Christopher Germer

Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl


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      Vielleicht ertappen Sie sich dennoch gelegentlich dabei, wie Sie eine Übung mit grimmiger Entschlossenheit praktizieren. Damit muss man rechnen – alte Gewohnheiten sind hartnäckig. Versuchen Sie wahrzunehmen, wenn Sie sich anstrengen, und schauen Sie, ob Sie einen Weg finden können, dasselbe mit mehr Leichtigkeit und Freude zu tun. Wir wollen unserem Leben ja nichts hinzufügen, sondern etwas wegnehmen: Die Spannung, die wir uns unbewusst aufzwingen, um unsere Erfahrungen zu kontrollieren oder zu manipulieren.

      Die der Achtsamkeit und dem Selbstmitgefühl zugrunde liegenden Prinzipien sind mindestens ebenso wichtig wie die Techniken, die Sie nun lernen werden. Der Sinn hinter den Techniken muss klar sein. Wenn Sie beispielsweise feststellen, dass eine Übung nicht funktioniert, könnte es sein, dass Sie „Selbstverbesserung“ praktizieren anstatt „Selbstakzeptanz“. Sie müssen den Unterschied kennen. Haben Sie erst einmal ganz und gar verstanden, was Achtsamkeit und Selbstmitgefühl bedeuten, können Sie die in diesem Buch beschriebenen Übungen abändern und an jede Situation anpassen.

      Sollten irgendwann einmal gewisse Zweifel auftauchen, ob Sie je fähig sein werden, mitfühlender und liebevoller mit sich selbst umzugehen, dann halten Sie inne und schenken Sie sich gerade in diesem Moment ein wenig Freundlichkeit. Damit tun Sie genau das, worum es in diesem Buch geht.

      Sich fürsorglich um sich selbst kümmern

      Meistens kümmern wir uns um andere – was sie fühlen, sagen oder tun. Selten schenken wir uns dieselbe Fürsorge und Aufmerksamkeit. Das wollen wir jetzt versuchen. (Sie können dabei nichts falsch machen.)

      • Suchen Sie sich einen Ort, an dem Sie ungestört sind, setzen Sie sich bequem hin, schließen Sie die Augen und spüren Sie, wie es sich anfühlt, in Ihrem Körper zu sein. Nehmen Sie einfach wahr, wie die körperlichen Empfindungen kommen und gehen, ohne sich besonders auf eine zu konzentrieren. Ist es eine angenehme Empfindung, registrieren Sie sie einfach und lassen Sie sie wieder los. Ist es eine unangenehme, tun Sie dasselbe. Vielleicht spüren Sie Wärme in Ihren Händen, das Gewicht Ihres Körpers auf dem Stuhl oder Sessel, ein Kribbeln in der Stirn? Nehmen Sie diese Empfindungen aufmerksam wahr, so wie eine Mutter ein neugeborenes Baby betrachten und sich fragen würde, was es wohlfühlt. Registrieren Sie einfach alles, was auftaucht – eine Empfindung nach der anderen. Nehmen Sie sich Zeit.

      • Öffnen Sie nach etwa fünf Minuten langsam die Augen.

      2 Auf den Körper hören

      Es ist einfach nur Aufmerksamkeit, durch die wir das Singen eines Vogels wirklich hören, die großartige Schönheit eines Herbstblattes wirklich sehen, das Herz eines anderen Menschen berühren und berührt werden.

      CHRISTINA FELDMAN UND JACK KORNFIELD

      Es ist nicht leicht, in einem menschlichen Körper zu leben, aber zum Glück sind wir mit allem Notwendigen ausgestattet. Wir verfügen über die menschlichen Eigenschaften „Bewusstsein“ und „Mitgefühl“. Der erste Schritt zu körperlichem Wohlbefinden besteht darin, den eigenen Körper aufmerksam wahrzunehmen. Wir müssen wissen, was uns plagt. Dann können wir mitfühlend darauf reagieren.

