Christopher Germer

Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl


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auf den Bürgersteigen hin und her eilen,

      von denen jeder heute Morgen aufgestanden ist

      und sich angekleidet hat,

      sehen fast aus wie – wie

      in einem Film, in dem Leute

      die Straße überqueren.

      Fragen wie:

      Ist diese Szenerie auch nur eines einzigen Blickes wert?

      Beispielsweise im Hinblick auf die Architektur,

      urbane Räume und menschliche Interessen?

      Und gibt es genügend Vielfalt hier?

      Und sind diese Leute im Allgemeinen jünger oder älter als ich?

      sind jetzt einfach nicht mehr wichtig.

      In ihrer Abwesenheit habe ich dieses

      schöne Gefühl, dass es viele Städte auf der Welt gibt,

      und dass dies eine davon ist.

      Vor Kurzem hat es geregnet.

      Ich denke, ich werde zu den Mönchen gehen,

      und ihnen beim Malen eines Sand-Mandalas

      auf der Promenade zuschauen; und

      wer weiß, vielleicht hole ich mir später

      noch ein Sandwich.

      Achtsamkeit hat eine Qualität des Seins im Hier und Jetzt, eine Qualität der Freiheit, der Weitsicht, der Verbundenheit, des Nicht-Urteilens, des Fließens im Alltag. Wenn wir achtsam sind, ist die Wahrscheinlichkeit geringer, dass wir das Leben anders haben wollen, als es ist – zumindest für den Moment.

      Manche Menschen scheinen achtsamer zu sein als andere, aber wo wir auch beginnen, wir können unsere Achtsamkeit immer durch Üben steigern. Und Sie müssen weder Mönch noch Künstler sein, um von einem solchen Achtsamkeitstraining zu profitieren. Sie müssen noch nicht einmal innerlich ruhig sein, um achtsam sein zu können. Sie müssen einfach nur die persönliche Entscheidung treffen, wach und bewusst zu sein. Sie können in Ihrem Alltag zu jeder Zeit und an jedem Ort „aufwachen“, indem Sie bewusst wahrnehmen und erkennen, was in Ihnen und um Sie herum vor sich geht. Fragen Sie sich: Bin ich durcheinander, gelangweilt, gestresst oder ruhig? Spüre ich eine Spannung im Bauch oder Hitze auf den Wangen? Mache ich mir Sorgen über die Zukunft oder über den Besuch bei meinem Vater, der heute noch ansteht? Ist dies das Geräusch des Windes, der durch die Blätter einer Pappel streicht? Jede bewusste Wahrnehmung in der Gegenwart kann ein Moment der Achtsamkeit sein und eine Befreiung von unserem üblichen, spannungserzeugenden Denken. Das Gegenteil von Achtsamkeit ist Unachtsamkeit, die sich beispielsweise darin zeigt, dass Sie

      • den Namen eines Menschen vergessen, kaum dass er Ihnen vorgestellt wurde

      • sich nicht daran erinnern können, warum Sie gerade in die Küche gegangen sind

      • essen, wenn Sie keinen Hunger haben

      • sich, wenn Sie im Stau stecken, darüber aufregen, dass Sie spät kommen

      • sich wie ein Kind verhalten, wenn Sie Ihre Eltern besuchen

      • eine Stunde auf der Autobahn fahren und sich kaum erinnern können

      Das sind die Zeiten, in denen wir geistesabwesend sind, nicht wahrnehmen, was wir denken, fühlen oder tun und wie ferngesteuert reagieren. Vielleicht ist Ihnen schon einmal aufgefallen, wie unachtsam wir meistens sind!

      Unachtsamkeit ist kein Problem, wenn der Film, der in unserem Kopf abläuft, süß und angenehm ist, aber manchmal ist er furchterregend, und wir würden am liebsten aufstehen und das Kino verlassen. Unsere Aufmerksamkeit wird von unserem Leiden „entführt“. So war es auch bei George, einem meiner Patienten.

      Dem äußeren Anschein nach hatte George sein Leben im Griff. Seine Arbeit machte ihm Spaß, er hatte kürzlich ein Haus gekauft, lebte mit einer Partnerin zusammen, die ihn liebte, und er konnte seine Freunde mit seinem ausgezeichneten Gitarrenspiel in Entzücken versetzen. Aber je schöner sein Leben wurde, desto stärker quälten ihn Erinnerungen an seine schwierige Kindheit. Er war in einer armen Familie aufgewachsen, in der Vernachlässigung und Misshandlungen an der Tagesordnung gewesen waren, und seine geliebte Schwester hatte sich mit 16 Jahren das Leben genommen. Jedes Mal, wenn ihm etwas Gutes widerfuhr – eine Gehaltserhöhung, der Kauf eines neuen Autos oder eine Urlaubsreise – konnte er ein Schluchzen nicht unterdrücken. Er dachte an seine traurige Kindheit und an seine Schwester, die nie die Chance gehabt hatte, ihr Leben zu genießen. Dieses Bedauern hinderte ihn daran, sich zu freuen. Wenn er in der Zeitung von misshandelten Kindern las, wurde er manchmal ganz plötzlich von solchen Erinnerungen überwältigt. Seine Frau fürchtete, die Verbindung zu George zu verlieren, der zunehmend in seiner Vergangenheit zu versinken schien, während sich ihr gemeinsames Leben positiv entwickelte.

