Christopher Germer

Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl


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wurden alle Studenten einer Stresssituation ausgesetzt: Sie mussten vor einem Publikum sprechen und Mathematikaufgaben lösen. Zwischen der Gruppe der Meditierenden und der Vergleichsgruppe waren keine eindeutigen Unterschiede im Hinblick auf den IL-6-Spiegel festzustellen. Allerdings wiesen jene Meditierenden, die überdurchschnittlich häufig praktizierten, signifikant niedrigere IL-6Spiegel auf als ihre weniger eifrigen Kollegen, was darauf hinweist, dass Achtsamkeitstraining Stress bedingte Entzündungsreaktionen reduzieren kann.

      Vielbeschäftigte Menschen nehmen sich vielleicht ein oder zwei Mal am Tag nur 20 Minuten Zeit für die Meditation, aber das ist auch in Ordnung. Fortschritte scheinen „Dosis abhängig“ zu sein, das heißt, davon, wie viel Training das Gehirn bekommt.

      Einige Hirnareale werden sogar dicker, wenn wir jahrelang täglich meditieren. Sara Lazar et al. von der Harvard University untersuchten, ob das Praktizieren der Achtsamkeitsmeditation über einen langen Zeitraum die physische Gehirnstruktur verändert. Sie stellten fest, dass der präfrontale Kortex und die rechte anteriore Insula, jene Hirnregionen, die mit Aufmerksamkeit, innerem Gewahrsein und der Verarbeitung von Sinneseindrücken assoziiert werden, bei Langzeit-Meditierenden dicker waren als bei entsprechenden Kontrollpersonen. Darüber hinaus zeigte sich, dass die Verdickung des Kortex mit der Anzahl der Jahre der Meditationserfahrung korrelierte und den Alterungsprozess des Kortex (der mit den Jahren dünner wird) aufzuhalten schien.

      Die psychischen Mechanismen, die bei einer langfristigen Achtsamkeitsmeditationspraxis ursächlich für die Verringerung des Leidens sind, werden derzeit erforscht. Eine Hypothese lautet, dass unsere problematischen Erinnerungen ihren Stachel verlieren, wenn sie ins Bewusstsein dringen, während wir innerlich ruhig sind – („interozeptive Exposition“). Eine andere besagt, dass wir lernen, unsere Aufmerksamkeit bewusst zu lenken, und dass uns diese Fähigkeit hilft, unsere Emotionen zu regulieren. George tat dies, indem er sich auf seinen „Hier-und-jetzt-Stein“ konzentrierte, wenn er plötzlich von traumatischen Erinnerungen überwältigt wurde. Ein weiterer potentieller Effekt der Achtsamkeitsmeditation ist die „Metakognition“, die Fähigkeit, sozusagen innerlich einen Schritt zurückzutreten und die eigenen Gedanken und Gefühle zu beobachten, anstatt von ihnen überflutet zu werden. Vielleicht ist aber die Tatsache, dass wir im Laufe der Zeit nützliche Einsichten über das Leben gewinnen, das überzeugendste Argument für die Wirksamkeit der Achtsamkeitsmeditation. Wir erkennen, wie sich alles verändert, wie wir unser Leiden selbst erzeugen, indem wir gegen Veränderungen ankämpfen, und wie wir uns unbewusst ein „Selbst“ zusammenzimmern. Die letztgenannte Einsicht ist nützlich, weil wir die meisten unserer wachen Stunden mit dem vergeblichen Versuch zubringen, unser zerbrechliches Ego aufzublähen oder ängstlich vor Angriffen zu schützen. (Mehr über dieses verwirrende, aber dennoch wichtige Thema erfahren Sie jeweils am Ende der Kapitel 4 und 5). Wenn wir diese Einsichten über das Leben tief und dauerhaft verinnerlichen, helfen sie uns, Erfolgen wie Fehlschlägen mit Gleichmut zu begegnen, emotionalen Schmerz in dem Bewusstsein anzunehmen, dass „auch dies vorübergehen wird“ und den Mut aufzubringen, jeden kostbaren Augenblick unseres Lebens zu ergreifen. Anders ausgedrückt: intuitive Einsichten, die uns in der Meditation geschenkt werden, können uns helfen, unsere Beziehung zur Welt flexibler, offener, weniger defensiv zu gestalten.

      Was Achtsamkeit nicht ist

      • Achtsamkeit ist keine Entspannungstechnik. Wenn uns bewusst wird, was in unserem Leben vor sich geht, ist das manchmal alles andere als entspannend, besonders wenn wir uns gerade in einer schwierigen Situation befinden. Je besser wir uns selbst allerdings kennenlernen, desto weniger werden uns die auftauchenden Gefühle überrumpeln. Unsere Haltung zum inneren Erleben ist dann weniger reaktiv. Wir können emotionale Stürme leichter erkennen und loslassen.

      • Achtsamkeit ist keine Religion. Obwohl buddhistische Mönche und Nonnen seit über 2.500 Jahren die Praxis der Achtsamkeit ausüben, ist jede Aktivität, die unser Gewahrsein im Hier-und-Jetzt fördert, eine Achtsamkeitsübung. Wir können Achtsamkeit im Rahmen einer Religion praktizieren oder unabhängig davon. Die moderne wissenschaftliche Psychologie betrachtet die Achtsamkeitspraxis als wesentlichen Faktor bei Heilungsprozessen innerhalb einer Psychotherapie.

