Robert S. Bolli

Gefangen im Gezeitenstrom


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Sobald die Tage jedoch kälter werden, drängt es ihn, im Haus zu bleiben. Meine Mum quittiert es mit diskreditierenden Blicken und oft deckt sie Opa mit einem Wortschwall auserlesener Flüche und weiteren Obszönitäten ein. Opa wiederum grunzt und schnaubt, murmelt etwas wie „Dumme Kuh!“ und trollt sich mit seiner geliebten Pfeife ins Bad. In der Kommode, die in der kleinen Stube steht, hortet er eine bescheidene Sammlung dänischer und holländischer Tabakpfeifen, deren Formenvielfalt mich schon als Kind stets fasziniert hat. Damals hat er mir auch gezeigt, wie man die Pfeifen korrekt stopft. Er verwendet bis heute unter anderem diese fein geschnittenen, parfümierten holländischen Tabake, die ich wegen ihres süßlichen Aromas besonders mag.

      Vor ein paar Jahren habe ich, zusammen mit Charly, unseren Einstand als frischgebackene Teenager gefeiert, indem ich eine von Opas Pfeifen und eine Dose Tabak aus der Schublade klaute und Charly seinen Beitrag in Form eines kleinen, weißen Leinenbeutels leistete, mit etwas Getrocknetem darin, das er Mariejohanna oder so ähnlich nannte. Dass es sich tatsächlich um Marihuana handelte, das er seinem Alten abgeluchst hatte, erfuhr ich erst später. Jedenfalls sind wir eines Abends bei Wind und Wetter losgezogen. In einem alten Bushäuschen einer aufgehobenen Linie haben wir es uns gemütlich gemacht, so gut es ging. Wir haben alles ausprobiert. Zuerst nur Tabak, dann nur Gras, dann gemischt. Dazu tranken wir geklautes Dosenbier. Anschließend mussten wir zwar kotzen, aber – und das war das Wichtigste – danach fühlten wir uns großartig. In dieser Nacht waren wir unsterblich! Trotzdem haben wir beide die Sache mit der Pfeife schon bald aufgegeben. Das Herumschleppen aller Raucherutensilien schien uns doch zu aufwändig. Außerdem stieß etwas später noch Kai-Uwe zu unserer Clique, der seinen Einstand in derselben mit einer Shishaparty in der Attikawohnung feierte, mit einer reich verzierten Wasserpfeife, die er Ali, dem der Dönerladen beim Bahnhof gehört, für etwas mehr als ein Taschengeld abgerungen hatte.

      Opas dürftige Beschäftigungen können in keiner Weise verhindern, dass er langsam, aber stetig in ein schwarzes Loch tiefster Depressionen fällt, aus dem er nie mehr herausfinden wird. Mit zunehmendem Medikamentenkonsum muss sich offenbar auch sein Verstand allmählich verabschiedet haben. Seit etwa zwei Jahren spricht er des Öfteren mit Oma. Und wenn gelegentlich ein Hauch von Bewusstsein die Schleier durchdringt, die seinen Geist umnebeln, setzt er weiterhin unerbittlich seine Monologe mit sich selbst fort. Vielleicht ist das auch ganz okay. So kann er wenigstens den grauen Alltag und seine triste Einsamkeit mit etwas Farbe überpinseln. Das ist jedenfalls meine Meinung. Kosmetik ist allemal besser als gar nichts. Denn Peter hat keine Freunde mehr. Alle haben sich rar gemacht, wollen nichts mit einem psychisch Kranken zu tun haben. Eigentlich hat er nur noch Gertrud, so heißt meine Mutter, und mich und seine Erinnerungen. Gespeicherte Essenzen. Konzentrat eines gelebten Lebens, und doch nur verblassende Gedanken, verebbende Wellen, verflüchtigend wie Parfüm auf spröder Haut.

      Klar bekommt er vom Unternehmen eine für seine Verhältnisse recht ansehnliche Rente, jedoch weder die Erinnerungen noch sein Stolz können verhindern, ja, können in keiner Weise die Tatsache überspielen, dass er ein Opfer der Sparmaßnahmen ist. Gesundschrumpfen nennt man das in Fachkreisen. Es gebe keine Entlassungen, hieß es damals aus der Direktionsetage. Man wolle die wirtschaftlichen Ziele durch natürliche Abgänge erreichen. In Wahrheit wurden die Arbeitsbedingungen derart unattraktiv gestaltet, dass so mancher freiwillig und vorzeitig das Handtuch schmiss. Ich nenne das aus dem Betrieb wegamputiert, als gelte es, angeblich gesundes Fleisch vor dem Verfaulen zu bewahren.

      Das einzig Richtige, was mein Opa noch vor seinem Fall in die Dunkelheit getan hat – also noch zu Lebzeiten von Hannelore – war der günstige Erwerb der Liegenschaft, um sich und der Familie so die Existenz oder wenigstens die Grundlage dazu zu sichern.

      Kurz nach dem Tod von Hannelore packte Gertrud, seine einzige Tochter, die Gelegenheit beim Schopf und zog ins Haus ein. In der linken Hand einen großen Koffer schleppend, mit der rechten einen Kinderwagen schiebend. Der Koffer enthielt ihre Klamotten und ein paar Habseligkeiten, der Typ in der Karre war ich. Für meine Mum – wie ich Mutter seit einem Jahr nun nenne – war der Umzug zu Opa damals sicher die einfachste Lösung, aber für sie auch die schlechteste.

