Daniel Siegel

Das achtsame Gehirn


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Wenn wir diese mit kognitiver und reflektiver Achtsamkeit verbundenen neuronalen Mechanismen erhellen, dann könnte uns das dabei helfen, unser wissenschaftliches Verständnis zu erweitern und so den Weg dafür zu ebnen, spezifische, überprüfbare Fragen zu stellen. Solche neuronalen Einsichten könnten darüber hinaus Licht darauf werfen, wie praktische Anwendungsmöglichkeiten der Achtsamkeit entwickelt und umgesetzt werden könnten, und zwar auf eine Weise, wie wir sie uns bisher noch nicht vorgestellt haben. Indem wir zeigen, wie Achtsamkeit unsere sozialen neuronalen Schaltkreise beeinflusst, könnten wir in der Lage sein, unser Verständnis ihrer Auswirkungen auf das physiologische und psychische Wohlbefinden zu erweitern.

      Eine weitere wichtige Dimension des achtsamen Gehirns ist, dass wir, indem wir die mit achtsamem Gewahrsein verbundenen neuronalen Mechanismen verstehen, vielleicht eher in der Lage sind, seine universellen menschlichen Qualitäten zu identifizieren und es für ein breiteres Publikum zugänglicher und glaubhafter zu machen. Können Sie sich eine Welt vorstellen, in der diese die Gesundheit fördernde, die Empathie erhöhende, die exekutive Aufmerksamkeit entwickelnde, das Mitgefühl mit sich selbst nährende, erschwingliche und anpassungsfähige geistige Praxis für jeden verfügbar wäre?

      Bei der Vorbereitung auf die Erforschung dieser Themen habe ich mich mit zwei Arten des Wissens befasst – dem erfahrungsbezogenen und dem experimentellen. Ich habe an einer Reihe intensiver und unmittelbarer Versenkungen in das achtsame Gewahrsein teilgenommen, um die Kraft dieser bedeutenden Art, im Leben zu sein, zu spüren. Dieser Aspekt der Reise, über den ich noch sprechen werde, befähigt uns, die innere Dimension der Achtsamkeit quasi von innen nach außen zu erleben. Die zweite Art des Wissens ist gleichermaßen kraftvoll, jedoch anders geartet: Hier geht es um die wissenschaftliche Sicht auf das achtsame Gewahrsein.

      Ich erhielt eine Einladung, bei einem Sommer-Forschungsprogramm zu unterrichten. Dieses Programm wurde vom Mind and Life Institute gesponsert, das sich unter der Führung des Dalai Lama um die Integration von Wissenschaft und Meditation bemüht hat. Vertreter anderer Praktiken, unter anderem des kontemplativen christlichen Gebets, des dem Taoismus entstammenden Tai-Chi und des Yoga besuchten das Institut: Es gibt viele Wege, um achtsames Gewahrsein zu trainieren. Ich war auf einer Podiumsdiskussion und sprach über die klinischen Anwendungen von Achtsamkeit und die Transformation des Affekts durch Meditation. Bevor ich anfing, wollte ich ein Gespür dafür bekommen, welche Grundkenntnisse das Publikum in Neuroanatomie hatte, so dass ich die Einzelheiten meines Vortrags darauf abstimmen konnte. Als ich fragte: „Wer hier weiß, wie das Gehirn funktioniert?“, entgegnete einer meiner Podiumspartner, Richard Davidson, ein renommierter Forscher auf dem Gebiet der affektiven Neurowissenschaft: „Keiner von uns!“ Wir alle lachten und erkannten, wie Recht er hatte.

      Das Gehirn ist ein komplexes System, und wir „wissen“ nicht wirklich zur Gänze, wie es funktioniert, noch, auf welche Weise seine Funktionen genau mit der subjektiven Natur des Geistes verbunden sind. Und noch viel weniger wissen wir, wie achtsames Gewahrsein funktioniert. Aber dennoch stehen uns viele faszinierende Hinweise darauf zur Verfügung, wie geistiges Erleben und Gehirnstruktur und -funktion zusammenwirken. Die Gehirnfunktion und das geistige Leben sind nicht identisch. Wenn wir mit der Erforschung des achtsamen Gewahrseins befasst sind, dann müssen wir sehr bescheiden sein und sagen, dass wir nur sehr wenig über die Rolle des Gehirns dabei wissen. Doch wenn man sich unvoreingenommen den neuronalen Aspekten der Achtsamkeit zuwendet, dann kann das nur dazu beitragen, Licht auf die damit verbundenen Prozesse und Mittel zu werfen, um diese wichtige Dimension unseres subjektiven Lebens zu kultivieren. Und die daraus resultierenden Erkenntnisse könnten die objektive Natur unseres Körpers, unserer Beziehungen und unseres seelischen Wohlbefindens weiter bereichern.

      Wir können sagen, dass Geist und Gehirn sich in ihren Funktionen entsprechen, doch wir wissen de facto nicht, auf welche Weise Gehirnaktivität und Geistesfunktionen sich gegenseitig hervorbringen. Es ist allzu einfach, nur zu sagen, dass „das Gehirn den Geist erzeuge“, da wir mittlerweile wissen, dass der Geist auch das Gehirn aktivieren kann. Der Prozess, der den Energie- und Informationsfluss reguliert (unsere Definition von Geist), kann das Feuern des Gehirns direkt anregen und letzten Endes auch die strukturellen Verbindungen im Gehirn umgestalten.