      Wenn wir leiden, ist nicht immer sofort offensichtlich, worin das eigentliche Problem besteht. Werde ich zum Beispiel von meiner Firma entlassen, empfinde ich das möglicherweise als ungerecht und denke, dass mein Chef irgendetwas gegen mich persönlich hatte. In schlaflosen Nächten verzweifle ich vielleicht bei dem Gedanken, dass ich nicht in der Lage bin, meine Familie anständig zu ernähren und stelle mir vor, wie ich mich an meinem Chef räche. Aber wo bin ich – die verletzte Seele – bei all dem geblieben? Verschwunden! Ich habe mich in meinen Kopf geflüchtet, habe den Aufzug zum obersten Stockwerk genommen und meine Angst und Traurigkeit ausgeblendet. Ich streite mit der Welt über meinen persönlichen Wert und schmiede Rachepläne. So ist es doch oft, wenn wir leiden. Im Chaos unserer Gedanken und Gefühle finden wir uns selbst nicht wieder.

      Achtsamkeit ist eine besondere Art des Gewahrseins, die uns helfen kann, sicher im Körper verankert zu bleiben, wenn die Zeiten härter werden. Mit ihr können wir zu einer Lebensweise finden, die uns vor unnötigem Leiden bewahrt. Wenn wir achtsam sind, müssen wir nicht mehr unbedingt vor unangenehmen Erfahrungen davonlaufen – sie sind nun von einer Art Pufferzone umgeben, in der wir Atem holen können. In diesem Kapitel wird erklärt, was Achtsamkeit ist (und was nicht), und wie befreiend es sein kann, wenn wir dem inneren Drang widerstehen, vor unserem Schmerz zu flüchten. Dazu stelle ich ein paar einfache Achtsamkeitsübungen vor.

      Der Weg der Achtsamkeit

      Wir müssen Achtsamkeit erfahren, um zu wissen, was sie bedeutet. Ein Moment der Achtsamkeit ist eine Art des Gewahrseins, das vor den Worten da ist, wie das Blinken der Sterne, bevor wir sie „Großer Wagen“ nennen oder wie ein Aufblitzen von etwas Rotem an der Haustür, bevor wir erkennen, dass es eine Freundin in einem neuen roten Kleid ist. Unser Gehirn durchläuft dieses prä-verbale Stadium des Gewahrseins ständig, aber normalerweise sind wir viel zu sehr mit unseren Alltagsdramen beschäftigt, um es zu bemerken.

      Die folgenden poetischen Worte geben die einfache Erfahrung der Achtsamkeit wieder:

      Jeden Tag

      sehe oder höre ich

      etwas,

      das mich mehr oder weniger

      in Entzücken versetzt,

      mich wie eine Nadel

      im Heuhaufen des Lichts

      zurücklässt.

      Dafür wurde ich geboren:

      zu schauen, zu lauschen,

      mich in dieser zarten,

      feinen Welt zu verlieren –

      mich selbst immer wieder

      Freude und Lobpreis zu lehren.

      Auch spreche ich nicht

      vom Außergewöhnlichen,

      vom Furchtbaren, Schrecklichen

      oder ganz Besonderen –

      sondern vom Gewöhnlichen,

      Alltäglichen, Langweiligen,

      dem ganz alltäglichen Theater.

      Oh, gute Schülerin,

      sage ich zu mir,

      wie könntest du anders

      als weise werden,

      mit solchen Lehren –

      dem unauslöschlichen Licht der Welt,

      dem Leuchten des Ozeans,

      den Gebeten,

      aus Gras gemacht?

      Mit ihrem Gedicht Mindful („Achtsam“) erinnert uns Mary Oliver daran, wie uns ganz einfache Wahrnehmungen, beispielsweise das Glitzern des Sonnenlichts auf einem nassen Grashalm, in Entzücken versetzen können.

      Eine Definition von „Achtsamkeit“, die ich besonders hilfreich finde, ist die des Meditationslehrers Guy Armstrong: „Zu wissen, was du erlebst, während du es erlebst.“ Achtsamkeit ist Gewahrsein im Hier und Jetzt. Achtsamkeit befreit, denn indem wir dem Strom unserer Wahrnehmungen Aufmerksamkeit schenken, anstatt unseren Interpretationen davon, wird jeder Augenblick frisch und lebendig. Das Leben wird zu einem Fest für die Sinne, wenn wir achtsam sind. Betrachten Sie diese Momentaufnahme des ganz gewöhnlichen Alltags im Gedicht von Linda Bamber:

      Plötzlich erscheint mir die Stadt,

      in der ich lebe, interessant,

      so als empfände ich auf einmal Nachsicht

      mit der Menschheit, ihrer Art

      und Weise, in Städten zu leben

      und Straßen aufzureißen, so dass der Verkehr

      um einen in sich zusammenfallenden weißen Drahtzaun

      geleitet werden muss,

      wie