Houston Stewart Chamberlain

Mensch und Gott


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der Erschaffung von Gedankengestalten übergehen können. Es liegt z.B. ein kühnes Gedankengestalten des Menschengeistes in der Aufstellung des einheitlichen Begriffes »Hund«; wissen wir doch heute, daß die Tiere, die wir mit diesem gemeinsamen Namen bezeichnen, von mindestens drei verschiedenen, durch die Wissenschaft auch artlich getrennten wilden Stämmen entspringen und erst durch grenzenlose Kreuzung als Zwischenstufen entstanden sind (siehe Keller); es ist und bleibt unmöglich, eine einheitliche, sicher umgrenzte, unanfechtbare Begriffsbestimmung der Gedankengestalt »Hund« zu geben; Hindenburg's Lehre von den »11 Borsten« käme hier an allen Ecken und Enden zum Durchbruch.

      Noch eigenmächtiger gehen wir zu Werke, sobald nicht Dinge, d.h. nicht sinnlich wahrgenommene Erscheinungen, sondern lediglich Begriffe, Empfindungen, Ahnungen usw. den »Stoff« ausmachen, aus welchem wir es unternehmen, Gedankengestalten aufzuerbauen: ich nenne Endlichkeit, Unendlichkeit, Tugend, Sünde, Freiheit, Unsterblichkeit... Alle diese Ideen sind Schöpfungen unseres Geistes, und zwar bei ihrem Ursprung Schöpfungen bestimmter Männer an bestimmten Tagen, die dann nach und nach unter allen denkbaren Verzerrungen und Verballhornungen in den Bestand des allgemeinen Bewußtseins eindrangen, – wobei wohl zu bemerken ist, daß alle feineren Gedankengestalten Besitz einer Minderzahl bleiben, während die Menge davon redet – wie heute von der Freiheit – ohne im mindesten zu ahnen, was damit ausgesagt wird und werden kann.

      Nähere Betrachtungen über das hier kurz Angedeutete anzustellen, ist im Augenblick keine Veranlassung; vorläufig liegt mir daran, die eine Tatsache, welche wenig oder garnicht beachtet wird, hervorzuheben: der Begriff Mensch ist in Wirklichkeit ebensowenig wie der des »Hundes« ein festzubannender, auf sicher umgrenzte Tatsachen bezogener; vielmehr handelt es sich auch hier um eine Gedankengestalt, und das heißt, um eine Schöpfung des freidichtenden Geistes. Die im letzten halben Jahrhundert oft erwogene Frage, wann der Mensch entstanden sei? – dürfen wir mit aller Bestimmtheit dahin beantworten: an dem Tage, an dem zum erstenmal ein sinnendes Gemüt seine Erfahrungen in der Weise zu verbinden und zugleich auszuscheiden verstand, daß die Vorstellung Mensch sich ihm deutlich vor Augen aufbaute.

      Um Tüfteleien handelt es sich keineswegs, vielmehr um eine Frage von entscheidender Wichtigkeit – nicht weniger entscheidend, weil sie niemals gestellt zu werden pflegt. Wir reden alle geläufig vom »Menschen« und fragen uns niemals, ob dieser Vorstellung ein einheitlicher Begriff entspreche? ob wirklich alle »zweibeinigen Wesen, ohne Flügel« (wie Voltaire spottet) als »Menschen« zu bezeichnen seien? ob dies zu tun einen Sinn habe und irgendeiner brauchbaren Wahrheit zum Ausdruck verhelfe? Die Aroinder nannten, als sie von Norden kommend in die Täler des Indus und des Ganges hinabstiegen, die dunkle Bevölkerung, die ihnen den Weg streitig machte, kurzweg Affen, nicht Menschen, und ihre Führer warnten vor der Vermischung mit ihnen, als einer verbrecherischen Blutschändung mit einem Tier. Taten sie Unrecht daran? und hat nicht der Verfolg der Geschichte jenen weisen Männern Recht gegeben, indem er gezeigt hat, was aus einem zuhöchst begabten, edelmütigen Menschenschlag wird, wenn die Sinne ihn nun doch betören, das Tierblut in sein Menschenblut einsickern zu lassen? Die Gedankengestalt Mensch, die der hellenischen Kunst eine himmelstürmende Steigerung ins Erhabene verdankt, erleidet eine entsprechende Herabwertung ins Bestialische, sobald wir den Neger ihr einverleiben. Heute, wo die Entwicklungslehre sich fast dogmatischen Wert anmaßt, kann die Wissenschaft nicht den Schatten eines Argumentes gegen die Annahme vorbringen, die Schwarzen stammten aus einer anderen Affenfamilie als die Weißen, und wiederum die Gelben aus einer dritten, und die Malaier aus einer vierten. Man weiß ja, daß Goethe so weit ging, jede Gemeinschaft der Abstammung zwischen Juden und Germanen in Abrede zu stellen ( Gespr. mit Eckermann, 7.10.1828). Ich gebe aber zu bedenken, ob wir nicht gut daran täten, noch weiter zu gehen und uns ernstlich zu fragen, ob alle Wesen, die Menschengestalt zeigen, – und seien es auch weiße Europäer nordischer Abkunft –, geistig und sittlich die Bezeichnung Mensch verdienen. Ich gebrauche das Wort »verdienen« nicht im Sinne eines Aburteilens, vielmehr bin ich nur besorgt, die Vorstellung Mensch könne jeden Inhalt verlieren, und es blieben nur die »zwei Beine ohne Flügel« übrig. Wenn nämlich der Stufen von Mensch zu Mensch gar viele sind und zwischen unten und oben eine mächtige Kluft gähnt, dann verlieren wir durch die gewaltsame Vereinigung zu der Gedankengestalt Mensch mehr an Einsicht, als wir durch diese geniale Erfindung gewinnen. Goethe geht uns hier wie immer mit dem Beispiel voran, indem seine bekannte Lehre von der beschränkten und auch dem Grade nach verschiedenen Unsterblichkeit auf ungeheure Unterschiede zwischen Mensch und Mensch schließen läßt. Ich erinnere u. a. an die Worte, die Eckermann vom 1. September 1829 berichtet: »Wir sind nicht auf gleiche Weise unsterblich, und um sich künftig als große Wirklichkeit (Entelechie) zu manifestieren, muß man auch eine sein.« Auch auf Kant ist hinzuweisen. Das nie rastende Arbeiten seines langen Lebens faßt er dahin zusammen: er habe »lehren wollen, was man sein muß um ein Mensch zu sein« – woraus hervorgeht, daß wir nach Kant's Überzeugung, jedenfalls der Mehrzahl nach, noch keine Menschen sind, mit anderen Worten: wir entsprechen nicht dieser Idee, wie sie in dem Hirne des sinnenden Weltweisen klarest durchdachte Gestalt gewonnen hatte.

