aufsuchten, wenn auch der hustende, krächzende, Schleim auswerfende Schwindsuchtskandidat zum Bilde des Bades gehörte. Er bewegte sich aber in den Wogen einer ihn nicht beachtenden, heiterbunten Lebewelt, die sich auf der Brunnenpromenade und in der dorischen Tempelhalle täglich mehrmals zusammenfand. Man übte damals noch eine selbstverständliche Duldsamkeit. Der Gesunde, der Leicht-, der Schwererkrankte wurden überall und so auch in der Preußischen Krone unbedenklich und wahllos aufgenommen.
Wie gesagt, die Fremden waren uns Kindern Halbgötter. Um ihretwillen wurden Berge von Fleisch verarbeitet, Frachtkisten mit Seefisch kamen, die besten Gemüse wurden für sie geputzt, die auserlesensten Früchte verarbeitet. Im Innern des Brunnenhofes, eines Logierhauses, das zum Bade gehörte und das mein Vater gepachtet hatte, war ein großes Steinbassin, aus dem man jederzeit mit dem Netz lebende Bachforellen fischen konnte. Dass des Abends Champagnerpfropfen im Saale knallten, war keine Seltenheit.
Alles dies ward von den Fremden beansprucht und, was mehr ist, von ihnen bezahlt. Sie kamen und lebten aus vollen Säckeln. So habe ich wohl sicherlich den Begriff von Geld und Geldeswert schon um jene Zeit gehabt und gewusst, dass es darauf ankam, möglichst viel davon in den Kassenbehältern des Gasthofs zurückzubehalten.
In Beziehung auf die Kinder von Kurgästen kommt mir ein sehr frühes Erlebnis mit Carl in Erinnerung. Man hatte im Vordergarten einen Baum gefällt, der kahle Stamm lag auf der Erde. Eng aneinander gequetscht wie Sperlinge, hatten wir Kleinen darauf Platz genommen. Vornan, allerdings hinter einem weißgekleideten Mägdlein mit bunten Bändern im offenen Haar, das er aus irgendeinem Grunde von rückwärts umarmt halten musste, saß Carl. Ich kam zuletzt als der Kleinste der Kleinen. Meine Ohnmacht brannte vor Scham und Eifersucht, mein Elend aber war darum so groß, weil ich meine Gefühle verschweigen musste. Ich erkannte deutlich die Lächerlichkeit, der ich Knirps sonst verfallen wäre.
*
Wir hatten anfänglich nicht die gleiche Schulzeit, Carl und ich, so machte jeder den Schulweg allein. Später, als ich in seine Klasse aufstieg, legten wir ihn gemeinsam zurück. Ich erkläre es mir als naiv-sadistischen Zug, dass mein Bruder mich manchmal hinten beim Kragen packte, wenn wir die Schule verlassen hatten, und mich, zu meiner Qual, wie einen Arretierten vor sich her nach Hause beförderte. Ich vermehrte dabei meine Leiden durch nutzlosen Widerstand.
Eines Tages auf dem Nachhausewege wurde mir Carls Betragen überaus wunderlich. Aus der Schule getreten, suchte er sogleich einen Ruheplatz, dann einen zweiten. Der Posthof, ein Kastanienhain, war mit hängenden Ketten zwischen niedrigen Granitpfeilern eingefasst: Carl suchte auf einer der Ketten Ruhe. Dann kam die Straße mit mehreren Prellsteinen: er schleppte sich von Prellstein zu Prellstein fort. So sind wir allmählich nach Hause gelangt. Eine halbe Stunde später erfuhr ich, dass meinen Bruder eine schwere Krankheit befallen habe.
Die Mutter weinte und stellte sich den denkbar schlimmsten Ausgang vor. Der Vater war ernst: man müsse sich auf alles gefasst machen, nur Gott könne wissen, ob wir Carl behalten würden oder nicht. Aber dennoch: er hoffe zu Gott.
