Jon Kabat-Zinn

Achtsamkeit für alle


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getrieben wird, nicht Sorgen mache (und angesichts der Tendenz, dass manche sich als »Achtsamkeitslehrer«/»Achtsamkeitslehrerinnen«) anpreisen, die wenig oder gar keine Basis aus ernsthafter Praxis und Studium haben), dann sage ich nur: Und ob! Und wie! Trägt der Titel dieses Buches zu diesem Hype bei? Ich hoffe jedenfalls nicht. Ich engagiere mich seit Jahrzehnten in dem Unterfangen, Achtsamkeit in den Mainstream der Welt zu tragen, auf eine Art und Weise, die den dharmischen Wurzeln treu bleibt und sie nicht denaturiert oder verwässert – und zwar genau deshalb, weil ich von ihrem tiefgreifenden, heilenden und transformativen Potenzial überzeugt bin und es selbst erlebt habe (so begrenzt das für mich als Einzelperson sein mag); von ihrer vielfältigen Anwendbarkeit und ihrer immer wieder dokumentierten Qualität, auf allen Ebenen, auf denen diese Begriffe sinnvoll sind, zu Gesundheit und Wohlbefinden beitragen zu können. Und die wissenschaftliche Erforschung der Achtsamkeit (die zwar noch in den Kinderschuhen steckt, wenn auch nicht mehr so wie vor zwanzig Jahren) liefert genug Beweise, dass es in Medizin und Klinischer Psychologie viele verschiedene Anwendungsformen für sie gibt außer MBSR (Stressreduzierung auf Achtsamkeitsbasis) und MBCT (Kognitive Therapie auf Achtsamkeitsbasis), die in vielen Bereichen Entscheidendes beitragen: im Bildungswesen, in der Justiz, in der Wirtschaft, im Sport, im Sozialen, sogar in der Politik.

      Meine ich mit »Achtsamkeit für alle!«, dass auf einen Schlag jeder Mensch auf der Welt eine ernsthafte und persönlich stimmige Meditationspraxis anfangen oder sich aussuchen wird? Nein. Natürlich nicht. Trotzdem (und das war, von 1979 her gesehen, als MBSR an der »Stress Reduction Clinic« der Medizinischen Abteilung der Universität von Massachusetts entstand, absolut utopisch) integrieren immer mehr Menschen auf der ganzen Welt, und auch in immer vielfältigeren und heterogeneren sozialen Zusammenhängen, eine konsequente und kontinuierliche Achtsamkeits-Meditationspraxis in unterschiedlichem Maße in ihr Leben – von Flüchtlingen im Südsudan bis zu Feuerwehrleuten der US-amerikanischen Fortsbehörde; von Kindern in Programmen zur schulischen Ganztagesbetreuung in innerstädtischen Problembezirken Baltimores bis hin zu Polizistinnen auf großen Polizeirevieren; von Menschen, die in ganz Los Angeles Woche für Woche bei den öffentlichen Meditationen vorbeischauen, die vom »Forschungszentrum für achtsame Bewusstheit« der Universität von Los Angeles angeboten werden, bis zu Patienten, die an Achtsamkeitsprogrammen teilnehmen, die von der Achtsamkeits-Initiative der »Shanghai Medical Society« gefördert werden; von der weltweiten Arbeit von Tochter-Organisationen des »Zentrums für Achtsamkeit in Medizin, Gesundheitswesen und Gesellschaft« bis zum noch umfassenderen, weltweiten Netzwerk von MBSR-Lehrerinnen und Lehrerausbilderinnen in klinischen und universitären Zentren und eigenständigen Programmen. Achtsamkeit schlägt auf allen Kontinenten Wurzeln (außer vielleicht der Antarktis): in Nordamerika, Europa, Afrika, Asien und Lateinamerika.

      Aber wenn Sie mich fragen, ob ich mit dieser Formulierung »Achtsamkeit für alle!« meine, dass wir alle, als einzigartige menschliche Wesen – jung oder alt, was wir auch tun, welche Ansichten wir auch hegen, wie die Vergangenheit und die unterschiedlichen Strömungen unseres kulturellen Erbes uns auch geprägt haben, welche Gruppen es auch immer sind, mit denen wir uns identifizieren oder denen wir angehören, religiös, spirituell, philosophisch, weltlich oder sakral, rechts oder links, pessimistisch oder optimistisch, zynisch oder großherzig – von einem geschärften Bewusstsein dafür profitieren könnten, wie »wir das Leid in unserem Leben selber erzeugen«, im eigenen, aber auch in dem von anderen; und wie wir alle von größerer Wachheit und einer gesteigerten Bewusstheit für unsere gegenseitige Verbundenheit profitieren können, für das Gewebe allen Lebens auf diesem Planeten und in dem Universum, das wir bewohnen – davon profitieren, dass wir die essenzielle, unpersönliche Nicht-Selbst-Natur aller Phänomene erkennen und einsehen, auch unserer selbst,8 dann ist die Antwort ein deutliches »Ja«. Aber selbstverständlich! Mehr noch: Ich glaube, es könnte zum momentanen Zeitpunkt die wichtigste evolutionäre Chance für die Menschheit sein, dass wir uns in unserer Ganzheit und Unversehrtheit und unserer gegenseitigen Verbundenheit als Spezies erkennen und fähig sind, aus dem Bewusstsein einer größeren Ganzheit heraus zu handeln statt aus einem kleinlichen, oft angstgetriebenen und falsch verstandenen Eigeninteresse heraus, aus beschränkten und blockierenden Narrativen, wer wir seien (die wir doch lebendige, atmende Wesen sind, auf diesem Planeten nur für kurze Zeit; die volle Spanne eines Menschenlebens, wenn wir Glück haben, ist ein Wimpernschlag angesichts kosmologischer, geologischer, evolutionärer Zeiträume).