      Wir können auf das Gehirn schauen, um Entsprechungen zu mentalen Prozessen zu finden, wie etwa beim achtsamen Gewahrsein. Diese Verbindungen sind einfach nur das: keine kausalen Beweise, sondern zwei Dimensionen der Realität, die letzten Endes nicht aufeinander reduziert werden können. Davidson und seine Kollegen haben zum Beispiel eine Verlagerung der Gehirnfunktion zu einer Dominanz des linken Frontallappens als Reaktion auf emotionale Auslöser festgestellt (Davidson et al. 2003), die mit einer Annäherungshaltung und positiveren Emotionen assoziiert werden, wie wir in Kapitel 10 sehen werden. Diese Linksverlagerung in Schaltkreisen, die für das Regulieren von Emotionen zuständig sind, korrelierte unmittelbar mit dem Grad an Verbesserung bei der Immunabwehr.

      Eine weitere Studie (Lazar, Kerr, Wasserman, Gray, Greve & Treadway 2005) zeigte eine Vergrößerung von zwei Gehirnbereichen: (1) des mittleren Präfrontalbereichs auf beiden Seiten und (2) diejenige eines damit verbundenen neuronalen Schaltkreises, der Inselrinde, die insbesondere auf der rechten Gehirnseite dicker war. Die Dicke in diesen Arealen hing mit der Länge der Zeit zusammen, in der die Achtsamkeitsmeditation praktiziert worden war. Hier sehen wir sowohl eine linksseitige als auch eine rechtsseitige Korrelation mit den Praktiken des achtsamen Gewahrseins (siehe Anhang III, Lateralität). Studien über andere Meditationsformen, bei denen man sich zum Beispiel auf das Mitgefühl konzentriert, zeigen wieder andere Veränderungen, wie etwa eine erhöhte Feuerkoordination, insbesondere im Präfrontalbereich auf beiden Seiten des Gehirns (Lutz, Greischar, Rawlings, Ricard & Davidson 2004). Eine umfangreiche Bewertung vieler Studien (Cahn & Polich 2006) zeigt eine ganze Reihe von Aktivierungen, insbesondere in den mittleren Präfrontalbereichen (anteriores Cingulum) durch die Achtsamkeitsmeditation.

      Ein positiver Effekt bei der Beschäftigung mit dem Gehirn und der Suche nach Entsprechungen mit dem Geist, zeigt sich darin, dass wir mehr über den Geist selbst lernen können. Bei der Untersuchung des achtsamen Gehirns werden wir uns nicht nur mit diesen und anderen Studien über Emotionen, Aufmerksamkeit und Exekutivfunktionen beschäftigen, sondern auch in das neue Gebiet der sozialen Neurowissenschaft eintauchen. Das achtsame Gewahrsein auch als Beziehung zu sich selbst anzusehen, die sich die neuronalen Schaltkreise unseres sozialen Lebens zunutze macht, könnte neues Licht auf die fundamentalen Prozesse werfen, die in der Erfahrung der Achtsamkeit verborgen liegen.

      Vorläufige Forschungen zu den Gehirnfunktionen deuten an, dass Achtsamkeit das Gehirn verändert. Warum sollte die Art und Weise, wie Sie im gegenwärtigen Moment aufmerksam sind, Ihr Gehirn verändern? Die Art und Weise, wie wir aufmerksam sind, fördert die neuronale Plastizität – die Umgestaltung neuronaler Verbindungen als Reaktion auf Erfahrung. Was wir untersuchen werden, sind die möglichen Mechanismen, wie sich die verschiedenen Dimensionen achtsamen Gewahrseins in der Aktivität des Gehirns niederschlagen und dann das Wachstum der Verbindungen in diesen Bereichen anregen. Indem wir tief in das unmittelbare Erleben eintauchen, werden wir in der Lage sein, etwas Licht darauf zu werfen, warum Forschungsergebnisse Veränderungen auf der linken und rechten Seite zeigen und welche globalen Auswirkungen sich dadurch für das integrative Funktionieren des Gehirns als Ganzes ergeben könnten.

      Lange bevor wir unseren Geist mithilfe von Reflektion zu kultivieren versuchten, haben wir uns als soziale Geschöpfe weiterentwickelt. Ein großer Teil unseres Gehirns im Ruhezustand, in der Standardeinstellung sozusagen, scheint ein neuronaler Schaltkreis zu sein, der mit dem Verstehen anderer in Beziehung steht (Gusnard & Raichle 2001). Es sind die sozialen Schaltkreise des Gehirns, die wir zuerst benutzt haben, um den Geist, die Gefühle, Intentionen und Einstellungen anderer zu verstehen. Wenn wir das achtsame Gewahrsein als einen Weg ansehen, um das Bewusstsein des Geistes von sich selbst zu kultivieren, dann erscheint es wahrscheinlich, dass es sich Aspekte der ursprünglichen neuronalen Mechanismen zunutze macht, um sich des Geistes anderer bewusst zu werden. Wenn wir uns unserer eigenen Intentionen und des Fokus unserer Aufmerksamkeit bewusst werden, dann verwenden wir dazu vielleicht genau diejenigen Schaltkreise im Gehirn, die zuerst Landkarten von der Intention und Aufmerksamkeit