      Auch George wollte seiner Frau nahe bleiben, die inzwischen manchmal die Geduld mit ihm verlor. Als er eines Tages, wie üblich mit den Gedanken in der Vergangenheit, am Strand spazieren ging, fiel sein Blick auf einen wunderschönen runden Stein. Er hob ihn auf, ließ ihn in der Hand hin und her gleiten, rieb damit über sein Gesicht und genoss die Berührung dieser kühlen, glatten Oberfläche auf seinen Wangen. Da er ein Sammler war, steckte er den Stein geistesabwesend in die Jackentasche. Als er später zu Hause seine Taschen leerte, fiel ihm der Stein in die Hand und wieder genoss er es, diese kühle, glatte, runde Oberfläche zu berühren. George stellte fest, dass es ihn irgendwie beruhigte, wenn er mit den Fingern über den Stein strich. Er nannte ihn scherzhaft seinen „Hier-und-Jetzt-Stein“ und trug ihn immer bei sich. Von nun an nahm er immer, wenn er einen „Flashback“ hatte und sich nicht in den Erinnerungen an seine Kindheit verlieren wollte, den Stein aus der Tasche und strich mit den Fingern darüber.

      Ohne irgendeine Anleitung von außen war George über eine Möglichkeit gestolpert, seinen inneren Zustand durch Achtsamkeit zu steuern: Er brachte seinen Geist mit Hilfe der sinnlichen Wahrnehmung ins Hier und Jetzt. Anfangs benutzte George seinen Hier-und-Jetzt-Stein vor allem, um seine Aufmerksamkeit von dem, was ihn quälte, abzuziehen und in den gegenwärtigen Moment zu kommen. Später, als sein Stein und der gegenwärtige Augenblick in emotionalen Stresssituationen zu einem verlässlichen Zufluchtsort geworden waren, fasste George Mut und wandte sich seinen traumatischen Erinnerungen zu, um sie sich genauer anzuschauen. Achtsamkeit bedeutet, zu wissen, wo wir uns innerlich in jedem Augenblick gerade befinden und unsere Aufmerksamkeit bewusst und intelligent lenken zu können. Achtsamkeit erfordert eine gewisse Offenheit, um heilsam wirken zu können. So wie die Augen einer Mutter auf ihrem Neugeborenen ruhen, können wir etwas sehr lange anschauen, wenn wir es mögen oder wenn wir uns beim Schauen geliebt und unterstützt fühlen. Aber wir können unsere Aufmerksamkeit nicht lange aufrechterhalten, wenn uns das, was wir sehen, abstößt. Wir können die einzigartige Schönheit einer Rose oder eines Musikstückes oder uns selbst nur wahrnehmen, wenn wir emotional offen sind. Mit dieser inneren Haltung üben wir uns in Achtsamkeit.

      Achtsamkeit üben: Der Anfang

      Falls Sie die am Ende des letzten Kapitels beschriebene Übung gemacht haben, haben Sie bereits einen kleinen Vorgeschmack auf Achtsamkeit bekommen. Sie waren in einem relativ empfänglichen Zustand und haben eine Reihe von Eindrücken und Empfindungen bewusst wahrgenommen, ohne sie vergleichen, beurteilen, benennen oder werten zu müssen. Man kommt mit dem eigenen Geist relativ gut zurecht, wenn man einfach nur registriert, was kommt und geht. Probleme treten erst auf, wenn wir unbewusst vor unangenehmen Dingen zurückschrecken, nach Vergnügen streben und uns in Fantasien darüber verlieren, wie wir die Dinge gerne hätten. Ausnahmslos jede(r) von uns stellt schon bald fest, dass eine so einfache Übung wie „ein paar Minuten still sitzen und die Gedanken kommen und gehen lassen“ alles andere als einfach ist.

      Geräusche achtsam wahrnehmen

      Diese Übung dauert nur fünf Minuten. Suchen Sie sich einen ruhigen Ort, an dem Sie weder durch den Fernseher, Musik oder die Unterhaltungen anderer Menschen abgelenkt werden.

      • Setzen Sie sich in entspannter, bequemer Haltung hin und