       Wenn Sie ein Mensch sind und leiden, könnte diese Praxis etwas für Sie sein

      Um es einen Moment lang ganz persönlich zu machen: Warum hätten Sie überhaupt den Impuls haben sollen, dieses Buch in die Hand zu nehmen, wenn Sie sich nicht auf irgendeine Weise intuitiv von dieser Möglichkeit in sich und für sich angezogen gefühlt hätten? Ich tippe einfach mal, dass es so ist, auch wenn Sie sich nicht sicher sind oder waren, dass Sie Ihre eigene Meditationspraxis überhaupt beginnen oder über Tage, Wochen, Monate, Jahre und Jahrzehnte aufrecht erhalten und ausbauen könnten. Tatsache ist: Sie können das. Sie können Ihre eigene Meditationspraxis auf eine Weise entwickeln, die für Sie funktioniert. Und mehr und mehr Menschen auf diesem Planeten tun das. Sie müssen nur anfangen, müssen den großen Zeh ins kalte Wasser tunken (was Sie ja schon getan haben, wenn Sie bis hierher gelesen haben). Wenn es stimmt, was ich hier sage, dann erledigt sich der Rest von selbst … es wird sich ergeben, dass das Leben Sie unterrichten wird, Sie auf eine Weise stärken und beleben wird, die Sie sich nicht hätten träumen lassen, die Sie aber mit der Zeit erkennen und wertschätzen werden, während Sie ein bisschen wacher werden, indem Sie eine nicht-wertende, jeden Moment neue Bewusstheit kultivieren.

       Das Leben ist der ultimative Meditationslehrer

      Die Praxis der Achtsamkeit läuft letztendlich darauf hinaus, wie Sie Moment für Moment für Moment entscheiden, Ihr Leben zu leben, während Sie es noch können. Etwas konkreter: darauf, wie Sie sich entscheiden, Ihr Leben im Verhältnis zu den Dingen zu leben, denen Sie auf dem Gebiet begegnen, das ich manchmal »die totale Katastrophe« der menschlichen Grundsituation nenne, oder – etwas persönlicher: die totale Katastrophe, die das Leben jeder und jedes Einzelnen manchmal ist.

      Was den Hype angeht, könnte es vielleicht nützlich sein, das Wort »Achtsamkeit« mal einen Moment beiseite zu lassen. Es ist ja nur ein Wort. Wir zeigen auf etwas hinter dem Wort, auf seine tiefste Bedeutung, nämlich reine Bewusstheit – vielleicht der bemerkenswerteste Charakterzug der Menschheit und einer ihrer evolutionären Aktivposten.

      Sobald wir uns im Bereich reiner Bewusstheit befinden, sind wir auch im Bereich der Relationalität. Genau deshalb nämlich, weil Sie achtgeben, wird es viel einfacher, zu sehen, wie in diesem vernetzten Universum alles mit allem zusammenhängt. Die Herausforderung für uns, die wir die Grundausstattung besitzen, in unserer Bewusstheit verweilen zu können, und uns dieser Bewusstheit auch bewusst zu sein, ist die: Wie interagieren wir innerlich und äußerlich mit der Realität, sowohl im Bereich des Da-Seins (Wachheit) und im Bereich des Tuns (Tätig-Werdens)? Sobald Sie Ihre eigene Bewusstheit einmal angezapft und zu bewohnen gelernt haben, gibt es keinen Rückweg mehr in den Schlaf. Wozu auch?

      Achtsamkeit ist und war auch immer eine Sache von »Herzerfülltheit«. Im Chinesischen und vielen anderen asiatischen Sprachen ist das Wort für »Geist« und das Wort für »Herz« dasselbe. Im Chinesischen besteht das Ideogramm für Achtsamkeit aus dem Schriftzeichen für »Präsenz« oder »jetzt« über dem Zeichen für »Herz«. »Achtsamkeit« ist also »Herzerfülltheit«.9 Sie war es immer. Und das bedeutet, dass sie von Grund auf ethisch orientiert ist. Sie muss auf Nicht-Verletzen gegründet sein und ist es auch. Warum? Weil es nicht möglich ist, gelassen zu sein, im Reinen mit dem eigenen Herzen, wenn Sie aktiv andere verletzen oder töten, oder lügen, stehlen, sexuelles Fehlverhalten zeigen oder schlecht über andere reden. Diese Dinge sind das Gegenteil von Nicht-Verletzen und von grundlegender menschlicher Güte.

       Was ist ein Name? Was uns Rose heißt, Wie es auch hieße, würde lieblich duften …

      Auf ähnliche Weise könnten wir auch sagen, dass Achtsamkeit auf eine tiefgründige Art auch Herzensgüte ist.10 Wäre gegen dieses Wort etwas einzuwenden? Wäre »Herzensgüte« zu schwierig, zu anspruchsvoll, allzu übertrieben? Ich bezweifle es. Ein Akt authentischer Güte und Freundlichkeit ist normalerweise