Daniel Siegel

Handbuch der Interpersonellen Neurobiologie


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die Aktivitäten des Geistes. Zudem erleben wir die Erfahrung des Wissens, die subjektive Wahrnehmung, uns dieser verschiedenen Aktivitäten des Geistes bewusst zu sein, von den Körperempfindungen bis hin zu den Konzepten. Aber was sind diese Prozesse wirklich? Was ist die Erfahrung des Wissens innerhalb des Gewahrseins? Gibt es jenseits von Beschreibungen der Natur der subjektiven Erfahrung und des Bewusstseins auch eine Möglichkeit, um zu definieren, was der „Geist“ wirklich ist?

      Eine philosophische und wissenschaftliche Haltung dazu, die oft eingenommen wird, lautet, dass wir es einfach nicht wirklich wissen. Es gäbe noch so viel, das es herauszufinden gelte, sagen uns richtigerweise viele Akademiker, dass es besser sei, wenn wir uns nicht durch die Grenzen einer Definition einschränkten. Wir könnten auch der Haltung folgen, die viele Vertreter der wichtigen Disziplinen vertreten, die besagt, dass der Geist überhaupt nicht definiert werden sollte. Der Geist wird dort praktisch als Synonym für das Unbekannte gebraucht – ein Begriff, der etwas bezeichnet, das wir noch nicht verstehen und vielleicht auch nie vollkommen verstehen werden. Vielleicht ist das der Grund, warum so viele Forschungsfelder, die sich mit dem „Geist“ beschäftigen, ihn nicht definieren. Einige Philosophen haben zu mir gesagt, wir würden unser Verständnis dieser wichtigen Dimension des Menschseins begrenzen, wenn wir den Schritt zu einer Definition des Geistes gingen. „Tun Sie es nicht“, rieten sie mir. Und einige Wissenschaftler meinen, dass es nicht einmal möglich wäre, weil wir nicht wissen, was genau der Geist eigentlich ist.

      Doch als Lehrer, die in unseren Schülern einen starken und resilienten Geist heranbilden wollen, tappen wir im Dunkeln, wenn wir den Begrifft „Geist“ nicht definieren. Als Eltern sind wir ohne eine Arbeitsdefinition des Geistes als Ausgangspunkt sehr beschränkt, wenn wir uns bemühen, unsere Kinder in der Entwicklung eines gesunden und flexiblen Geistes zu unterstützen. Und für diejenigen von uns, die als Psychologen und Psychiater arbeiten – als Therapeuten des Geistes –, stellt sich noch eine weitere Frage: Können wir überhaupt berechtigterweise sagen, dass es in unserem Forschungsgebiet um den gesunden Geist geht, wenn wir uns noch nicht einmal bemüht haben, eine Arbeitsdefinition davon zu finden, was das eigentlich bedeutet? Das schien mir nicht ganz stimmig zu sein. In diesem Buch werden wir untersuchen, was vielleicht getan werden kann, um der klinischen Arbeit, der Organisationsberatung, der Praxis der Reflexion, der Pädagogik, der Kindererziehung und anderen Bereichen, in denen es um die Kultivierung eines gesunden Geistes geht, einen Ausgangspunkt zu geben.

      Seinerzeit am Strand des Pazifiks hatte ich den Eindruck, dass das Fehlen einer klaren Definition (und sei es nur eine Arbeitsdefinition) des Geistes den Zusammenhalt und Erfolg unserer interdisziplinären Gruppe bedrohte. Das Ringen um einen Ausgangspunkt, wodurch eine „Arbeitsdefinition“ entstehen konnte, die mit dem übereinstimmte, was die Teilnehmer als ihren Fokus auf bestimmte mentale Funktionen beschrieben, schien wichtig, um unsere Diskussionen fruchtbar zu machen.

      Wenn man darüber nachdachte, was jede der verschiedenen Disziplinen als mentales Leben beschrieb, schien der Geist etwas mit der Regulierung eines Flusses zu tun zu haben, der nicht nur aus Energie besteht, sondern aus bestimmten Mustern von Energieflüssen, die wir als „Information“ bezeichnen. Eine Information steht für etwas anderes als sich selbst. Eine Information ist ein symbolisches Energieflussmuster, ein Muster, das etwas bedeutet. Wenn ich zum Beispiel „Eiffelturm“ schreibe, dann sehen Sie vermutlich vor Ihrem geistigen Auge (was immer das sein mag) ein Bild der Eisenkonstruktion in Paris. Diese Formen des geschriebenen Wortes oder die Klänge des gesprochenen Wortes sind nicht der Turm selbst – sie stehen für den Turm. Der Turm wiederum ist der Turm selbst. Symbole des Turmes können in Ihrem, nun ja, Geist als Information existieren – in Ihrer subjektiven Erfahrung in diesem Moment. Sie stehen möglicherweise nicht nur für die architektonische Struktur, sondern vielleicht auch für Ihre erste Reise nach Paris, als Sie verliebt waren, sich unabhängig fühlten oder Heimweh hatten. Für mich war es der Moment in einer Beziehung zu einem Freund, in dem wir beide einige Meinungsverschiedenheiten zu klären hatten, weil wir uns uneins waren, wohin wir auf unserer Reise durch Europa als nächstes fahren sollten. Dennoch ist der Turm selbst immer noch der Turm. Ich schaue den Fluss entlang und kann ihn sehen, aber meine Wahrnehmung des Turmes ist nicht der Turm selbst. Und die Information des Turmes kann für jeden von uns ziemlich unterschiedlich sein. Unser Geist ist voller Informationen – symbolischer Bedeutungen, die aus Energieflussmustern entstehen, die für viele damit verbundene Dinge stehen. In der Tat ruft die Information selbst, wie wir noch sehen werden, einen Fluss vieler weiterer Informationen hervor. In uns entstehen so Kaskaden von Bedeutung, die jeden von uns einzigartig machen und jeden Moment zu einer einmaligen Erfahrung werden lassen.

