Christopher Germer

Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl


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„Ihre Atemzüge zählen, um einzuschlafen.“ Ist Einschlafen Ihr Ziel, können Sie gar nicht verhindern, unterschwellig wütend auf sich selbst zu werden, wenn Sie feststellen, dass Sie immer noch wach sind. Mit jeder Stunde, die verstreicht, werden Sie verzweifelter und verwirrter. Um das Problem zu lösen, müssen Sie Ihre Einstellung zur Schlaflosigkeit ändern. Im selben Augenblick, in dem Sie wirklich und wahrhaftig akzeptieren, dass Sie nicht schlafen können, bekommt Ihr Körper endlich die Chance, zur Ruhe zu kommen.

      Die Angst vor öffentlichen Auftritten

      Jerry Seinfeld witzelte einmal: „Viele Studien weisen darauf hin, dass das Sprechen vor Publikum Menschen am meisten Angst macht. An zweiter Stelle folgt die Angst vor dem Tod. Der Tod steht an zweiter Stelle! Klingt das normal? Bei einer Beerdigung bedeutet das für den Durchschnittsmenschen, dass der, der im Sarg liegt, besser dran ist, als derjenige, der die Trauerrede halten muss.“

      Die Angst vor öffentlichen Auftritten ist in der Tat sehr weitverbreitet: Mindestens ein Drittel aller Menschen empfinden „sehr große“ Angst, wenn sie vor einem Publikum stehen. Einer von zehn Befragten gibt an, dass diese Angst sein Berufsleben deutlich beeinträchtigt hat. Auch ich habe mich mit dieser Angst herumgeschlagen. Mir geht es dann so: Steht eine wichtige Rede im Terminkalender, spüre ich jedes Mal, wenn ich daran denke, die Anspannung im Bauch – ein kleiner Adrenalinstoß, eine kleine Muskelkontraktion. Dieses vorhersehbare Problem tritt besonders dann auf, wenn ich über ein neues Thema sprechen will und meine Rede noch nicht vorbereitet habe. Ich stelle mir vor, wie ich mich während meines Vortrags zu oft räuspere, nach Worten suche, Witze mache, über die niemand lacht und die Gereiztheit in den Gesichtern der Zuhörer und Zuhörerinnen beobachte.

      Unterdrücke es!

      Der junge Dostojewski soll seinen Bruder einmal aufgefordert haben, nicht an einen weißen Bären zu denken und ihn damit in große Verwirrung gestürzt haben. Im Jahre 1987 stellten Daniel Wegner et al. einer Gruppe von Studenten die gleiche mentale Aufgabe: Die Studienteilnehmer sollten fünf Minuten lang ihre Gedanken kontrollieren und nicht an einen weißen Bären denken. Jedes Mal, wenn sie an einen weißen Bären dachten, sollten sie eine Klingel betätigen und gleichzeitig aussprechen, was ihnen gerade in den Sinn kam. Danach wurde diese Gruppe aufgefordert, fünf Minuten lang bewusst an einen weißen Bären zu denken und dabei dasselbe zu tun. (Die Teilnehmer einer Vergleichsgruppe sollten während der gesamten Dauer des Experiments an einen weißen Bären denken). Die Probanden, die ihre Gedanken unterdrücken sollten, waren nicht nur in den ersten 5 Minuten dazu außerstande, sondern dachten auch in den folgenden 5 Minuten öfter an weiße Bären als die Teilnehmer der Vergleichsgruppe, die ihre Gedanken zu keiner Zeit unterdrücken mussten. Diese klassische Studie zeigt, dass Unterdrückung die intensive Beschäftigung mit eben jenem Objekt provoziert, gegen das sie gerichtet ist. Klinische Forscher vermuten, dass ähnliche Prozesse bei psychischen Störungen wie posttraumatischem Stress, Depressionen und Zwangsstörungen ablaufen: Die Gedanken, die wir unterdrücken, kehren zurück und beginnen, uns zu verfolgen.

      Im Rahmen eines anderen Experiments, bei dem es um die Unterdrückung von Gefühlen ging, forderten Wissenschaftler der Florida State University Studenten auf, beim Betrachten eines Horrorfilms nicht zurückzuschrecken und bei einer Komödie nicht zu lachen. Danach sollten sie eine komplizierte Fingerübung ausführen. Der Versuch, ihre emotionalen Reaktionen auf die Filme unter Kontrolle zu halten ließ bei den Studienteilnehmern den Blutzuckerspiegel sinken, und die Studenten mit niedrigerem Blutzuckerspiegel gaben bei den Fingerübungen schneller auf. Als man denselben Teilnehmern zuckerhaltige Getränke verabreichte, um den Blutzuckerspiegel wieder zu erhöhen, zeigten sie größere Ausdauer bei der gestellten Aufgabe. Die Unterdrückung von Gefühlen scheint also die Willenskraft zu verringern, und ein Grund dafür könnte ein niedriger Blutzuckerspiegel sein.

      Diese beiden Studien liefern vielleicht eine Erklärung dafür, wieso der Versuch, einem Schokoladenkeks zu widerstehen, ein so schwieriges und häufig erfolgloses Unterfangen ist.