      Eigentlich wäre sie eine blitzgescheite Frau. Ja, sie wäre intelligent genug gewesen, die Matur zu schaffen. Sie hätte alle Möglichkeiten gehabt, zu studieren – Sprachen, Medizin, Reisen, die Welt zu entdecken und vielleicht im fernen Afrika in irgendeinem Buschkrankenhaus als Krankenschwester zu dienen. Vielleicht einmal eine eigene Praxis, eine eigene Pflegestation zu gründen, damit auch die verarmte Bevölkerung auf dem Lande eine medizinische Grundversorgung erhalten würde.

      Gewiss hätte sie einen tollen Kerl heiraten können. Einen von der Uni. Einen Akademiker. Vielleicht einen Arzt oder einen Juristen. Eventuell einen Archäologen. Jedenfalls so einen gescheiten Typen, mit dem sie auch Abenteuer hätte bestreiten können. Einen, der ihre Interessen wahrgenommen hätte. Einen, der sie auf ihren Reisen um den Globus begleitet hätte; und ins Theater oder ein Konzert. Einen, mit dem sie auch einmal hätte zanken können. Einen, der auf den Tisch gepoltert und deutlich seine Meinung gesagt hätte. Aber auch einen, der hätte scherzen können; und der sie zärtlich in die Arme genommen, liebkost, geküsst und geliebt hätte.

      Stattdessen beging sie den größten Fehler ihres Lebens und band sich an diesen widerlich schleimigen Typen, einen Versicherungsagenten, dessen Namen ich nie, trotz all der Jahre ohne ihn, vollständig aus meinem Gedächtnis werde tilgen können, mit dem sie kurz nach der Trauung, in einem Anfall von jugendlicher Naivität, mich gezeugt hatte. Manche mögen es Unfall nennen. Ich betrachte die ganze Beziehung, so kurz sie auch dauerte, nicht nur als unglücklich, in Tat und Wahrheit war sie die reine Katastrophe.

      Ein paar Monate später – ich glaube, ich war damals etwa ein halbes Jahr alt – angelte sich Alex, so nennt jedenfalls meine Mum diesen ekligen Speichellecker noch heute, wenn sie von ihm spricht, eine Geliebte, mit der er auch öfters verkehrte, bis die Affäre ans Licht kam. Die junge Gumsel gab Alex den Übernamen Lexus. Ich weiß nicht, ob das ein Hinweis auf die viele Kohle war, die ihr Lover bei der Agentur gewiss machte, die noblen Geschenke, mit denen er sie regelmäßig beehrte, oder doch eher symbolisch gedacht war, für die edle Schale mit der harten Stoßstange. So oder so, als ich den Spitznamen zum ersten Mal bewusst wahrnahm, sank der Sympathiegrad für meinen Samenspender blitzartig unter den Gefrierpunkt.

      Mum und Alex trennten sich erst probehalber, dann vorübergehend, letztlich definitiv. Mein Erzeuger festigte seinen üblen Charakter, indem er sich für das Vergnügen entschied und Mum und mich aus der Wohnung hinauswarf. Die amtliche Scheidung besiegelte dann nur noch das Ende eines miesen Schaustücks.

      Das war der Augenblick, in dem sie zu rauchen und zu trinken begann. Nicht besonders viel, aber immer öfter.

      Kurz darauf folgte die Einladung von Peter, zu ihm ins halb leer stehende Eisenbahnerhäuschen zu ziehen. Und sie beging den zweiten großen Fehler ihres Lebens.

      Gertrud ließ sich dazu herab, den ganzen Haushalt und Peters Betreuung zu übernehmen. Für ein bis zwei, allerhöchstens für drei Jahre, stellte sie sich damals wahrscheinlich vor. Und bestimmt nicht unentgeltlich. Ein bisschen mehr als nur Taschengeld müsste schon drin sein. Aber mittlerweile ist aus dem einst rüstigen Frührentner ein alter gebrechlicher Mann geworden, der vorzeitig an Demenz erkrankt ist und dennoch überhaupt nicht ans Abtreten denkt. Und sie begann sich mit ihrem Dasein als Haushälterin und Hobbypflegerin abzufinden. Ja, sie fühlt sich wohl in ihrer Rolle. Sie wird gebraucht. Sie blüht regelrecht auf, in ihrer für sie eigenen Art. Nun ist sie es, die allen, erfüllt mit Stolz, ihren Alltag schildert. Sie erzählt jedem von ihren körperlichen Strapazen und dem bürokratischen Aufwand, die ihr neuer Job so mit sich bringt.

      Gelegentlich half Peter beim Unterhalt des kleinen Gartens, der das Haus umgibt, noch mit. In früheren Jahren pflegte er zusammen mit Hannelore einen recht ansehnlichen Gemüse- und Blumengarten, der zu seinen besten Zeiten in der ganzen Nachbarschaft für helle Begeisterung sorgte. Peter erledigte die Grobarbeiten, wie den Boden umgraben, Kartoffeln anbauen, Sträucher schneiden und vieles mehr. Hannelore und die damals noch kindliche Gertrud hingegen waren für die Blumenrabatten und weitere Feinarbeiten zuständig. Das Jahr begann jeweils mit Blaukissen, Steinkraut und vielerlei Zwiebelgewächsen. Dann blühten gelbe Rudbeckien und lila Phlox um die Wette