Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom


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mein Zimmer.

      Im Regal bewahre ich unter anderem zwei menschliche Totenschädel auf. Wunderschöne, vollständig erhaltene Objekte, die ich vor ein paar Jahren meinem ehemaligen Schulfreund Nik abgeschnorrt habe, dessen Vater bei der Friedhofsverwaltung angestellt ist. Nik hat mir den Tipp gegeben, dass sie ein altes Gräberfeld aufheben würden. Aber man wisse nie im Voraus, was dabei herauskommt. So war es eine kleine Sensation, als die Arbeiter einige sehr gut erhaltene Skelette freilegten. Niks Vater hat gesagt, die Leute seien mit etwa siebzig Jahren gestorben und beigesetzt worden. Darum sind Schädel mit allen Zähnen drin äußerst selten. Ich wusste sofort, dass ich mindestens einen dieser Köpfe haben musste. Das war so eine fixe Idee von mir. Ich war völlig überrumpelt, als Nik gleich zwei dieser Dinger, schon fein sauber gereinigt, in einer Kartonschachtel verpackt in die Schule brachte. Dafür gab ich ihm eine von Opas Eisenbahnermützen und eine grün-weiße Abfertigungskelle. Ich war hin und weg. Der Schultag war gelaufen. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren. Gleich nach der Glocke stürmte ich nach Hause und drapierte die Schädel zuerst auf einem Silbertablett aus Mamas Hausrat auf meinem Nachttischchen. Ihren gellenden Schrei, als sie zum ersten Mal in die beiden Augenhöhlenpaare blickte, werde ich mein Leben lang nicht vergessen. Sie hat mir angedroht, nie wieder mein Bett zu machen, wenn ich dieses Horrorkabinett nicht sofort verschwinden lassen würde. Ich habe ihr dann in bestmöglicher Coolness gesagt: „Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wir bleiben – alle drei – oder wir gehen zusammen – alle drei!“

      Wir einigten uns auf die Unterbringung der Schädel im Regal. Dann müsse sie sich beim Bettenmachen wenigstens nicht so anstarren lassen. Das Silbertablett wollte sie nie mehr zurückhaben. Okay, ich habe meiner Mama noch versprechen müssen, dass ich damit keinen Okkultismus betreibe, und sie sagte mir, dass Skelette oder Teile davon kein Spielzeug seien. Man müsse auch Toten gegenüber jenen Respekt zeigen, den sie zu Lebzeiten schon verdient hätten.

      „Alles klar, Mama“, habe ich gesagt. „Ich hatte auch nie vor, mit den beiden zu spielen!“

      Seit diesem Tag genießen die beiden Schädel – sie heißen nun Fred und Barney (wie die Hauptfiguren aus der „Familie Feuerstein“) – bei mir im Regal ihre vorletzte Ruhe. Nik hatte mir noch gesagt, dass es sich aller Wahrscheinlichkeit nach, aufgrund der ebenfalls entfernten Grabinschriften, um männliche Exponate handeln würde, aber so genau wisse er es nicht mehr, da sie sich schlecht voneinander unterscheiden lassen. Gelegentlich nehme ich sie hervor, entferne den Staub, poliere ihre Schädeldecken auf Hochglanz und bestaune immer wieder ihre wunderbare naturgegebene Struktur. Ich nehme an, dass ich damit genügend Respekt zeige.

      Es ist nicht so, dass ich persönlich Todessehnsüchte hege. Aber ich liebe das Morbide, das Vergängliche. Alles Leben entsteht aus Dreck und Schlamm. Aus steriler Reinheit kann nichts Schlaues entstehen. Es ist doch so, dass gerade menschliches Leben sich aus Schleim entwickelt, und wenn wir sterben, verbreiten wir einen so gotterbärmlichen Gestank, dass sogar die meisten Tiere einen großen Bogen um uns herum schlagen würden, wenn es nicht die Arbeit der Totengräber gäbe.

      Aber wie gesagt: Alles, was mich an die Endlichkeit des Lebens und letztlich an meine eigene Vergänglichkeit, ja meine eigene Unvollkommenheit erinnert, übt auf mich eine geradezu magische Faszination aus, der ich mich kaum entziehen kann. Und ich liebe diese Dinge, weil sie einen wunderbaren Kontrast zu unserer allgegenwärtigen, zur Perfektion neigenden Glanz-und-Gloria-Gesellschaft setzen.

      In unserer Stadt, gleich hinter dem Bahnhof, gibt es ein Tattoostudio. Als Schulkind war mir der Laden nie geheuer. Opa hat mir erklärt, dass dort nur Seefahrer, Kriminelle und Huren verkehren. Ich habe mich oft gefragt, warum Opa die Seefahrer und Kriminellen in den gleichen Topf wirft. Sind denn alle Seefahrer gemeingefährlich? Oder anders gefragt: Was haben sie gemeinsam? Ich brauchte einige Jahre der Reifung, bis ich zur Erkenntnis gelangt bin, dass es die unterschiedlichen Lebensphilosophien der Menschen sind, die im Bewusstsein ihrer eigenen Individualität einen Lebensweg einschlagen, der sich so sehr vom breit getrampelten Pfad der Masse abhebt und letztlich mit der Flucht aus dem ausgeleierten Tretrad der Banalitäten endet.