      Vielleicht will mir jemand aus dem Publikum helfen und ruft: „Atmen Sie doch einmal tief durch!“ (Das ist mir tatsächlich schon passiert.) Hinter meiner Angst steckt der Wunsch, gemocht zu werden, intelligent und charmant zu wirken und das Publikum nicht zu langweilen. Ich gehe von der falschen Vorstellung aus, dass ich absolut zufrieden wäre, würde mich jeder im Publikum mögen. Aber es gibt ja auch noch einen anderen Grund, vor einem Publikum zu sprechen: Man möchte anderen etwas Wichtiges oder Wissenswertes vermitteln. Eine Strategie, die ich schon öfter angewendet habe, um meiner Angst vor öffentlichen Auftritten Herr zu werden, besteht darin, mich wieder auf die eigentlichen Inhalte zu besinnen, die ich den Menschen nahebringen will. Geht es beispielsweise um „Hirnforschung“, konzentriere ich mich darauf, am Ende meiner Rede ein paar nützliche Dinge zum Thema Hirnforschung gesagt zu haben. Es scheint tatsächlich hilfreich zu sein, die Aufmerksamkeit von „mir“ abzuziehen.

      Leider kann diese Technik mein Problem nur teilweise lösen, wenn ich mir unbewusst immer noch wünsche, vor meinen Zuhörern und Zuhörerinnen nicht angespannt zu wirken. Der Meditationslehrer Joseph Goldstein sagt: „Das Motiv ist das Entscheidende.“ Was will ich beim Sprechen erreichen? Nicht nervös zu wirken? Wenn ja, wird ein kleiner Kontrolleur in meinem Kopf sitzen, der mich ständig fragt: „Bist du nervös? … Bist du jetzt nervös?“ Diese bohrende Frage löst genau die Angst aus, die ich zu unterdrücken versuche, und wenn ich erst einmal Angst habe, bekomme ich Angst vor der Angst.

      Es gibt nur eine einzige dauerhafte Lösung für die Angst, vor Publikum zu sprechen: sie einfach zu haben. Wir müssen aufhören, uns vor der Angst zu schützen, müssen bereit sein, beim Sprechen vor Angst zu schlottern. Wenn ich das tue, verschwindet meine Angst nach kurzer Zeit. Selbst lange vor einem öffentlichen Auftritt verhindert meine Bereitschaft, die Angst zuzulassen, dass die Negativspirale in Gang gesetzt wird.

      Beziehungskonflikte

      In Beziehungen gibt es gute und schlechte Phasen innerhalb der Gezeiten von Nähe und Distanz. Wollen wir uns mit unserem Partner verbunden fühlen, wollen wir das Gefühl haben, gesehen und gehört zu werden, auf derselben „Wellenlänge“ zu sein, und dieses Gefühl stellt sich nicht ein, so ist das sehr schmerzhaft. Alle Paare machen solche schmerzhaften Phasen durch, die manchmal über einen langen Zeitraum anhalten:

      Suzanne und Michael gingen durch die „kalte Hölle“. Die kalte Hölle ist ein Zustand, in dem Beziehungspartner ablehnend und misstrauisch aufeinander reagieren und in einem kühlen, bewusst unpersönlichen Ton miteinander sprechen. Manche Paare halten das jahrelang durch, sozusagen eingefroren am Rande der Scheidung.

      Nach fünf Monaten erfolgloser Therapiesitzungen, die in zweiwöchigem Abstand stattgefunden hatten, gelangte Suzanne zu dem Schluss, dass es nun an der Zeit sei, die Scheidung einzureichen. Für sie war klar, dass Michael sich nie ändern würde: Er würde nie weniger als 65 Stunden pro Woche arbeiten und auch nie auf seine Gesundheit achten (er hatte 50 Pfund Übergewicht und rauchte). Noch mehr belastete sie allerdings die Tatsache, dass Michael nicht das geringste Interesse zeigte, ihrer Ehe schöne Seiten abzugewinnen. Sie gingen nur selten aus und waren vor 2 ½ Jahren zum letzten Mal im Urlaub gewesen. Suzanne fühlte sich einsam und abgelehnt. Michael hatte dagegen das Gefühl, dass seine harte Arbeit für die Familie nicht anerkannt wurde.

      Suzannes Schritt in Richtung Scheidung brachte die Wende, denn er bescherte ihnen das „Geschenk der Verzweiflung“. Zum ersten Mal schien Michael bereit zu sein, wirklich hinzuschauen und zu sehen, wie schmerzvoll sein Leben geworden war. Als sie während einer Therapiesitzung über einen schweren Schneesturm in der Umgebung von Denver sprachen, erwähnte Michael, dass sein 64-jähriger Vater an diesem Tag zum ersten Mal in 20 Jahren nicht zur Arbeit erschienen sei. Ich fragte Michael, was das für ihn bedeute. Seine Augen füllten sich mit Tränen und er sagte, er wünschte, sein Vater hätte sein Leben mehr genießen können. Ich dachte laut darüber nach, ob sich Michael das jemals für sich selbst gewünscht hatte. „Ich habe Angst“, erwiderte er. „Ich habe Angst vor dem, was passieren würde, wenn ich nicht mehr ununterbrochen arbeitete. Ich habe sogar Angst davor, aufzuhören, mir Sorgen über meine Arbeit zu machen – dass ich vielleicht etwas Wichtiges übersehen könnte und meine ganze Karriere vor meinen Augen wie ein Kartenhaus einstürzen würde.“