Friedrich Blass

Die Sibyllinen


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und drängte das ursprüngliche Heidnische mehr und mehr zurück. Ganz nämlich ist dasselbe auch aus den vorhandenen Sibyllinen nicht ausgetrieben, nur daß unter der jüdischen Redaktion die Namen heidnischer Götter verschwinden mußten. Aber nicht nur Weissagungen über Troja und Helena, genau sich deckend mit den von Griechen erwähnten, finden sich in unserer Sammlung vor (III, 414 ff. und ausgeführter XI, 125 ff.), sondern es citiert auch Strabo wörtlich über die Landaufschüttungen des kilikischen Flusses Pyramos zwei sibyllinische Verse, welche sich ziemlich ebenso hier erhalten haben (IV, 95 f.). Auch anderes von heidnischen Schriftstellern aus den Sibyllensprüchen Citierte findet sich in unseren Sibyllinen mehr oder weniger deutlich wieder. Daß dies nicht bei allem der Fall ist, begreift sich leicht, nicht nur aus den Schicksalen der Sammlung, sondern auch daraus, daß die Redaktoren nur für die damals bedeutenden Länder und Städte Interesse hatten, insbesondere der Jude nur für die, wo es auch reichlich Juden gab; also Griechenland, mit Ausnahme von Korinth, fiel ziemlich aus, während desto mehr Ägypten, Kleinasien, Italien hervortraten. Aber was über diese Länder und vollends über einzelne Städte derselben gesagt wird, mag man im Wesentlichen auf heidnischen Ursprung zurückführen, da doch ein Jude schwerlich das Interesse hatte, ein Orakel über Rhodos oder Kyzikos oder Laodikeia eigens zu fälschen. Jedoch, obwohl diese Abschnitte nicht wenig zahlreich und nicht unbeträchtlichen Umfangs sind: die große Masse des Erhaltenen ist dennoch von Grund auf neu gemacht, sei es von Juden oder von Christen, oder mindestens erst in der Zeit der römischen Kaiser fabriziert und dann etwa von Juden oder Christen umgeformt.

      Die jüdische Sibylla nun ist erstlich eine unermüdliche Predigerin für den Monotheismus und gegen den Götzendienst. Solange das Judentum Propaganda trieb, was es in späterer alexandrinischer Zeit und noch zu Christi Zeiten ganz gehörig that, in Ägypten, und wo es sonst hinkam, war dafür die Maske der alten Prophetin ein ganz vorzügliches Mittel, denn die Meisten ließen sich aufs Leichteste täuschen. Die Reden gegen den Götzendienst pflegen sich mit der Weissagung der kommenden Gerichte und insonderheit des Endgerichts zu verbinden; die Sibylla macht es, wie es Paulus und andere Prediger des Christentums gemacht haben, nur daß ihr der Geist und der religiöse Gehalt fehlt. Einen weiteren, reichen Stoff bietet ihr die Weltgeschichte seit Noah, natürlich ins Futurum umzusetzen; denn diese Sibylla ist Noahs Enkelin und Schwiegertochter (III, 826). Es scheint indessen auch von diesen Erzählungen ein Teil heidnischen Ursprung zu haben. Denn was B. III, 97 ff. zunächst berichtet wird, über den babylonischen Turm, der auf Befehl Gottes von den Winden umgeblasen wurde, und über Kronos und Titan und ihren Krieg (108 ff.), wird mit genauem Entsprechen von dem heidn. Historiker Alexander Polyhistor (um 80-40 v. Chr.) aus den Orakeln der Sibylla angeführt, nur mit den Abweichungen, daß nicht Gott, sondern die Götter die Winde senden, und daß neben Titan nicht Kronos, sondern der in unseren Sibyllinen überhaupt fehlende Prometheus erscheint. Dasselbe, aber ohne Berufung auf die Sibylla, jedoch mit Kronos und Titan, findet sich in Fragmenten des Abydenos, der (nach neuesten Forschungen erst in nachchristlicher Zeit) eine Geschichte der Assyrier und Meder schrieb. Es gab also mit diesen Inhalt heidnische, nach irgendwelchen Historikern gemachte Sibyllenorakel, und damit steht in Zusammenhang, daß auch Griechen unter den Sibyllen eine assyrische oder babylonische aufzählen, gerade wie die Sibylla des 3. Buchs am Schlusse sagt, daß sie von den hohen Mauern des assyrischen Babylon komme und keineswegs Erythräerin und ebensowenig Tochter der Kirke (d. h. Kymäerin) sei (V. 809 ff.). Dahinter folgt freilich die Stelle, worin sie sich für die Schwiegertochter Noahs ausgiebt (823 ff.), und jene selben Griechen, wie Pausanias, bemerken, daß die Babylonierin nach andern Hebräerin sei; also auch eine jüdische Bearbeitung dieser Sibyllinen, wie sie uns im 3. Buche vorliegt, war in weiteren Kreisen bekannt geworden. Die Untersuchungen Hilgenfelds und Ewalds haben ergeben, daß das 3. Buch, soweit es eine relative Einheit ist, von einem ägyptischen Juden unter dem 7. Ptolemäer, Ptolemaios Physkon, um 140 v. Chr. verfaßt wurde; aber für Originaldichtung wird man es nicht ansehen dürfen, sondern wenigstens zum Teil für Kompilation oder höchstens Überarbeitung älterer Vorlagen. Die Geschichte der Welt und ihrer einander ablösenden Reiche wird darin bis auf die damalige Gegenwart fortgeführt. Über die erste Unterlage, die Dynastie des Kronos, ist noch zu bemerken, daß die Umwandlung der hellenischen Götter in alte Könige nicht nur der Richtung der Zeit entspricht, wo der Euhemerismus, nach Euhemeros von Messana (um 300 v. Chr.) benannt, alle Mythen in dieser Weise auflöste, sondern daß auch Lactantius ziemlich genau dieselbe Geschichte, in aller Breite erzählt, aus Ennius’ Euhemerus anführt, also Euhemeros’ „Heilige Urkunde“ letzte Quelle für alles ist. Die Sibyllisten der Kaiserzeit setzten die Weltgeschichte fort und behandelten namentlich eingehend die einzelnen römischen Kaiser, die hauptsächlich nach den Anfangsbuchstaben ihrer Namen angedeutet werden (s. B. V, 1-51). Man merkt hier zwar deutlich den Juden, welcher den Vespasian brandmarkt und gegen alle Geschichte durch den eignen Sohn der Herrschaft beraubt werden läßt (V. 36. 38 f.); daß aber der Jude nicht alles selbst gemacht, sondern Fremdes umgeformt hat, zeigt sich anderswo deutlich.

