Hertha Kratzer

Alles, was ich wollte, war Freiheit


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der Margarethenstraße mit Bibliothek, Steinway-Flügel und Gemälden von Manet, Renoir, Cézanne und van Gogh wird zum Treffpunkt der künstlerischen Avantgarde. Sie ist glücklich, Pauls Frau zu sein, genießt die Kontakte mit Künstlern und linken Intellektuellen, verspürt aber bald auch die Schattenseiten dieser Ehe. Paul Cassirer, narzisstisch und jähzornig, ist patriarchalisch anspruchsvoll, verlangt von Tilla, dass der Haushalt problemlos funktioniert und er seinen Aktivitäten ungehindert nachgehen kann. Dass auch sie einen Beruf hat und dafür hart arbeitet, interessiert ihn nicht. Ebenso wenig interessiert es ihn, dass sie oft stundenlang auf ihn wartet und dann weinend zu Bett geht, wenn er mit seinen Künstlerfreunden nächtelang debattiert und dabei vergisst, dass er mit ihr verabredet war. Auch wenn er sie immer wieder melodramatisch seiner Liebe versichert, gibt er seine zahlreichen Affären nicht auf, verfolgt Tilla aber mit quälender Eifersucht. Dennoch sagt sie, dass sie nie einen Menschen so geliebt habe wie ihn.

      „Ich verdanke Paul Cassirer die schönsten und die bittersten Stunden, meine geistige Entwicklung, meine wachsenden Erfolge an der Bühne, eine unendliche innere Bereicherung, aber auch den tiefsten Kummer. Meine Augen hatten durch ihn die Herrlichkeit der Welt gesehen, aber auch die verzweifeltsten Tränen geweint.“29

      EINE MODERNE SCHAUSPIELERIN

      Acht Jahre ist Tilla Durieux eine von Max Reinhardts wichtigsten Darstellerinnen. Zu ihren bedeutendsten Rollen zählen selbstbewusste Frauengestalten, etwa die Wassilissa in Gorkis„Nachtasyl“, die Klytämnestra in„Elektra“ von Sophokles, Lady Milford in Schillers „Kabale und Liebe“ und die Kunigunde in Kleists „Käthchen von Heilbronn“. Die Prinzessin Eboli in„Don Karlos“ wird von ihr erstmals als normaler, leidenschaftlicher Mensch gezeigt. Statt Effekthascherei wird das Ringen um Echtheit und Wahrheit spürbar. Eine ihrer Glanzrollen ist auch die Judith in Friedrich Hebbels gleichnamiger Tragödie.

      Trotz dieser Erfolge hat sie Bedenken, ihren auslaufenden Vertrag mit Reinhardt zu verlängern. Sie ist verstimmt, dass er ihr die Rollen der Penthesilea in Kleists Drama und die der Hedda Gabler in Ibsens Stück vorenthält und ihrer Konkurrentin Gertrud Eysoldt zusagt, was ihrer Meinung nach einer Fehlbesetzung gleichkommt. Außerdem scheint Reinhardt aufgrund seiner Erfolge nachlässig geworden zu sein. Der Betrieb der „Kammerspiele“ und des „Deutschen Theaters“ bedingt Komplikationen, sodass manchmal Szenen gekürzt oder gestrichen werden müssen. Tilla Durieux bemängelt auch, dass Schauspieler oft verunsichert oder gegeneinander ausgespielt würden. Ihre letzte Vorstellung bei Reinhardt endet allerdings mit einem Triumph des Regisseurs und der Schauspieler.

      Reinhardts Ziel ist die Wiederbelebung des griechischen Theaters, aber nicht für ein elitäres, sondern für ein Massenpublikum. Als Schauplatz für die Tragödie „Ödipus“ von Sophokles in der Bearbeitung von Hugo von Hofmannsthal wählt er das Gebäude des „Zirkus Schumann“ mit fünftausend Sitzplätzen. Er will eine Kunst mit monumentaler Wirkung. Die Szenerie stellt an die Schauspieler schon rein stimmlich größte Anforderungen, auch ist es mühevoll, sich in dem Großraum zurechtzufinden, doch das Wagnis gelingt. Die Durieux als Jokaste, Alexander Moissi als Teiresias und Paul Wegener als Ödipus werden vom Publikum frenetisch bejubelt. Die Kritik beurteilt Reinhardts Experiment der Masseninszenierung allerdings zwiespältig. 1912 wechselt Tilla Durieux zu Otto Brahm, Max Reinhardts Rivalen, ans „Lessingtheater“. Nun spielt sie die Hedda Gabler, und zwar in der Überzeugung, dass auf der Bühne kein Stil, keine Mode existiere, sondern nur klare Menschlichkeit. Sie deklamiert nicht, sondern bringt einen neuen, zeitgemäßen Ton auf die Bühne, sie ist auch nicht auf einen bestimmten Typus spezialisiert.

