Daniel Siegel

GEWAHR SEIN


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Ein Grund dafür könnte der sein: Wenn wir uns des eigenen Gewahrseins gewahr werden, also der metaphorischen Nabe des Rads, können wir einen Zustand der Offenheit und erweiterten Möglichkeit erfahren, der sich vom Gefühl der Sicherheit unterscheidet, das sich einstellt, wenn wir nur des metaphorischen Rands des Gewussten gewahr sind. An »vertrauten Orten« auf dem Rand »verloren zu gehen« – selbst dann, wenn diese Empfindungen, Gedanken oder Gefühle von Trauma und mangelnder Fürsorge herrühren –, kann ironischerweise beruhigender sein als der Zustand von Unsicherheit und Freiheit, also die Erfahrung der Nabe. Das Muster, in den Geisteszustand des Missbrauchs hineingezogen zu werden, in jene Elemente am Rand, könnte sich wie eine passive Opferrolle oder auch wie ein aktiver wütender Zustand des Zurückschlagens anfühlen. Diese Zustände offenbaren, wie wir reaktiv auf Bedrohung antworten. Für Teresa bedeutete reaktiv zu sein, manchmal angsterfüllt vor Herausforderungen fliehen zu wollen, oder manchmal auch, die zu bekämpfen, die sich mit ihr verbinden und sie unterstützen wollten. Was Teresa brauchte, war, vom Reaktivins Empfänglich-Sein zu wechseln. Offen und zugänglich für Verbindung zu sein ist keine passive Haltung, doch einer traumatisierten Person kann es wie ein Aufgeben und eine Bedrohung, verletzt und im Stich gelassen zu werden, erscheinen. Mit den Begriffen des Rads ausgedrückt, Teresas Reaktivität könnte als eine Folge des gewohnheitsmäßig Gewussten angesehen werden, des Kämpfens, Fliehens, Erstarrens und sogar des Ohnmächtig-Werdens, das Erbe wiederholter reaktiver Zustände ihrer Kindheit, die nun zu Merkmalen oder automatischen Tendenzen ihres Erwachsenenalters geworden waren.

      Dies ist ein wichtiges allgemeines Prinzip. Was wiederholt praktiziert wird, verstärkt das neuronale Feuern in Gruppen oder Mustern. Durch Wiederholung wird die neuronale Struktur buchstäblich verändert. So werden wiederholte Zustände zu dauerhaften Merkmalen.

      Sie dürften bemerkt haben, dass in jedem dieser Beispiele eine einfache wissenschaftliche Tatsache offenbart wird. Ich fasse dieses grundlegende Prinzip der Integration des Geistes zusammen:

       Wohin die Aufmerksamkeit geht, findet neuronales Feuern statt und es bilden sich neuronale Verbindungen.

      Für Teresa, wie für viele andere, bot das Rad eine Chance, die Autopilotzustände der Reaktivität zu verlassen und ihren Geist für neue Möglichkeiten des Seins und Tuns zu öffnen. Einen erwachten Geist zu haben bedeutet, die mentalen Prozesse der Aufmerksamkeit, des Gewahrseins und der Absicht zu nutzen, um neue Geisteszustände zu schaffen, die durch wiederholte Übung zu absichtlich geformten Eigenschaften werden können. Wenn diese Eigenschaft ein integrierter Geist ist, heißt das, dass wir von automatischer Reaktivität ohne Wahlmöglichkeit dazu übergehen können, uns frei zu entscheiden, wie wir antworten wollen. So könnte ein integriertes Bewusstsein Teresas Leben verändern: Durch wiederholte Übung könnte sie ihre Aufmerksamkeit, ihr Gewahrsein und ihre Absicht darauf richten, eine besser integrierte Lebensweise zu schaffen – die Grundlage der eudaimonia.

      Die Nabe des Rads repräsentiert das vom Gewahrsein Gewusste und ist die Quelle des empfänglichen Bewusstseins. Sie steht für offen und zugänglich zu sein, um sich mit allem, was auf dem Rand auftaucht, zu verbinden und sich nicht auf jenem Rand zu verlieren oder daran festzukleben, aufgebraucht vom Gewussten des Lebens. Auf diese Art und Weise könnte die Rad-Metapher Teresa helfen, sich ihres Gefängnisses gewahr zu werden, zu dem ihr Geist trainiert worden ist. Wenn Erfahrung sie lehren konnte, wie es ist, in einem Gefängnis zu sein, könnte eine absichtsvolle und wiederholte integrative Erfahrung – wie etwa die Übung mit dem Rad – sie lehren, sich selbst aus diesem Gefängnis zu befreien.

      Ideen sind wunderbar, aber manchmal, und tatsächlich recht häufig, ist auch Praxis vonnöten, um damit anzufangen, neue Seins- und Verhaltensweisen zu erfahren und diese befreienden Ideen tief in uns zu verankern, indem wir ihre Bedeutung in unserem Alltag leben.