Ich erlebte nun eine Reihe sorgenvoller Tage und auch Nächte mit, da ich zuweilen von meiner Schwester Johanna, als gelte es, von meinem Bruder Abschied zu nehmen, geweckt wurde oder auch von den Geräuschen erwachte, die, da eigentlich niemand im Hause schlief, die ganze Nacht nicht aufhörten. Mein Vater zog außer meinem Onkel, Doktor Straehler, noch einen älteren Arzt, Doktor Richter, ein ortsbekanntes Original, hinzu. Wenn mein Bruder die Krankheit – es handelte sich um eine Lungenentzündung – dann überstand, so retteten ihn, wie mein Vater wenigstens annahm, seine Ratschläge.
Tagelang verbrachte Carl im Zustand der Bewusstlosigkeit. Barbier Krause, ein zweiter Krause, zugleich Heilgehilfe, wie es damals üblich war, der seine Stube in einem kleinen Anbau schrägüber von der Schenkstube hatte, setzte Schröpfköpfe und operierte mit Blutegeln. Die Krankenstube betrat ich nicht.
Meine Schwester und meine Mutter müssen mich von dem, was dort geschah, unterrichtet haben. Der Kranke, von schrecklichen Fantasien geplagt, sah Reihen von Leichnamen, die unter dem Gasthof zur Krone bestattet waren. Als der brave Barbier ihm Schröpfköpfe setzte, rang er seine Hände zum Himmel, und indem er sich beklagte, in was für Hände er gefallen sei, gab er sich selbst die tragikomische Antwort: in Bierhände. Es kam die Krisis und damit der große und befreiende Augenblick, als plötzlich das Fieber gesunken war und Doktor Richter erklären konnte, die Gefahr sei nach Menschenermessen vorüber.
Es ist natürlich, dass meine Mutter mich unter Freudentränen in die Arme schloss. Aber auch mein Vater, von dem ich bis dahin ebensowenig glaubte, dass er lachen wie dass er weinen könne, nahm seine Brille ab und tupfte sich mit dem Tuche die Augen. Als man den Kranken, der mit seltsamer Klarheit seinen eigenen Zustand verfolgt hatte, von dem glücklichen Umschwung verständigte, ergriff ihn eine glückselige Erschütterung. Wir mussten alle zu ihm hineinkommen: »Vater, Vater, ich bin gerettet! Gerhart, denk doch, ich bin gerettet! Mutter, Mutter, ich bin gerettet! Hannchen, hörst du, ich bin gerettet!« wiederholte er, uns die Hände, so gut es gehen wollte, entgegenstreckend, in einem fort. Es hieß so viel: ich darf wieder bei euch bleiben.
Bei diesem Anlass, der mich wohl zum ersten Mal in ein andres als mein eignes Schicksal verwickelte, wurde mir deutlich, welche Fülle verborgener Liebe unter dem so gleichmäßig nüchternen Wesen eines Vaters, einer Mutter beschlossen liegen kann. Von diesen unsichtbaren Kräften und Verbundenheiten hatte ich bis dahin nichts gewusst. Fast befremdeten sie mich, als sie zutage traten, da sie scheinbar über mich hinweggingen, meinem Bruder und nicht mir galten. Und so wurde mir nicht ohne eine gelinde Bestürzung klar, dass mein Bruder nicht nur mein Bruder, sondern der Sohn meiner Eltern war und wie groß der Anteil werden konnte, den ich ihm von ihrer Liebe abtreten musste.
Dieses Ereignis muss in die Zeiten der Familienenge gefallen sein, wo dann das leere und doch wohl einigermaßen öde Haus den verdüsternden Rahmen bildete. Fieberfantasien des Knaben fanden so auch in uns Gesunden geeignetsten Boden für ihr Fortwuchern, so die von den in langer Reihe unter den Fundamenten des Gasthofs zur Preußischen Krone eingesargten Toten. Noch bis in die Tage der Rekonvaleszenz hinein wollte Carls Glaube an dieses Gesicht nicht nachlassen, sodass man allen Ernstes erwog, der Sache durch Grabungen nachzugehen.
Siebentes Kapitel
Mein