Planeten.13 Und doch hat die große Erzählung von menschlicher Freiheit und Gleichheit vor dem Gesetz, die wir in den USA mit dem Fahneneid auf »Freiheit und Gerechtigkeit für alle« (Pledge of Allegiance) Kindern und Einwanderern beibringen, wenn sie US-Bürgerinnen werden, weder die Widersprüche aufgearbeitet, die in Form von Genozid und Sklaverei am Ursprung unserer Nation liegen, noch die vielfältigen Formen, in denen unsere Gesetze (und ihre manchmal rücksichtslose und gewalttätige Durchsetzung) in der Tat auf eklatant asymmetrische Weise einige Wenige privilegieren. Solche Asymmetrien bei Privilegien und Macht sind in vielen anderen Gesellschaften sogar noch eklatanter. Das demokratische Modell, dessen Entwicklung sich vom alten Athen bis heute über Jahrtausende hinzieht, hat die Aufarbeitung der Widersprüche an seiner Wurzel und der Einflüsse finanzstarker Interessengruppen, die Freiheit und Chancengleichheit unterminieren, noch vor sich.
Heute, würde ich sagen, ist es für uns als Menschen an der Zeit, ein Upgrade hin zu einer Demokratie in die Wege zu leiten, die auf Weisheit und Mitgefühl gegründet ist; dafür einzustehen, dass alle Lebewesen ein Grundrecht auf Leben, Freiheit und die Suche nach dem Glück – dem pursuit of happiness in der US-amerikanischen Verfassung – haben, um dann zu hinterfragen und zu untersuchen, wie echtes Glück aussehen könnte und wo es eigentlich zu finden ist. Einem Bewusstsein für unser eigenes Denken und unsere Wünsche kommt hier eine große Rolle zu, weil letzten Endes unser Denken und unsere Wünsche einerseits die Quelle für großes Leid sind – und sie gleichzeitig andererseits die einzige echte Möglichkeit der Befreiung von diesem Leid bieten, für uns als Individuen und für die Welt.
Die Macht der Privilegien und die Privilegien der Macht
Wie wir alle wissen, spricht die amerikanische Unabhängigkeitserklärung, verfasst von Thomas Jefferson, von »Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück« (Life, Liberty, and the Pursuit of Happyness). Aber schon zu dem Zeitpunkt, an dem die US-Verfassung beschlossen wurde, war die Formulierung »Streben nach Glück« bereits zugunsten von »Eigentum« fallengelassen worden. Nicht sonderlich überraschend, denn die Verfassung war eine Rechtsurkunde, und alle Unterzeichner waren Grundbesitzer (und weiße Männer), wogegen die Unabhängigkeitserklärung eine revolutionäre »Unzufriedenheitserklärung« war, ohne rechtlich bindende Wirkung. Genau genommen signalisierte das Dokument die Abkehr von den Strukturen und Strafmaßnahmen des britischen Empire und die unverblümte Zurückweisung seines Herrschaftsanspruches über die Kolonien. Solche Ironien sind ein schlagender Beweis, dass der Entwicklungsbogen von Freiheit und Demokratie auf diesem Planeten genau das ist: ein evolutionäres Experiment, das sich im Laufe der Zeiten entfaltet und für vielerlei Störungen anfällig ist. Also greift jedweder Absolutismus in Bezug auf die Freiheits- oder Machtfrage zu kurz und verstellt tendenziell den Blick. Im Endeffekt braucht die Demokratie etwas anderes, das über reine Machtausübung hinausgeht: Sie braucht Weisheit. Und Weisheit entsteht nur aus der Erkenntnis, dass das Verfolgen von allzu eng definierten »Eigeninteressen« genau jene Blindheit hervorbringt – vor allem unter dem Gesichtspunkt, dass ja recht fragwürdig ist, was dieses »Eigene« eigentlich ist, nicht nur bei uns als Menschenwesen und Bürger, sondern erst recht bei Großkonzernen und Regierungen. Für echtes Glück und Wohlbefinden (um einmal kurz Aristoteles eudaimonia zu bemühen) brauchen wir, mit anderen Worten, Wachheit; wir müssen lernen, das Eigentliche und Wesentliche in uns Wesen, in uns menschlichen Wesen, zur Freundin zu machen. Das ist das Gebiet des Nicht-Dualen, hinter allem Denken, jenseits des Denkens, das Gebiet der Bewusstheit selbst (siehe Band 2: Wach werden und unser Leben wirklich leben).
