insofern nicht um eine neue Konstellation innerhalb der alten Logik der Konflikte, sondern um einen transitorischen Charakter des Konflikts selbst. Schon der Ausdruck „Weltpolizist“, ursprünglich wohl in einem kritischen Sinne gemeint, verweist ja ungewollt darauf, dass es dabei um die Option eines militärisch gestützten globalen Kontrollmonopols jenseits der nationalökonomischen Grenzen ging statt um deren Hinausschieben als Erweiterung des eigenen Territoriums.
Auf dieser Ebene war also nicht mehr der Gedanke eines eigenen imperialen „Großraums“ und einer dazugehörigen „Großraumwirtschaft“ bestimmend, sondern die globale Absicherung der kapitalistischen Produktionsweise als solcher. Die USA wurden insofern gewissermaßen zur weltweiten „Schutzmacht“ des Kapitals überhaupt, wobei dieses nur in seiner westlichen, privat- und konkurrenzkapitalistischen Form akzeptiert wurde und die östlich-südlichen Varianten des Staatskapitalismus als feindliches Störprinzip erschienen.
Der Drang ging dahin, den eisernen Vorhang zu durchbrechen und die gesamte Welt für den privatkapitalistischen Zugang (welcher Nationalität auch immer) zu „öffnen“, also ein einheitliches kapitalistisches Weltsystem herzustellen. In diesem Sinne gründeten die USA 1949 die NATO, deren Organisationsrahmen dazu diente, die zweit- und drittrangig gewordenen europäischen Nationalstaaten direkt in die strategischen Operationen der weltkapitalistischen US-„Schutzmacht“ einzubinden und sie als „Flugzeugträger“ der US-Army zu benutzen.
Weil aber dieser Weltmacht-Status den Charakter eines „ideellen Gesamtimperialisten“ implizierte und nicht mehr unmittelbar identisch sein konnte mit einem nationalimperialen Expansionsinteresse, machte sich der Widerspruch zwischen den USA als Nationalstaat und den USA als Weltmacht neuen Typs durch zunehmende Reibungsverluste bemerkbar. Zwar verwenden die USA bis heute für ihr globales Vorgehen als „Weltpolizist“ gewohnheitsmäßig und geradezu unschuldig den Begriff des „nationalen Interesses“, und sie nutzen ihre Weltmachtposition, die Rolle des Dollar als Weltgeld etc. natürlich auch weidlich für sich selbst aus, wo es nur möglich ist. Trotzdem waren der im Verlauf des Kalten Krieges erlittene Verlust jener am Ende des Zweiten Weltkriegs erreichten absoluten ökonomischen Übermacht, der Rückgang des nationalen Weltmarktanteils, das relative Zurückfallen in der industriellen Produktivität und schließlich die exorbitante Innen- und Außenverschuldung zu großen Teilen auf die kapitalistisch unproduktive Last des politisch-militärischen „Weltmachtkonsums“ zurückzuführen.
Dieser Sachverhalt ist mehrfach beschrieben und beklagt worden, zuletzt wieder von Paul Kennedy, der dabei Analogien zu den früheren Vormächten der Modernisierungsgeschichte seit dem 16. Jahrhundert aufmacht (Kennedy 1991/1987). Die Rolle als „Weltpolizist“ oder „ideeller Gesamtimperialist“ blieb daher in den außen- und gesellschaftspolitischen Debatten der USA stets umstritten; aber gleichzeitig waren diese durch die weltkapitalistische Entwicklung gewissermaßen zu dieser Rolle verdammt.
Zum andern wurde die alte nationalimperiale Annexionspolitik aber nicht nur durch die äußerliche weltpolitische Konstellation des Kalten Krieges und seiner bipolaren Machtstruktur obsolet, sondern auch durch den inneren ökonomischen Prozess der kapitalistischen Produktionsweise selbst - wofür allerdings die weltumspannende politische Vereinheitlichung des Privatkapitals durch die Supermacht USA durchaus eine Rahmenbedingung bildete. Denn unter dem Dach der Pax Americana wurde der bereits von Lenin und Rudolf Hilferding als neues Strukturmerkmal des Kapitals ausgerufene Kapitalexport überhaupt erst in einem großen Maßstab real.
Lenin hatte den Kapitalexport (im Unterschied zum bloßen Warenexport) noch in der alten Konstellation der nationalökonomisch zentrierten „Ausdehnungsmächte“