      Aber es gibt noch einen wichtigen Aspekt des Geistes, der darüber hinausgeht, lediglich die Bewegung von Information in uns zu sein. Ihr Erlebnis, jetzt in diesem Moment den Eiffelturm vor Ihrem geistigen Auge zu sehen, kommt nicht nur aus Ihnen selbst. Ich habe den Namen des Turmes geschrieben und Ihr mentales Leben hat das Bild geschaffen. Wie ist das möglich? Wie alle Eltern, Anthropologen oder Soziologen wissen, leben wir nicht in Isolation voneinander. Unser mentales Leben gründet auf unseren Beziehungen. Die Interaktionen zwischen uns formen unsere mentale Welt. Dennoch wird Ihnen jeder Neurowissenschaftler sagen, dass der Geist durch die Aktivitätsmuster im Gehirn geformt wird. Wie können wir nun also dieses scheinbare Paradox versöhnen, das besagt, dass der Geist zugleich verkörpert und relational ist? Sollte etwas wie „der Geist“ nicht an einem Ort lokalisiert sein, aus einer Quelle kommen und von einem Menschen besessen werden? Das ist die Frage, der wir uns bei der Erhellung der Natur des Geistes zuwenden werden. Dabei können wir feststellen, dass der Geist zugleich in einem inneren physiologischen Kontext verkörpert und in einem äußeren relationalen Kontext eingebettet ist. Die grundlegende Natur des Geistes ist verkörpert und eingebettet.

      Aus den tiefsinnigen Gesprächen in unserer interdisziplinären Gruppe bildete sich Respekt für die einzigartigen Wege, wie voneinander getrennte wissenschaftliche Forschungsunternehmungen die Natur der Wirklichkeit untersuchen. Aus diesem Prozess stammt die Idee für das Forschungsgebiet der Interpersonellen Neurobiologie. Sie entstand als eine Form der Verknüpfung von einer großen Bandbreite an wissenschaftlichen Disziplinen, die sich mit der Natur des Geistes und der mentalen Gesundheit beschäftigen. Damals hatte ich den Eindruck – und das ist immer noch meine Ansicht –, dass die Formulierung einer Sicht der Wirklichkeit, die auf den Erkenntnissen aller Wissenschaftszweige gründet, eine feste Grundlage geben könnte, um die Natur unseres Lebens zu verstehen. Als ich die folgende Definition anbot, fand jedes Mitglied der Gruppe, dass sie mit seinen individuellen Perspektiven vereinbar war:

      „Ein Kernaspekt des Geistes kann als verkörperter und relationaler Prozess definiert werden, der den Fluss von Energie und Information reguliert.“

      Mit dieser Definition fanden wir einen gemeinsamen konzeptuellen Raum, in dem wir tief in unser grundlegendes Thema eintauchen konnten: Was ist die Verbindung zwischen dem Geist und dem Gehirn? Durch die Arbeit mit dieser Definition hatte die Gruppe eine gemeinsame Grundlage, auf der Kommunikation möglich wurde, und unsere Treffen setzten sich über viereinhalb Jahre fort. Seitdem hat es viele wissenschaftliche Erkenntnisse gegeben und die Interpersonelle Neurobiologie als eine Verständnisform des Geistes und unseres menschlichen Lebens ist in vielerlei Hinsicht gewachsen. Im Jahre 1999 erschien die erste Auflage meines Buches The Developing Mind (in deutscher Übersetzung erschienen als Wie wir werden, die wir sind), darin wurde dieser Ansatz als eine interdisziplinäre Verständnisform des Geistes und der mentalen Gesundheit vorgeschlagen. Wir haben nicht nur versucht, eine Arbeitsdefinition des Geistes zu formulieren, sondern auch Hinweise dazu gegeben, was ein „gesunder Geist“ sein könnte. Zwölf Jahre später wurden in der zweiten Auflage des Buches über zweitausend neue wissenschaftliche Quellen gesammelt, um diesen grundlegenden Ansatz zu bestätigen oder zu widerlegen. Ich hatte das Privileg, im letzten Jahr mit fünfzehn Forschungspraktikanten zu arbeiten, deren Aufgabe es war, zu beweisen, dass „die Interpersonelle Neurobiologie und The Developing Mind fehlerhaft sind“. Unter dieser Vorgabe brachten sie die Quellen auf den neuesten Stand und prüften, welche Aussagen im Buch verändert werden mussten. Oft fanden sie heraus, dass Aussagen wie „Die Wissenschaft hat noch nicht bewiesen, dass dies wahr ist“ nun verändert werden konnten, weil es neue Nachweise für viele der ursprünglichen Hypothesen gab. Somit wird auch das Schreiben dieses Handbuchs