historischer oder sozialer Natur, oder einfach nur Positionen, die Sie in der Familie zu den verschiedenen Themen beziehen, die jeden Tag aufkommen – Sie könnten einen Augenblick auch all denen Beachtung schenken, die eine diametral entgegengesetzte Meinung vertreten. Sind sie denn alle auf dem Holzweg? Oder sind sie »schlechte Menschen«? Gibt es in uns womöglich die Tendenz, andere zu entmenschlichen, sie in eine Schublade zu stecken, sie vielleicht sogar zu dämonisieren? Finden Sie in sich eine Tendenz, Verallgemeinerungen über »sie« anzustellen und Pauschalurteile über »sie« und »ihren Charakter« oder ihre Intelligenz oder gar über ihre Menschlichkeit zu fällen? Wenn wir anfangen, auf diese Weise auf das zu achten, was in unserem Kopf passiert – unsere Gedanken schlichtweg als Gedanken zu sehen, unsere Meinungen als bloße Meinungen, unsere Emotionen als Emotionen –, dann stellen wir vielleicht ganz schnell fest, dass dieses Generalisieren und Auf-einen-Haufen-Werfen uns sogar mit Menschen passiert, mit denen wir zusammenleben und die wir lieben. Das ist der Grund, warum die Familie gewöhnlich so ein wunderbares (und manchmal auch wahnsinnig machendes) Labor für die Erzeugung von größerem Gewahrsein, von mehr Mitgefühl und Weisheit ist und die Chance bietet, diese Tugenden im Alltagsleben tatsächlich umzusetzen und zu verkörpern. Denn wenn wir uns plötzlich in der Situation wiederfinden, in der wir eisern an der Überzeugung festhalten, dass wir Recht und die anderen Unrecht haben, dann kann das, selbst wenn es in großem Maße zutreffen sollte und sehr wichtige Dinge auf dem Spiel stehen (oder wir das zumindest meinen und auf Biegen und Brechen darauf beharren), unsere Wahrnehmung verzerren: Wir riskieren, der Verblendung anheimzufallen, und dem, was ist. Wir riskieren, der Eigentlichkeit der Dinge und der Beziehungen, in denen wir uns befinden, in einem gewissen Ausmaß Gewalt anzutun, jenseits aller »objektiven« Gültigkeit der einen oder der anderen Position. Wenn ich meinen eigenen Geist prüfe, dann muss ich zugeben, dass ich selbst jeden Tag zu all diesen Dingen neige und auf sie achtgeben muss, damit ich nicht in großem Stil verdumme. Und ich denke, dass ich in dieser Hinsicht nicht der Einzige bin.
Wenn nur ein klein wenig davon im Spiel ist – und das Gleiche läuft aller Wahrscheinlichkeit nach auch bei denen ab, die gegenteiliger Meinung sind als Sie, wenn diese Menschen an Sie denken und »alle Gleichgesinnten« –, ist es in dieser Situation dann auch nur im entferntesten wahrscheinlich, dass irgendjemand begreift, was in Wirklichkeit vor sich geht? Begreift, dass es möglich wäre, zumindest ein paar Gemeinsamkeiten, identische Interessen, eine größere Wahrheit anzuerkennen? Oder hat die Art, wie wir sehen und denken, die Situation, das Thema oder die Tagesordnung dermaßen polarisiert und uns so blind gemacht, dass es nicht mehr möglich ist, die Dinge so zu sehen und zu erkennen, wie sie wirklich sind? Oder uns daran zu erinnern, dass wir es eigentlich nicht wissen und in diesem Nicht-Wissen eine riesige kreative und potenziell heilende Kraft liegt? Das ist nicht Ignoranz, und es ist auch nicht ignorant. Es ist mitfühlend. Es ist klug. Das Wissen, dass wir es nicht wissen, ist kraftvoller und heilsamer, als aus schierer Angst Mauern zu bauen oder mit dem Finger auf andere zu zeigen oder Vorwände für einen Krieg zu suchen oder endlos neue Feindbilder zu schaffen.
Zu wissen, dass wir es nicht wissen (oder gewöhnlich nur teilweise wissen), kann zu enormen Lichtblicken im Herzen und im Geist führen und zu Potenzialen orthogonaler Art, die ansonsten nicht möglich wären. Erinnern Sie sich, was der koreanische Zen-Meister Soen Sa Nim (Bände 1 und 3) mit Leuten machte, die an irgendeiner Position festhielten. »Wenn Sie sagen, dies sei ein Stock oder eine Uhr oder ein Tisch, eine gute Situation oder eine schlechte Situation oder die Wahrheit, dann gebe ich Ihnen dreißig Schläge (metaphorisch natürlich – er hat nie jemanden geschlagen). Und wenn Sie sagen, dies sei kein Stock, keine Uhr, kein Tisch, keine gute Situation oder keine schlechte Situation oder die Wahrheit, dann gebe ich Ihnen dreißig Schläge. Was tun Sie?«
Bedenken Sie: Er erinnert uns eigentlich daran, aus diesem Schwarz-Weiß-Denken, diesem Freund-Feind-Denken, diesem ständigen »Ist es gut oder schlecht?« aufzuwachen. Es war ein Akt des Mitgefühls, uns in diese Zwickmühle zu bringen oder uns aufzuzeigen, dass wir das ja dauernd selber tun.