      Heinrich Mann, einer ihrer vielen Bewunderer, charakterisiert ihre Vielseitigkeit auf der Bühne folgendermaßen: „Sie hat alles, was modern heißt: Persönlichkeit, erarbeitet und wissend, nervöse Energie und die weite Schwungkraft des Talents. Ein Varietémädchen, das vor Geld- und Liebesschmerzen in groteskes Geheul ausbricht, und Judith, tragisch klagend um ihr Volk: Beides ist Tilla Durieux, und alles, was dazwischen liegt, Weltdame, Kaiserin, Luder, Heldin der Zeit, Heldin der Nerven.“30

      Heinrich Mann ist auch überwältigt von dem komischen Talent der Durieux, vor allem von ihrer Darstellung in seinem Einakter„Varieté“. Ihr Sinn für das Komische führt sie immer wieder auch zur Kleinkunst, in die Brettl-Welt. So brilliert sie im „Kabarett der Namenlosen“ mit Friedrich Hollaender am Klavier als wasserstoffblonder Hase mit Perücke und in einem rosa Seidennachthemd mit den frechsten Gassenhauern. Die neue Generation der Schauspielerinnen ist nicht mehr auf ein bestimmtes Rollenfach wie Naive, Sentimentale oder Femme fatale festgelegt, auch nicht auf das Fach der Komikerin oder der Tragödin. Diese neuen Schauspielerinnen, für die Tilla Durieux das beste Beispiel bietet, können alles spielen. Höhepunkte ihrer Darstellungskunst, mit der sie mit erstarrten Konventionen bricht, sind die Franziska in Frank Wedekinds gleichnamigem Stück und die Katharina in Max Dauthendeys „Spielereien einer Kaiserin“.

      Der Avantgardist Erwin Piscator, dessen Bühne im Theater am Nollendorfplatz mithilfe der Durieux und ihres dritten Ehemanns, dem Großindustriellen Ludwig Katzenellenbogen, finanziert wurde, bestätigt:

      „Sie war niemals nur der Typ, der besondere Ausdruck einer bestimmten Zeit, einer bestimmten Theater-Epoche – niemals passée, wie so viele, die neben ihr standen. In ihrer bis heute mehr als sechzigjährigen Bühnenlaufbahn, an deren Beginn noch der Naturalismus stand, und an deren derzeitiger Strecke das absurde Theater schon nicht mehr steht, hat die hektische Art der Stile sie nie zu überrennen vermocht. Da ,Stil‘ gewöhnlich nur die Kultivierung eines Mangels, ein Substanz-Ersatz ist, hat Tilla Durieux es nie nötig gehabt, zu stilisieren. Eher sprengte sie den Rahmen, wenn der Rahmen um sie zu eng gezogen war. Das ist das ,Exotische‘ an ihr, wenngleich ihr dieses Attribut meist nur in äußerlichem Sinne zuerkannt wurde.“31

      Sie unternimmt zahlreiche Gastspielreisen, zuerst nach St. Petersburg, dann nach München, Wien und Prag. Nach Otto Brahms Tod 1912 schließen sich die Schauspieler zusammen, um das Theater weiterführen zu können. Als Direktor wird der renommierte Schauspieler Paul Wegener gewählt, für den Beirat schlägt Tilla Durieux die Schauspielerin Lucie Höflich und sich selbst vor. Sich selbst, weil sie glaubte, mit ihren Verbindungen zu Künstlerkreisen finanziell am meisten beisteuern zu können, und Lucie Höflich, damit auch eine zweite Frau vertreten ist. Sofort nach diesem Vorschlag regt sich bei den Männern Widerspruch. Frauen seien nicht geeignet, ein Amt zu bekleiden, lautet die Begründung. Auf Tillas Einwurf, dass gerade am Theater wie nirgendwo sonst die Leistungen von Frauen und Männern gleichzustellen seien, werden die Protest noch stärker. Mit der Frage, warum man sie nicht für unfähig gehalten hatte, Geld aufzutreiben, verlässt sie die Versammlung. Sie verlangt ihren Austritt, stößt aber wieder auf Widerstand, es wäre unkollegial, jetzt das Ensemble zu verlassen, wird ihr entgegengehalten. Sie bleibt und nachdem Victor Barnowsky Nachfolger Otto Brahms am Lessingtheater geworden war, spielt sie die Eliza Doolittle in „Pygmalion“ von Shaw. „Ich hatte mir für den ersten Akt einen Dialekt zurechtgemacht, der als ,Hernalserisch‘ in Wien wohlbekannt ist“, erzählt sie in ihren Erinnerungen, „in Berlin jedoch die Leute fremd und außerordentlich komisch anmutete.“32

      KRIEGSBEGEISTERUNG UND PAZIFISMUS

      Ein Herzenswunsch Tillas geht 1914, noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in Erfüllung – von Auguste Renoir gemalt zu werden. Der bereits gelähmte Maler wird im Rollstuhl von einer Pflegerin ins Atelier geschoben und nimmt mit seinem Interesse am Berliner Theaterleben der Schauspielerin die Befangenheit. Denn wieder hatte sie das Gefühl übermannt, nicht schön oder nicht schön genug zu sein. Diese Unzufriedenheit verschwindet, und während der Unterhaltung macht Renoir eine Bemerkung, die für Tilla nach eigenen Angaben zum Schlüsselerlebnis wird: „Tragik wird immer falsch verstanden. Solange noch Tränen fließen, ist der Höhepunkt des Schmerzes noch nicht erreicht. Erst wenn der Mensch schon wieder lächelt, dann ist der Schmerz unüberwindlich und unendlich geworden.“33

      Jetzt erinnert sie sich, dass einige Kritiker an ihren Darstellungen die fehlenden Tränen bemängelt hatten, sie als „intellektuelle“ Tragödin bezeichnet und ihr als Person mangelnde Tiefe des Gefühls unterstellt hatten. Alfred Polgar hatte zu ihrer Interpretation der Maria Stuart geschrieben: „Das Defizit an Wärme