Christopher Germer

Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl


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mit dem Rest der Menschheit und gelassenes Gewahrsein“ beschreibt. Das ist Selbstmitgefühl.

      In diesem Buch werden Sie erfahren, wie Sie sich dieses Mitgefühl entgegenbringen können, wenn Sie es am dringendsten brauchen: Wenn Sie vor Scham fast vergehen, wenn Sie vor Wut oder Angst die Fäuste ballen oder sich zu verletzlich fühlen, um ein weiteres Familientreffen zu überstehen. Ihr Mitgefühl und Erbarmen mit sich selbst schenkt Ihnen all die Liebe, die Sie brauchen, indem es Ihren natürlichen Wunsch unterstützt, glücklich und frei von Leiden zu sein.

      In der buddhistischen Psychologie geht es im Grunde darum, wie man mit emotionalem Schmerz umgehen kann, ohne ihn noch zu vergrößern. Die Ideen und Gedanken, die den Inhalt dieses Buches ausmachen, stützen sich auf diese Tradition, insbesondere auf jene Konzepte und Methoden, die durch die moderne Naturwissenschaft bestätigt wurden. Was Sie hier lesen, ist eigentlich alter Wein in neuen Schläuchen – uralte Einsichten und Erkenntnisse in moderne psychologische Terminologie verpackt. Sie müssen an nichts glauben, um von diesen Methoden zu profitieren: Sie können Christ, Jude, Moslem, Naturwissenschaftler oder Skeptiker sein. Es ist jedoch bestimmt kein Fehler, aufgeschlossen, experimentierfreudig und geistig flexibel an die Sache heranzugehen.

      Die klinische Psychologie hat die Meditation in den 1970er Jahren entdeckt, und inzwischen gibt es wohl kaum eine psychotherapeutische Methode, die gründlicher untersucht wurde. In den vergangenen 15 Jahren hat sich die Forschung besonders auf Achtsamkeit oder das „akzeptierende Gewahrsein der gegenwärtigen Erfahrung“ konzentriert. Achtsamkeit wird als wesentlicher Faktor einer wirksamen Psychotherapie und emotionaler Heilung im Allgemeinen betrachtet. Wenn die Therapie gut läuft, entwickeln die Patienten (oder Klienten) eine akzeptierende Haltung gegenüber allem, was Sie im Therapieraum erleben – Angst, Wut, Traurigkeit, Freude, Erleichterung, Langeweile, Liebe – und nehmen diese wohlwollende Einstellung in ihren Alltag mit. Achtsamkeit hat den Vorteil, dass man sie zu Hause als Meditation üben kann.

      Achtsamkeit bezieht sich auf die Erfahrung eines Menschen – eine Empfindung, einen Gedanken, ein Gefühl. Aber was können wir tun, wenn der Erfahrende von der Emotion, beispielsweise Scham oder Selbstzweifel, überwältigt wird? Wenn das geschieht, fühlen wir uns nicht nur schlecht, sondern haben das Gefühl, dass wir schlecht sind. Das kann uns so erschüttern, dass wir kaum noch in der Lage sind, irgendetwas aufmerksam wahrzunehmen. Was können wir tun, wenn wir mitten in der Nacht allein sind, uns unruhig im Bett hin und her wälzen, das Schlafmittel nicht wirkt und die nächste Therapiestunde erst in einer Woche stattfindet? Dann brauchen wir vor allem einen guten, warmherzigen, mitfühlenden Freund. Und wenn keiner unmittelbar erreichbar ist, können wir uns immer noch selbst Freundlichkeit und Güte entgegenbringen – Selbstmitgefühl.

      Ich habe mich der Selbstakzeptanz und dem Selbstmitgefühl aus zwei Richtungen genähert: der beruflichen und der persönlichen. Seit dreißig Jahren arbeite ich als Psychotherapeut mit den unterschiedlichsten Patienten – von den besorgten, aber eigentlich Gesunden bis hin zu denjenigen, die von ihrer Angst, ihrer Depression oder ihrem Trauma überwältigt werden. Außerdem habe ich in einer städtischen Klinik mit Menschen gearbeitet, die an chronischen und unheilbaren Krankheiten litten. So konnte ich im Laufe der Jahre die Macht der Liebe und des Mitgefühls hautnah erleben. Und ich beobachtete, wie sie das Herz gleich einer Blüte öffnen und verborgenes Leid ans Licht bringen und heilen. Doch nach der Therapie haben manche Patienten das Gefühl, ins Leere zu laufen, die Stimme des Therapeuten nur noch als fernes Echo im Ohr. Ich fragte mich also: „Was können die Menschen zwischen den Therapiesitzungen tun, um sich weniger verletzlich und allein zu fühlen?“, oder: „Gibt es eine Möglichkeit, die Therapieerfahrung schneller verfügbar zu machen – sozusagen als ‚Therapie zum Mitnehmen‘?“ Selbstmitgefühl scheint dieses Versprechen für viele Menschen zu erfüllen.