      Wenn Teresa in Panik geriet, als sie anfangs die Nabe des Rads erkundete – als Teil einer Übung, die wir später besprechen werden –, legten wir eine Pause ein und erforschten, um was es sich bei der Erfahrung der Angst handelte. Wie bei vielen anderen Menschen, die irgendeine Form von Trauma erfahren haben, kann der anfängliche Fokus auf den Körper, auf Emotionen im Allgemeinen oder auf die Nabe selbst manchmal erschütternd sein. Diese aufwühlende Erfahrung, mit Geduld und Unterstützung aufgenommen, kann auch »gewinnbringend« sein, das heißt, dass sie tatsächlich ein unangenehmes Gefühl ist, aber zugleich eine Einladung zu weiterer Erkundung dessen, was geschehen könnte. Jedes herausfordernde Gefühl oder Bild kann eine Gelegenheit zum Lernen und Wachsen sein. Das ist letztendlich eine Lektion, die das Rad anbietet, indem es den Geist stärkt und uns aus dem Gefängnis der Vergangenheit befreit.

      Durch wiederholte Übung lernte Teresa viele Dinge aus diesen Erfahrungen. Eine Lektion bestand darin, dass das, was anfangs Angst auslöste, wie etwa sich auf Teile ihres Körpers zu fokussieren, die von ihren Eltern verletzt worden waren, verändert werden konnte. Sie begann sich mit diesem Fokus der Aufmerksamkeit wohler zu fühlen. Erinnern Sie sich daran: Wohin die Aufmerksamkeit geht, dort findet neuronales Feuern statt und es bilden sich neuronale Verbindungen. Teresa konnte nun flinker zwischen dem Fokussieren auf den einen oder anderen Punkt auf dem Rand und dem früheren reaktiven Fokus auf die gleichen Schmerzpunkte oder die aktiven Strategien, sie zu vermeiden, wechseln. Sie entwickelte einen integrierten Zustand der Empfänglichkeit, die auf der Nabe beruhte. Ihre Erinnerungen und früheren Züge der Reaktivität konnten jetzt einfach als Punkte auf dem Rand erfahren werden, da ihre Nabe zu einer Quelle des Reflektierens, des Gewahrseins, der Entscheidung und schließlich der Veränderung wurde.

      Eine andere wichtige Lektion für Teresa bestand in der Erkenntnis, dass ihre Nabe so erfüllt war von einem Gefühl, keine Kontrolle zu haben über das, was vor sich ging, dass sie die Nabe selbst anfänglich mit Angst betrachtete. Als sie die Übung weiterpraktizierte, ging diese Angst zuerst in eine moderatere vorsichtige Haltung über und dann in eine Haltung, die sich bis zu dem Punkt entwickelte, dass sie ihre Nabe mit Neugier anschauen konnte – eine wirkliche Erleichterung für sie nach so vielen Jahren, in denen sie sich vor ihrem eigenen empfänglichen Gewahrsein schützen musste.

      Teresa konnte nie einfach in der Weiträumigkeit des Präsentseins ruhen und sich für das öffnen, was auch immer auftauchte, sondern musste als Kind ständig auf der Hut sein vor dem nächsten Angriff unvorhersehbarer und schrecklicher Taten ihrer Eltern. Als sie nun einen neuen Zustand des Präsentseins zu genießen anfing, einen, in dem sie weit offen für das große Terrain vor ihr war, fühlte sie sich immer friedlicher und fröhlicher.

      Teresas Transformation erzählt uns, dass es im Leben niemals zu spät ist, sich zu entwickeln, zu wachsen und sich zu verändern. Durch das Bewusstseinsrad und andere Meditations- und Achtsamkeitsübungen ist es möglich, den Zustand empfänglicher Präsenz zu entwickeln, der die Basis für ein tiefes Gefühl des Wohlbefindens und größere Leichtigkeit, sich mitfühlend mit anderen zu verbinden, bilden kann. Traurigerweise lernen viele von uns, sich vor anderen in Acht zu nehmen, und sogar vor unserem eigenen Innenleben, und das sich daraus ergebende Gefängnis unserer eigenen mentalen Anpassungen um des Überlebens willen suggeriert uns, dass wir hilflos sind, eine Veränderung vorzunehmen. Wenn wir hingegen präsent sind, sind wir offen, uns mit anderen tief zu verbinden und uns sogar mit unserer inneren Erfahrung zu verbinden. Teresas Mut, sich in die Ideen und Übungen des Rads zu versenken, verhalf ihr dazu, eine innere Stärke und Resilienz zu entwickeln, die für den Rest ihres Lebens andauern wird.

      Zachary nahm an einem Workshop zur Praxis mit dem Rad teil, zu dem sein Bruder ihn eingeladen hatte. Obwohl Zacharys Geschäft florierte und sein Familienleben lebendig und erfüllt war, hatte er mit seinen fünfundfünfzig Jahren das Gefühl, dass etwas fehlte, das er nicht benennen konnte. Während der Übung mit dem Rad berichtete er, dass ein Schmerz in seiner Hüfte, den er fast ständig über zehn Jahre hinweg erfahren hatte, sich irgendwie aufzulösen schien. Als wir die Rad-Übung mehrere Male an dem Wochenende wiederholten, bemerkte er jeweils, wo der Schmerz gewesen war, und wie seine scharfe, überaus schmerzhafte Intensität stetig abnahm. Bei der fünften und letzten Wiederholung nahm er in seiner Hüfte nur noch eine Reihe von Empfindungen wahr, in die er hineinspüren und die er loslassen konnte.

      Zachary beschrieb die Befreiung von dem