Hertha Kratzer

Alles, was ich wollte, war Freiheit


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Kunststück, das ihr Engagements in aller Welt einbringt, gibt es hin und wieder Verletzungen, was aber die Spannung und Bewunderung des Publikums nur steigert. Im „Zirkus Moritz Blumenfeld“ gibt sie täglich drei Vorstellungen von je einer halben Stunde, eine gewaltige Anstrengung und Leistung sowohl für die Dompteuse wie auch für die Tiere.

      Miss Senide kleidet sich extravagant, liebt Fantasieuniformen und zeigt ihre Beine in Strumpfhosen und hohen Stiefeln wie ihre männlichen Kollegen. In Paris tritt sie in exotisch-freizügigem Kostüm im berühmten „Cirque d’Hiver“ auf, anschließend tourt sie durch Großbritannien und Irland. In Dublin kommt es am 3. Februar 1887 beinahe zur Katastrophe. Die Tierbändigerin soll bei einer Vorführung fotografiert werden, doch gerade in dem Moment, als sie den Kopf in den Rachen ihrer Löwin Fatima legt, geht das elektrische Licht aus, das damals in den Zirkusbauten noch eine Neuheit war. Die Löwin erschrickt und beißt zu. Schwer verletzt kann sich die Dompteuse aus dem Käfig retten. Sie erinnert sich:

       Miss Senide am Höhepunkt ihrer Karriere

      „Ich saß in einer kleinen Ecke vis-à-vis dem Käfig bei der trüben Gasflamme in meinem blutüberströmten Kostüm; die Tochter des Direktors hatte mir ihren Mantel über die Knie gebreitet und weinte bitterlich, neben mir kniend, und der arme Fotograf lief bald wie wahnsinnig auf der Bühne umher, bald flehte er mich wieder an, ihm zu verzeihen. Der Doktor hielt jetzt prüfend seine Nadeln an die Gasflamme, um die passendste auszusuchen. Dicht vor mir im Käfig stand die andere Löwin ,Cora‘ und wandte keinen ihrer Blicke von mir ab. Diese Situation zu beschreiben ist gar nicht möglich. Ich war kaum einundzwanzig Jahre alt und allein im fremden Lande. In dem festen Glauben, vollständig entstellt zu sein, wurde ich noch durch das Weinen und Jammern der Anwesenden bestärkt. Keine Träne und keinen Laut hörte man von mir. ,J’étais mortifié!‘ Dies ist wohl so zu erklären: Eine Stunde vorher glückstrahlend in der Mitte meiner Zöglinge beifallsumrauscht und dann blutüberströmt gegenüber den murrenden Tieren unter den Händen des Chirurgen.“6

      Trotz der schweren Verletzungen im Gesicht und am Hals tritt sie nach kurzer Zeit wieder auf. Zum Glück ist ihr Gesicht nicht entstellt, denn neben der künstlerischen Leistung zählt in der Manege – ganz besonders bei Frauen – auch die physische Attraktivität. Eine Artistin mit entstelltem Gesicht ist ihr Engagement und damit ihre Existenz los. Mit verbundenem Gesicht absolviert sie erste Vorführungen, dann folgen Tourneen nach England und Russland. 1891 nimmt sie ein Engagement im „Circus Salamonsky“ auf, in Warschau gastiert sie mit dem „Grand Cirque français J. Godfroy“. Ihre größte Tiergruppe besteht aus neun Löwen, einem Tiger, einem Leoparden und einem Bären. Mit achtundzwanzig Jahren, Ende 1894, Anfang 1895, gründet Miss Senide ihren eigenen Zirkus und bereist mit ihm Russland und Asien. Um 1896 befindet sich der „Circus Miss Senide“ in Stawropol in Russland, 1904 reist sie mit Löwen, Leoparden, Hyänen, Wölfen und Bären durch Aserbaidschan.7

      LEBENSABEND IN WIEN

      Über ihre späteren Jahre ist wenig bekannt. Nach einigen Quellen heiratet sie in St. Petersburg einen ehemaligen Athleten namens Wagner, Besitzer des „Circus Ciniselli“. Er ist vermutlich um 1900 verstorben. Sie kehrt nach Wien zurück und tritt im Zirkusgebäude des Zirkus Busch auf, doch ihre Vorführungen sind nicht mehr die Sensation, die sie früher waren. Manchmal decken die Einnahmen nicht annähernd die Ausgaben für das Tierfutter. Ihre große Zeit ist vorbei. Miss Senide adoptiert den Hundedresseur Joseph H. Günther und übernimmt nach dem Tod ihrer Mutter deren Schnellfotografiesalon im Wiener Prater. Am 9. November 1923, kurz nach ihrem siebenundfünfzigsten Geburtstag, stirbt Miss Senide in Wien und wird auf dem Matzleinsdorfer Friedhof neben ihrer Mutter bestattet. Auf dem Grabstein steht unter ihrem Namen: „Gew. Tierbändigerin Miss Senide.“ Ein friedlich schlafender Löwe aus Stein liegt auf dem Grabdeckel. Joseph H. Günther hat ihn ihr zu Ehren anbringen lassen.