      Ich selbst wuchs bei einer zutiefst christlichen Mutter auf, und einem Vater, der als junger Mann neun Jahre in Indien verbracht hatte – die meisten davon während des Zweiten Weltkriegs in einem britischen Internierungslager wegen seiner deutschen Staatsbürgerschaft. Dort begegnete er einem Bergsteiger namens Heinrich Harrer, der später aus dem Lager floh und sich über die Berge nach Tibet durchschlug, wo er der Lehrer des 14. Dalai Lama wurde. Meine Mutter hatte mir früher oft mythologische Erzählungen aus Indien vorgelesen, und so erschien es mir ganz natürlich, nach meinem College-Abschluss dorthin zu fahren. Von 1976 bis 1977 reiste ich also kreuz und quer durch Indien, besuchte Heilige, Weise und Schamanen und erlernte buddhistische Meditation in einer Höhle in Sri Lanka. Dort wurde mein lebenslanges Interesse an der Meditation geweckt, und ich kehrte mindestens ein Dutzend Mal nach Indien zurück.

      Gegenwärtig praktiziere ich eine Form der Achtsamkeitsmeditation, wie sie in den von Sharon Salzberg, Joseph Goldstein und Jack Kornfield gegründeten amerikanischen Meditationszentren gelehrt wird. Das ganze Buch ist von diesen profunden, differenzierten Lehren inspiriert, und jede ungerechtfertigte Abweichung davon habe ich ganz allein zu verantworten. Ich empfinde tiefe Dankbarkeit gegenüber meinen Kollegen am Institute for Meditation and Psychotherapy, mit denen ich mich seit 25 Jahren einmal im Monat zu einer Gesprächsrunde treffe, sowie gegenüber Jon Kabat-Zinn, der die buddhistische Praxis der Achtsamkeit und des Mitgefühls in das moderne Gesundheitswesen einführte. Meine anderen Lehrer sind meine Patienten, die mir großzügig erlaubten, ihre Lebensgeschichten zu erzählen, um die folgenden Prinzipien und Methoden zu veranschaulichen. Sie taten das aus Liebe zur Sache. Um ihre Privatsphäre zu schützen, habe ich ihre Namen und andere Einzelheiten geändert, und einige klinische Fallbeispiele sind aus den Daten mehrer Einzelpersonen zusammengesetzt.

      Das Buch besteht aus drei Teilen, wobei die einzelnen Kapitel aufeinander aufbauen. Teil I, „Selbstmitgefühl entdecken“, hilft Ihnen, die Fähigkeit der Achtsamkeit zu entwickeln und beschreibt genau, was mit Selbstmitgefühl gemeint ist (und was nicht). In Teil II, „Die Praxis der Liebenden Güte“, finden Sie eine ausführliche Anleitung für eine bestimmte Übung in Selbstmitgefühl – die Mettâ-Meditation –, die die Grundlage einer mitfühlenden Lebensweise bilden kann. In Teil III, „Selbstmitgefühl als individueller Weg“, finden Sie Tipps, wie man die Praxis an die persönlichen Bedürfnisse und Lebensumstände anpassen und größtmöglichen Nutzen daraus ziehen kann. Die Anhänge enthalten zusätzliche Übungen zum Selbstmitgefühl sowie Literaturempfehlungen.

      Dieses Buch erfordert keine harte Arbeit. Die größte Anstrengung liegt eigentlich schon hinter Ihnen: Der Kampf und Widerstand gegen schwierige Gefühle, für die Sie sich selbst die Schuld gaben. Tatsächlich werden Sie lernen, weniger zu tun. So gesehen ist es ein „Anti-Ratgeber“. Anstatt von der Vorstellung auszugehen, dass etwas in Ihnen kaputt ist und „repariert“ werden muss, möchte ich Ihnen zeigen, wie Sie mit emotionalem Schmerz auf eine ganz neue, mitfühlendere und liebevollere Weise umgehen können. Ich empfehle Ihnen, die Übungen 30 Tage lang durchzuführen und zu beobachten, was sich tut. Vielleicht stellen Sie fest, dass Sie sich leichter und glücklicher fühlen, aber das ist dann nur eine Begleiterscheinung Ihrer neuen Gewohnheit, sich annehmen, wie Sie sind.

      TEIL 1

      Selbstmitgefühl entdecken

      1 Gut zu sich sein

      Das Leiden an sich ist gar nicht so schlimm;

      der Widerstand gegen das Leiden macht den eigentlichen Schmerz aus.

      ALLEN GINSBERG

      Ich habe Angst vor dem, was Sie mir sagen werden, weil es wahrscheinlich nicht funktionieren wird!“, platzte Michelle heraus, in der sicheren Erwartung, dass das, was ich zu sagen hatte, eine Enttäuschung für sie sein würde. Michelle hatte mir gerade ihren jahrelangen Kampf gegen ihre Schüchternheit geschildert, und ich atmete erst einmal tief durch.

      Ich war beeindruckt von Michelles Intelligenz und Ernsthaftigkeit. Sie hatte viele Ratgeber zur Überwindung von Schüchternheit gelesen, und dies war ihr vierter Therapieversuch. Sie wollte einfach keine weitere Enttäuschung erleben. Erst kürzlich hatte sie ihr Master-Studium an einer renommierten Universität abgeschlossen und eine Stelle als Unternehmensberaterin im hiesigen Raum gefunden. Ihr Hauptproblem war das Erröten. Ihrer Meinung nach signalisierte es anderen Menschen, dass sie inkompetent war und man besser nicht ernst nahm, was sie zu sagen hatte. Je mehr Sorgen