      Die jüdische Fabrikation oder Aufputzung wurde schließlich von der christlichen abgelöst, indem die auf die jüdische folgende christliche Propaganda den Namen der alten Sibylle immer noch als ein geeignetes Mittel erfand, um Heiden zu imponieren. Schon alte Kirchenväter hatten von den jüdischen Sibyllinen ausgiebigen Gebrauch gemacht, und nun fanden sich auch Leute, welche die Sibylla die evangelische Geschichte im Futurum erzählen ließen oder mit Ἰησοῦς Χριστὸς θεοῦ υἱὸς σωτὴρ σταυρός ein Akrostich bildeten. Adeo nullus mentiendi modus fuit.

      Was nun als letztes Ergebnis aller dieser Umformungen und Zudichtungen schließlich auf uns gekommen ist, bildet immerhin eine ganz unverächtliche Masse, mehr als 4000 Hexameter. Aber nur die Masse ist unverächtlich, alles andere minderwertig und natürlich auch das einzige Echtheitssiegel vorhanden, das Ungeputzte und Ungesalbte der Form, in der Überlieferung noch gesteigert, manchmal bis zu völliger Sinnlosigkeit, die an die Vorträge absichtlichen Unsinns erinnert, wie man sie zuweilen in vergnügten Gesellschaften zu hören bekommt. Natürlich ist auch die Verskunst schlecht; es verdient Erwähnung, daß dies auch gebildeten Heiden an den ihnen christlicherseits entgegengehaltenen Sibyllinen auffiel, und daß die Antwort lautete, natürlich habe die Sibylle in richtigen Versen gesprochen, aber so schnell, das die nachschreibenden Tachygraphen (Stenographen) nicht immer richtig hätten folgen können (Suidas). Die Sammlung aber, wie sie vorliegt, ist nichts weiter als ein zufälliges Chaos, noch dazu unvollständig erhalten. In den Titeln werden 15 Bücher geschieden, von denen bis in dieses Jahrhundert hinein nur die acht ersten vorlagen; erst A. Mai hat 1817 und 1828 nach einer Mailänder und zwei vatikanischen Hdschr. zunächst B. XIV, dann XI-XIV herausgegeben, so daß drei Bücher immer noch fehlen. Aufschlüsse über das allmähliche Anwachsen der Sammlung geben die Benutzungen bei den Kirchenvätern, am Meisten die bei Lactantius. Dieser sagt auch ausdrücklich (div. inst. 1, 6,13): „Von den einzelnen Sibyllen (deren er aus Varro zehn kennt), mit Ausnahme der Cumäerin, deren Bücher von den Römern geheim gehalten werden, hat man je ein Buch; da aber diese Bücher [alle nur] den Namen der Sibylle tragen, so meint man, daß sie von einer stammten, und sie sind zusammengeworfen und können auch nicht geschieden werden, so daß jeder einzelnen ihr Eigentum zugewiesen würde, ausgenommen bei der Erythräerin; denn diese hat ihren wahren Namen ihrem Gedicht eingefügt und vorher verkündigt, sie werde Erythräerin genannt werden, während sie in Wahrheit aus Babylon stamme.“ Das ist die vorhin erwähnte Stelle am Schlusse des dritten Buchs, wo nur der Name (jedenfalls Sambēthe) jetzt in einer Lücke von zwei Versen fehlt. Lactantius scheint also neun oder, da er die Erythräerin mit der Chaldäerin identifiziert, acht Bücher Sibyllinen gehabt zu haben. Aber man darf diese nicht ohne Weiteres unter den vorhandenen suchen wollen, noch meinen, daß die Einteilung in Bücher und der Umfang der einzelnen gerade so wie jetzt gewesen seien. Im Gegenteil, da Lactantius mit einer gewissen philologischen Genauigkeit, der man ein besseres Objekt wünschen könnte, Sorge trägt, bei diesem Buche der Erythräerin dieselbe regelmäßig als solche zu bezeichnen, so ersehen wir, daß darin zwar die Stelle über den Turmbau und was sich daran anschloß (noch V. 228 f.), und ebenso die letzten etwa 200 Verse mit Ausnahme des Schlusses enthalten waren, daß dagegen die mittleren Teile fehlten; aus diesen werden nämlich zwei Stellen (V. 545 ff. und 652 ff.) ohne den Zusatz Erythräa citiert und keine mit demselben. Dagegen haben den Zusatz Stellen, die in unseren Sibyllinen fehlen, bei Theophilus aber ausführlich mitgeteilt sind (s. unten Proeomium), und