       Tilla Durieux

      DIE HÄSSLICHE DIVA

       1880 – 1971

      „Mit dem Ponem8 wollen Sie zur Bühne? Lernen Sie lieber kochen!“9 Das hört die junge Tilla Durieux 1901 vor ihrem ersten Auftreten am königlich-städtischen Theater zu Olmütz von Theaterdirektor Stanislaus Lesser. Lessers drastisches Urteil ist vom Geschmack der Zeit diktiert. Die damals einundzwanzigjährige Schauspielerin ist kein süßes blondes Mädel mit Kulleraugen und herzigem Kirschmund. Ihr Teint ist dunkel, die schwarzen Haare umrahmen eine slawisch anmutende Gesichtsform, man attestiert ihrem Aussehen eine gewisse Exotik, ja Wildheit, aber keineswegs Schönheit. Auch später, als sie bereits auf den Bühnen Max Reinhardts reüssiert, schreibt ein Kritiker einer Berliner Tageszeitung nach einer Aufführung von „Gyges und sein Ring“:„Wenn man so hässlich ist, soll man nicht die Rhodope spielen.“10 Noch deutlicher drückt sich eine Autorin der Württemberger Zeitung in ihrer Kritik von Shakespeares „Cleopatra“ aus: „Sie ist unschön; platt gedrückte Nase in hagerem Gesicht, unadelige Gestalt, sehr schlechte, gebeugte Haltung, am unköniglichsten von allen ist diese Königin.“11

      Dennoch gehört Tilla Durieux zu den meistporträtierten Frauen ihrer Zeit: Auguste Renoir, Emil Orlik, Max Liebermann, Olaf Gulbransson, Franz von Stuck, Hermann Haller, Georg Kolbe, Oskar Kokoschka und andere haben sie gemalt. Für Ernst Barlach, der von den Nationalsozialisten später unter die „entarteten Künstler“ gereiht wird, war sie Modell zahlreicher Porträtbüsten, auch Hermann Haller, Hugo Lederer und Götz Löpelmann haben Büsten von ihr angefertigt.

      EIN „MÄDCHEN AUS GUTEM HAUSE“ WIRD SCHAUSPIELERIN

      Der richtige Name der 1880 in Wien geborenen Tochter eines Chemieprofessors und einer ungarischen Pianistin lautet Ottilie Godeffroy de la Rochelle. Da sie trotz heftigen Widerstands der Mutter – der Vater war verstorben, als sie vierzehn Jahre alt war – darauf bestand, Schauspielerin zu werden, musste sie aus Gründen der Familienehre ihren Namen gegen den ihrer Großmutter tauschen. Sie nannte sich nun Tilla Durieux.

      „In Wien, wo ich alsda geboren aufwuchs, gab es acht Schulklassen für Mädchen. Weitere Bildung wurde dem Geschmack und dem Geldbeutel der Eltern überlassen“,12 erzählt Tilla Durieux in ihren Erinnerungen. Die Mutter will aus der Tochter eine Pianistin oder zumindest eine Klavierlehrerin machen, sie auf einen bürgerlich akzeptablen Beruf vorbereiten und zwingt sie, täglich vier Stunden zu üben. Tilla hasst das Klavier, das ihr täglich vier Stunden Kindsein raubt, aber sie liebt es, wenn die Mutter spielt. Dann tanzt sie im Nebenzimmer, fühlt sich als Prinzessin oder Fee, erfüllt sich Wünsche in Tagträumen. Denn ihre Kindheit ist einsam. Sie wächst allein, ohne Geschwister auf. Noch als alte Frau wird sie von ihrer „einsamen, in Träumen versponnenen Kindheit“13 sprechen. Besuche im Wiener Burgtheater wecken in ihr den leidenschaftlichen Wunsch, Schauspielerin zu werden. Sie will ausbrechen aus der Enge ihrer bürgerlichen Herkunft in eine Welt, in der sich das Leben abspielt, buntes, facettenreiches Leben mit den Höhen und Tiefen, die sie sich in ihrer Fantasie ausmalt. Sie nennt es später ein „krankhaftes Sehnen nach einer anderen Welt, die doch irgendwo stecken musste. Einer Welt voller Geheimnisse und zugleich voller Wahrheit.14“

      Als sie der Mutter diesen Wunsch gesteht, schlägt ihr „die fassungslose Frau“ ins Gesicht. Den Beruf einer Schauspielerin assoziiert man zu jener Zeit mit Oberflächlichkeit, Libertinage, sogar mit Prostitution, auf keinen Fall aber mit der Zukunft einer „höheren Tochter“. Die angebliche Freiheit der Schauspielerin wird als Bedrohung des Sittenkodex empfunden, der bürgerlichen Ehefrauen, vor allem aber den Töchtern auferlegt ist. „Nicht nur der Kreis meiner Eltern, sondern die ganze Welt hatte zu dieser Zeit andere Ansichten über die Erziehung junger Mädchen als heute. (…) Wenn einen Beruf auszuüben an sich schon damals für ein