      • Achtsamkeit ist keine Technik, mit der wir unserem gewöhnlichen Alltag entfliehen. Durch Achtsamkeit stellen wir einen direkten Kontakt zu jedem Augenblick unseres Lebens her, wie trivial oder profan er auch sein mag. In diesem Gewahrsein können die einfachsten Dinge zu etwas Besonderem werden – außergewöhnlich gewöhnlich. So nimmt man das Aroma einer Speise oder die Farbe einer Rose intensiver wahr, wenn man ihnen ungeteilte Aufmerksamkeit schenkt. Achtsamkeit dient auch dazu, uns selbst intensiver wahrzunehmen, ohne zu versuchen, die profanen, unschönen Seiten unseres Lebens auszublenden.

      • Achtsamkeit bedeutet nicht, den Geist „leer“ zu machen. Das Gehirn wird immer Gedanken hervorbringen – das ist seine Aufgabe. Achtsamkeit verhilft uns aber zu einer harmonischeren Beziehung zu unseren Gedanken und Gefühlen, weil wir ein tiefes Verständnis für die Mechanismen des Geistes entwickeln.

      • Achtsamkeit ist nicht schwierig. Verlieren Sie nicht den Mut, wenn Sie feststellen, dass Ihr Geist immer wieder abschweift. Das ist seine Natur. Und es gehört auch zu seinem Wesen, sich dieses Abschweifens irgendwann bewusst zu werden. Paradoxerweise werden Sie also genau dann achtsam, wenn Sie darüber verzweifeln, dass Sie nicht achtsam sind. Man kann diese Übungspraxis weder perfekt beherrschen, noch kann man darin scheitern. Deshalb wird sie ja als „Übungspraxis“ bezeichnet.

      • Achtsamkeit bedeutet nicht, dem Schmerz zu entkommen. Das zu akzeptieren fällt uns wohl am schwersten, denn wir tun selten etwas ohne den Wunsch, uns besser zu fühlen. Sie werden sich mit Achtsamkeit und Akzeptanz besser fühlen, aber nur, indem Sie lernen, nicht vor dem Schmerz davonzulaufen. Der Schmerz ist wie ein wütender Stier: In einer engen Box eingesperrt wird er wild und versucht auszubrechen, aber auf freiem Feld beruhigt er sich. Achtsamkeit schafft emotionalen Raum für den Schmerz.

      Die Praxis der Achtsamkeit im Alltag

      Achtsamkeit im Alltag ist eine „informelle“ Meditationspraxis. Kurze Augenblicke achtsamen Gewahrseins können den im Laufe des Tages aufgebauten Stress erheblich reduzieren. Außerdem fühlt es sich gut an, einfach nur zu sein, und sei es auch nur für ein paar Sekunden.

      Mit informeller Praxis ist gemeint, dass wir uns bewusst dafür entscheiden, dem Aufmerksamkeit zu schenken, was im Augenblick vor sich geht. Jede momentane Erfahrung ist ein lohnendes Objekt für Achtsamkeit. Das kann bedeuten, dass wir den Vögeln lauschen, unser Essen bewusst schmecken, beim Gehen die Erde unter unseren Füßen spüren, den festen Griff unserer Hände am Lenkrad wahrnehmen, physische Empfindungen identifizieren, indem wir den Körper geistig sozusagen „abtasten“, oder unseren Atem bewusst wahrnehmen. Es könnte auch so etwas Einfaches sein, wie mit den Zehen wackeln. Der gegenwärtige Augenblick befreit uns von unserer „Gedankenmühle“, be- oder verurteilt uns nie und ist unendlich unterhaltsam.

      Auch kurze Achtsamkeitsübungen sollten in ihrer Wirkung nicht unterschätzt werden. Ein Artikel in einer psychologischen Fachzeitschrift beschreibt einen 27-jährigen Mann namens James, der geistig leicht zurückgeblieben war und unter einer psychischen Störung litt. Mehrmals wurde er wegen aggressiven Verhaltens in eine Klinik eingewiesen. Während eines solchen Klinikaufenthaltes erhielt er fünf Tage lang zweimal täglich ein Achtsamkeitstraining sowie Anweisungen für die darauffolgende Woche, in der er allein üben sollte. Die Trainingsanweisung lautete folgendermaßen:

      • Stell oder setz dich so hin, dass die Fußsohlen flach auf dem Boden aufliegen.

      • Atme normal.

      • Denk an etwas, das dich wütend macht.

      • Richte deine Aufmerksamkeit auf deine Fußsohlen und warte, bis du innerlich wieder ruhig wirst.

      Von nun an praktizierte James immer, wenn er wütend wurde, diese „Fußsohlen-Meditation“. Ein Jahr später hatte sich sein aggressives Verhalten signifikant gebessert, er konnte alle Medikamente absetzen und seine Betreuer betrachteten ihn nicht mehr als psychisch krank.

      Einen individuellen Zugang zur Achtsamkeit finden

      Denken Sie daran, dass Achtsamkeitsübungen, die Sie für