Ja, was tun? Was tun? Sollen wir die Dinge denn nicht beim Namen nennen? Was ist mit Völkermord, Mord, Ausbeutung, Wirtschaftskriminalität, politischer Korruption, institutionalisierten Strategien der Täuschung (im Internet und anderswo), strukturellem Rassismus und Ungerechtigkeit? Ja, natürlich können wir die Dinge beim Namen nennen, und manchmal haben wir sogar die moralische Pflicht, aufzustehen und sie zu benennen, wenn wir tatsächlich Bescheid wissen. Aber wenn Sie Bescheid wissen, wenn Sie die fragliche Sache wirklich klar sehen und nicht einfach an einem Vorurteil festhalten, dann werden Sie auch sofort sehen, dass es vielleicht nicht das Einzige oder Wichtigste ist, das Ding beim Namen zu nennen, besonders wenn das alles ist, was Sie tun. Es könnte etwas geben, das in dieser Situation angemessener ist, als nur einen Begriff oder ein Etikett hinzustellen, ganz gleich, wie wichtig es ist, aufzustehen und das, was geschieht, beim Namen zu nennen – und es ist extrem wichtig. Es kann auch zwingend notwendig sein, zu handeln, und zwar klug zu handeln, um einen konkreten, lebendigen Weg zu finden, auf dem man mit dem, was sich entwickelt, auf integere und würdevolle Weise eine Beziehung aufbauen kann. Etwas, was Sie vielleicht tatsächlich tun können, das über bloßes Benennen oder gar Beschimpfen hinausgeht oder darüber, lediglich mit Gleichgesinnten einer Meinung zu sein.
Wenn es im wörtlichen Sinne um »Dinge« ginge, die beim Namen zu nennen sind, wäre es wohl angemessen, sie in die Hand zu nehmen, etwas mit ihnen zu arbeiten und andere dazu zu bringen, mitzumachen. In jedem Moment so zu handeln, dass unsere Erkenntnis leibhaftig zum Ausdruck kommt, wäre das Beste, was wir in jedem Moment tun können, und auf diese Weise würden wir uns schrittweise in Richtung Weisheit bewegen, wenn wir bereit wären, aus den Konsequenzen unserer Handlungen zu lernen. Alles andere kann sehr schnell zu leerem Gerede werden. Der Politiker, der sich um ein Amt bewirbt, nennt die Dinge beim Namen und sagt, es müsse etwas geschehen. Doch wie kommt es, dass seine (oder ihre) Ansichten über diese »Dinge« sich so schnell und so radikal ändern, sobald er oder sie im Amt ist? Metaphorisch gesprochen, ist dieses jeweilige »Ding« oder Thema immer noch da. Oder war es im Moment der Wahlkampfrede nur deshalb ein Thema, weil es ihr gerade in den Kram passte und es ein nützliches Werkzeug zu einem ganz anderen Zweck war?
Bertrand Russell paraphrasierend könnte man sagen, dass die Menschen gelernt haben, durch die Luft zu fliegen und in die Tiefen des Meeres hinabzutauchen. Aber wir haben noch nicht gelernt, auf dem Festland zu leben. Die letzte Herausforderung für uns ist nicht der Ozean oder der Weltraum, so interessant und verlockend sie auch sein mögen. Die letzte, die wichtigste und dringlichste Herausforderung für uns sind der menschliche Geist und das menschliche Herz. Sie besteht darin, dass wir uns selbst erkennen, und zwar, am allerwichtigsten, von innen her! Die letzte Herausforderung ist eigentlich das Bewusstsein selbst. In ihr kommt alles zusammen, was wir wissen, alle Weisheitstraditionen aller Völker auf diesem Planeten, einschließlich all der verschiedenen Arten des Wissens – durch Wissenschaft, Kunst, alte Stammeskulturen, durch meditatives Erforschen, durch lebendig-konkrete Achtsamkeitpraktiken. Das ist die Herausforderung unserer Ära und unserer Spezies, heute, da wir weltweit auf so viele Arten miteinander vernetzt sind, dass das, was in Helsinki oder Moskau oder in Tweets aus dem Weißen Haus passiert, was in Brüssel oder Bagdad oder Kuala Lumpur passiert, oder in Mexiko-Stadt oder New York oder Washington oder Kabul oder Peking oder sonstwo, schon am nächsten Tag oder im nächsten Monat das Leben der Menschen praktisch überall und allerorten auf der Welt zutiefst beeinflussen kann. Und damit ist noch nichts über die massive Zersplitterungen gesagt, die ständig die Demokratie selbst bedrohen: die Ideale echter Inklusion und Gleichheit vor dem Gesetz, die dafür sorgen sollen, dass alle »Zellen« des politischen Gemeinwesens dieselbe »Blutversorgung« haben. Es ist das exakte Gegenteil davon, den Kopf in den Sand zu stecken und sich nur um die eigenen, eng definierten Interessen zu kümmern, die Maximierung der eigenen Sicherheit oder Zufriedenheit oder Vermögenslage. Vielmehr ist es so, dass dieses ganze Unternehmen namens Achtsamkeit und das Erforschen der Möglichkeiten, uns selbst und die Welt zu heilen, einen Weg bietet, uns sozusagen von Zeit zu Zeit in diesem »Wald« umzuschauen und seine Fülle direkt zu spüren, statt den »Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen« und sich in Einzelheiten von Bäumen und Ästen zu verlieren, so wichtig diese Einzelheiten auch sein mögen. Es erinnert uns daran, dass die verzerrende Optik engstirniger und unhinterfragter Gedanken und Meinungen – gewöhnlich getrieben von Angst, Gier, Hass und Verblendung in unterschiedlichem Ausmaß,