      Nur mit Charly zusammen brachte ich den Mut auf, jeweils nach Schulschluss dieses sonderbare Lokal aufzusuchen. Wir drückten meist vergebens unsere Nasen an den abgedunkelten Schaufenstern platt. Wenn dann gelegentlich die Tür offen stand – und der Tattoomeister uns einmal nicht mit Schimpf und Schande eingedeckt in die Flucht trieb –, erhaschten wir einen kurzen Blick ins Innere des Studios und waren zunächst einmal erstaunt darüber, keinen Vorhof zur Hölle vorgefunden zu haben. Klar, als zartes Jüngelchen ohne jegliche Lebenserfahrung reagierte ich mit gemischten Gefühlen, zwischen kindlicher Neugierde, Ekel und Faszination hin- und hergerissen. Das Gruselkabinett umfasst auch heute noch alles, von Totenschädel (menschlichen und tierischen Ursprungs) über weiteres Anschauungsmaterial, Fachliteratur, Zeichnungen, Fotos sowie – besonders beeindruckend – diverse Airbrush-Darstellungen von HR Gigers Biomechanoiden, die die Wände des Studios zieren.

      Das waren die ersten Kontakte mit den Schöpfungen dieses eigenwilligen Künstlers. Natürlich kannte ich „Alien“, obwohl mir meine Mutter untersagte, diesen Film anzuschauen. Ich sei noch zu jung, begründete sie. Okay, damals war ich zwölf. Aber wie bereits erwähnt, halfen mir Charly und sein Computer weiter. Damit war meine Neugierde kaum mehr zu bändigen. Schnell konnten mich die Bilder aus dem Internet nicht mehr befriedigen, weshalb ich mich entschloss, mein Glück in der Stadtbücherei zu suchen, und prompt auch fündig wurde. Von einem schweren Bildband mit großformatigen Fotos fühlte ich mich besonders angesprochen. Sehr zum Erstaunen der Büchereileiterin musste ich das Werk sicher ein halbes Dutzend Mal ausleihen, bis ich es durchgearbeitet hatte. Aber so konnte ich wenigstens die horrenden Kosten für die Neubeschaffung eines solchen Buches umgehen.

      Gigers Bilder habe ich sprichwörtlich in mich hineingefressen. Seine gynäkologischen Landschaften versetzten mich in fremde extraterrestrische Welten, besser als es jeder Science-Fiction-Film geschafft hätte. Besonders angetan war ich von seinen albtraumhaften larvalen Kreaturen, die mich in meiner Kindheit tatsächlich gelegentlich in meinen Träumen – und ich hatte damals öfters höchst bizarre Träume – heimsuchten.

      Erst viel später begann ich den Sinn und die Botschaft dieser Darstellungen zu verstehen. So entdeckte ich zum Beispiel in unserem Garten eine potthässliche Raupe, die sich über Opas Salatköpfe hermachte. Anstatt sie zu vernichten, bewahrte ich sie, zusammen mit etwas Grünzeug, in einem leeren Einmachglas auf und präsentierte sie Charly, wo wir uns ausgiebig über Sinn und Zweck von Metamorphosen unterhielten.

      „Stell dir einmal vor“, begann ich zu philosophieren, „wenn sich dieses hässliche Ding einmal verpuppt und daraus ein wunderschöner Schmetterling entsteht – welch wundervolles Geschöpf müsste dann erst aus dem Menschen hervorgehen, wenn dereinst sein Körper, diese unvollkommene, nackte und anfällige Larve, stirbt und zu Staub zerfällt?“

      „Hmm …“, machte Charly und zuckte die Schulter. „Ich weiß nicht. Aber der Gedanke, dass uns im Jenseits vielleicht doch so was wie Flügel wachsen, mit denen wir uns frei im Kosmos bewegen können, hat etwas Faszinierendes.“

      „Ja, genau das meine ich! Wir sollen unsere Blicke nach oben richten, denn dort befindet sich das Erhabene, dort ist unsere Zukunft!“

      „Meinst du wirklich? Ich sehe nur deine vergilbte Zimmerdecke mit einem verstaubten Lampenschirm darunter.“

      Charly grinste mich an und für eine Sekunde reagierte ich verwirrt. Ich war mir nicht ganz im Klaren, ob er nun ein Dorftrottel war oder nur einen spielte und mich absichtlich provozieren wollte.

      „Doch nicht so, du Döspaddel! Himmelwärts blicken sollen wir. Ins All hinaus!“

      Symbolisch breitete ich meine Arme seitlich aus, wie Flügel. Aber Charly hatte mich auch so verstanden.

      „Wir müssen die Erde einfach als Basecamp für unsere interstellaren Kreuzfahrten betrachten. Im Grunde ist der ganze Globus ein einziges Raumfahrtzentrum.“

      „Ach, das dauert ja noch Jahrzehnte, bis der Mensch so weit ist“, gab Charly zu bedenken.

      „Nein, nicht so! Ich meine ohne Space Shuttle und Raumanzüge. Ich denke,