      Somit sehen wir deutlich ein, daß es sich bei der Idee Mensch – wie bei allen Gedankengestalten – um eine verschiebbare Vorstellung handelt, die weiter oder enger, bestimmter oder verschwimmender, edelgeartet oder gemein gefaßt werden kann. Den arischen Indern schwebte ein erhabenes Traumbild vor – der vollkommene Mensch sollte, Dank der inneren Läuterung und Steigerung, gleichsam seine Körperlichkeit überwindend, sie abstreifen und »Gott« werden; das Gegenstück hierzu bieten uns die Hellenen, denen einzig der vollkommen schöne, sich harmonisch kundtuende Mensch als wahrer Mensch galt, so daß es auch für die Götter kein Höheres gab als schönen Menschen zu gleichen; dagegen erachteten unsere nordischen Vorfahren nur unerschrockene Helden als Menschen; diesen allein öffnete sich ein Jenseits; wogegen die übrigen Wesen in Menschengestalt den bloßen Naturkräften angehörten, die heute die Welt mit ihrer Geschäftigkeit erfüllen und morgen ins Nichts verweht werden. So unterscheidet sich selbst innerhalb der gleichen Rasse Stamm von Stamm und Menschheitsideal von Menschheitsideal.

      Noch verwickelter wird die Frage und noch schwieriger die Aufstellung eines eindeutigen Begriffes Mensch infolge der Tatsache, daß innerhalb der gleichen Gemeinschaft, sei es durch das Einsickern fremden Blutes, sei es durch die Einwirkung veränderter Lebensbedingungen und früher nicht vorhandener geistiger Einflüsse, oftmals Wandlungen stattfinden, dank welchen ein Volk kaum mehr als das gleiche zu erkennen ist. So erleben wir z. B. unter der gesamten Bevölkerung des mittleren und westlichen Europa einen merkwürdigen Aufstieg, der etwa in der Mitte des 13. Jahrhunderts beginnt und bis ungefähr gegen die Mitte des 17. Jahrhunderts anhält: man glaubt, eine allgemeine Zunahme des Lebensgefühles wahrzunehmen und damit zugleich des Bewußtseins der Menschenwürde; und zwar betrifft dieser Aufschwung alle Stände – den Bauern und Handwerker nicht minder als den Bürger, den Adel, den Gelehrtenstand und den schaffenden Künstler. Auf den langsamen Aufstieg folgt ein schneller Sturz: der entrechtete Bauer wird mißmutig und dumpf, der in die Politik verstrickte Handwerker verliert seine früher so wohltuend auffallende Heiterkeit, der Bürger büßt die Zuversicht und das Selbstvertrauen ein, der Adel beginnt mehr auf Reichtum als auf Ehre zu sehen, die absolut gewordenen Fürsten geraten ins Schrankenlose ..... Dies alles aber betrifft zunächst mehr die äußere Lebenshaltung und den Lebensmut als das innere Seelenleben, welches nicht allein in Deutschland, sondern auch in England, Frankreich, Spanien und Italien während dieser Zeit des Niederganges besondere Blüten zarter Innerlichkeit treibt (Zeitalter der Musik). Nun aber setzt gegen Ende des 18. Jahrhunderts die große Umwälzung ein, welche wohl einstens als die furchtbarste Katastrophe erkannt werden wird, die jemals unser Geschlecht betroffen hat, so daß man sich fragen darf, ob die Menschenwürde überhaupt noch zu retten ist; ich rede von der Mechanisierung und der dadurch bedingten Industrialisierung des Lebens. Wohl wäre es möglich gewesen, von Anfang an diese Entwickelung in andere Bahnen zu leiten, wozu wir Ansätze bei philanthropisch gestimmten Arbeitgebern und bei genialen Arbeitern im Anfang des 19. Jahrhunderts finden – Gedanken, die noch in dem Buche Histoire d'un Ruisseau des edlen Träumers Elisée Reclus hinreißenden Ausdruck fanden; doch hatte inzwischen Satan, in Gestalt der Presse, die Gelegenheit, sein Reich auf Erden zu errichten, schon ergriffen, und vor dem fallenden Gift dieser Scheinseele der brutalen, dummen, ziellosen Maschine sank jegliche gute Absicht tödlich getroffen dahin. Mit dem unbegreiflichen