Die Übung des Nicht-Tuns
»Nicht-Tun«, ein elementarer Bestandteil der Kultivierung von Achtsamkeit, klingt fast un-amerikanisch, so sehr sind wir eine Kultur der Macher und Tatmenschen. Doch die Möglichkeit des Nicht-Tuns/Daseins, durch die wir unser gesamtes Tun (individuell und kollektiv) verstehen und auf soliden Boden stellen können, erscheint uns im Westen zunehmend attraktiv. Es ist eine Einladung, sich auf die vielversprechende Perspektive einzulassen, wie eine erleuchtete demokratische Gesellschaft zum jetzigen Zeitpunkt aussehen könnte, und sich gleichzeitig vor den Impulsen der Gier, des Hasses und der Verblendung zu hüten – vor allem, wenn sie durch ungerechte Gesetze noch untermauert und zementiert werden –, die jene unterminieren oder völlig auf den Kopf stellen könnten (in unseren digitalen Zeiten eine zunehmend gruselige Aussicht). Oder, wie die NATO es ausdrückt: Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit. Wenn die NATO nur wüsste, wie recht sie hat! Aber diese Wachsamkeit muss aus einem klaren Kopf und einem klugen Herzen kommen und im Boden von Ethik und Moral wurzeln. Sonst kann diese Freiheit allzu schnell zum Neusprech à la George Orwell werden. Sie kann auch das begünstigen, was wir 2018 im Weißen Haus am Werke gesehen haben, womöglich in noch groteskerer, noch offenkundigerer, noch beängstigend gefährlicherer Form als früher, was aber eigentlich immer eine gesellschaftliche Tendenz gewesen ist, die periodisch immer wieder auftaucht, Fuß fasst und die Macht übernimmt. Und wenn das passiert, sterben jedes Mal erneut viele Menschen. Eine Menge Menschen, sogar Kinder, wandern grundlos ins Gefängnis. Und Liebe und Mitgefühl sterben aus, so scheint es.
Aber das passiert nie ganz. Es ist nur eine weitere von diesen kurzsichtigen Erzählungen, die wir uns vorsagen und die uns momentan ein Gefühl der Bestätigung geben, je nach unseren Überzeugungen und Loyalitäten. Menschliche Güte und Fürsorge können nicht sterben. Bewusstheit und Weisheit können nicht sterben. Sie sind in unserer DNS und kommen oft unter übelsten und albtraumhaftesten Bedingungen ans Licht. Jede(r) von uns ist fähig zu großer Liebe wie auch (leider) dazu, sich selbst und anderen sehr zu schaden, durch Handeln und durch Unterlassen. Warum nicht die Liebe stärken? Warum nicht die Weisheit stärken? Warum nicht unseren Geist in diese Richtung lenken? Es ist schließlich die Richtung, in der echte Freiheit und echtes Glück zu finden sind.
Eine größere Vision, was »Selbst« und »Eigeninteresse« sind
Fördern wir doch das Leben, so gut wir können, indem wir unsere Definition erweitern, was »eigene Interessen« sind, und eingehend untersuchen, was wir mit »Selbst« und »Ich« meinen, mit »mir« und »mein«, mit »wir« und »die anderen« – und was es mit »uns« macht, wenn wir in die Falle reflexhafter emotionaler Distanzierung und Dehumanisierung tappen. Auf ähnliche Weise könnten wir untersuchen, was echtes Wohlbefinden und Glück ist, wenn wir es schaffen, in dieser Hinsicht in Schlüsselmomenten »einstweilige Verfügungen« gegen uns zu erlassen, sanfte Erinnerungshilfen, dass wir nicht reflexhaft in dieses Freund-Feind-Denken verfallen müssen, weder persönlich noch politisch.
Die Zukunft gestalten, indem man die Gegenwart vollständig annimmt
Und wo wir schon dabei sind: Staunen wir doch einmal über unsere Rolle in dem, was auf uns zukommt, und leisten wir jede(r) auf seine/ihre Weise einen Beitrag dazu, indem wir uns voll und ganz dem jetzigen Moment widmen. Wenn wir das tun, ist der nächste Moment auf eine tiefgreifende Weise anders, weil wir uns entschieden haben, in diesem Moment voll und ganz da zu sein. Das ist der Weg, die Zukunft zu gestalten – eine weisere und freundlichere Zukunft – indem wir uns um die Gegenwart kümmern, die wir jetzt haben, und auf sie mit unserer vollen Präsenz und multiplen Intelligenz eine Antwort geben. Mit anderen Worten: achtsam, in Bewusstheit.
Dieses Buch lädt Sie ein, in dieser Sache Ihrer Kreativität und Ihrem kulturellen Erbe zu vertrauen, egal, welcher Kultur oder welchem Land Sie angehören oder mit welcher Sichtweise Sie sich identifizieren. Durch die kontinuierliche Kultivierung von Achtsamkeit und Herzerfülltheit tragen wir alle, jede und jeder auf seine/ihre bescheidene, aber keineswegs unbedeutende Weise, zu einer multidimensionalen, gegenseitig verflochtenen Gewebestruktur bei, in der wir Knotenpunkte leibhaftiger Weisheit sind, die Zug um Zug unsere Welt heilen und verwandeln kann. In der Art, wie wir mit unseren Kindern und Enkelkindern im konkreten Moment (und nicht in der Abstraktion) umgehen und interagieren, tritt eine lebendig verkörperte Weisheit ans Licht. Sie manifestiert sich in der Welt, die wir ihnen weitergeben. Sie wohnt in unserer Arbeit, in unseren Beziehungen, in unserer Bereitschaft, für das einzustehen, was wir am meisten wertschätzen, und es zu verkörpern in der Art, wie wir uns im Handeln und in unseren Entscheidungen verhalten. Sie erscheint, wenn wir bereit sind, uns hinzusetzen und anderen wohlwollend zuzuhören, die die Dinge vielleicht ganz anders sehen als wir, wenn