„Narrenturm“ errichten ließ (das weltweit erste Spezialgebäude zur Unterbringung psychisch Kranker), sich gern vom gedanklichen „Odem“ der Narren inspirieren ließ. Angeblich hielt er sich deshalb häufig in der Laterne des Turmes auf, um hier Kreativität zu tanken.
Kranke Menschen boten dann auch in der medizinischen Forschung die entscheidenden Schlüssel für die Erkenntnis, dass offenbar untrennbare Zusammenhänge zwischen Gehirntätigkeit und Bewusstseinsleistungen bestehen.
Vom 19. Jahrhundert an bis heute wurden immer detailliertere neurologische Untersuchungen durchgeführt, die viele Wissenschaftler zum Schluss führten, dass es gar keine Leib-Seele-Dualität gäbe. Eine revolutionär neue Sichtweise etablierte sich, der zufolge Bewusstsein lediglich aus der Gehirntätigkeit resultiere. Sie veranlasste den deutschen Philosophen Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831) zu seiner bekannten spöttischen Bemerkung, das Denken sei, so betrachtet, nichts anderes „als Pissen“.
Unter Wissenschaftlern ist die Ansicht heute weit verbreitet, dass das Denken und Fühlen, dass Intelligenz und Bewusstsein sowie das Ich-Erleben im Grunde nur materielle Prozesse seien. Allerdings konnte sie sich allgemein nicht wirklich durchsetzen. Wohl vor allem deshalb nicht, weil diese Auffassung allzu radikal unserer Alltagserfahrung widerspricht.
Es mag ja faszinierend sein festzustellen, dass unter der eigenen Schädeldecke so viele Neuronen feuern, dass man einen Lastwagen mit Anhänger benötigte, um sie alle zu fassen, sofern jedes so groß wie ein Sandkorn wäre, oder dass man schätzungsweise 32 Millionen Jahre brauchte, um die Gesamtzahl der möglichen neuronalen Verbindungen – eine pro Sekunde – zu zählen. Solche Erkenntnisse mögen Aufsehen erregend und spektakulär sein – aber haben sie wirklich etwas mit uns zu tun? Mit der eigentlichen menschlichen Persönlichkeit?
Sollen wir uns selbst ernsthaft mit den unansehnlichen Windungen namens Hirn identifizieren, sie als unseren Wesenskern akzeptieren, berührt das eher unangenehm. Als Mensch sieht man sich lieber in gepflegter äußerer Form, genießt das Empfinden von Schönheit und Harmonie und möchte nicht kampflos hinnehmen, dass jedes Werte-Bewusstsein und Idealstreben auf dem Altar eines materialistischen Menschenbildes geopfert wird.
Und doch haben außergewöhnliche Krankheitsgeschichten in den vergangenen Jahrhunderten immer eindrucksvoller den engen Zusammenhang zwischen der Gehirntätigkeit und allen typisch menschlichen Denk- und Bewusstseinsleistungen aufgezeigt.
So führen beispielsweise Schädigungen in dem für die Sprachproduktion zuständigen „Broca-Zentrum“ (benannt nach dem französischen Arzt Paul Broca, 1824–1880) zu Problemen in der Sprachproduktion oder überhaupt zur Unfähigkeit des betroffenen Menschen, sprechen zu können – selbst dann, wenn Kehlkopf und Zunge voll funktionsfähig sind.
Auch führten Untersuchungen an sogenannten „Split-Brain-Patienten“ zu bemerkenswerten Ergebnissen. Solche Patienten haben infolge eines chirurgischen Eingriffs ein „geteiltes Gehirn“. Die Verbindung zwischen der bildorientierten rechten und der sprachorientierten linken Großhirnhälfte ist in ihrem Kopf getrennt. Der deutsche Neurobiologe und Autor Franz Mechsner beschrieb Experimente mit einem solchen Patienten: „Zeigt man der wenig sprachbegabten rechten Hemisphäre ein obszönes Bild, beginnt der Patient vielleicht zu grinsen. Gefragt, warum er grinse, gibt er jedoch nicht den wahren Grund an, sondern sagt etwas wie: ‚Ihr Hemd sitzt so komisch‘.
Die sprachbegabte linke Hemisphäre, die wegen der gekappten Verbindung zur rechten nichts von dem Bild weiß, fabuliert sich einfach eine Geschichte zusammen.“ („Die Suche nach dem Ich“, GEO 2/1998)
Genügt also ein chirurgischer Schnitt, damit plötzlich zwei „Ichs“ in einem Schädel sitzen? Jedenfalls leiten manche Forscher aus solchen Beobachtungen ab, dass unser Gehirn die Tendenz hat, sich selbst etwas vorzumachen, eine Wirklichkeit zu konstruieren – und sich auf diese Art in letzter Konsequenz auch den Eindruck von einem Ich-Bewusstsein zu verschaffen. Demnach wäre das menschliche Ich nichts weiter als das Ergebnis der Phantasiekunst des Gehirns. Das Ich würde nicht – wie Descartes meinte – selbst willentlich denken, sondern es würde vom Gehirn erdacht werden. Der Eindruck, den wir von uns selbst haben, von unserer geistigen Unabhängigkeit und Willensfreiheit, wäre demnach nur eine simple Illusion, die darauf beruht, dass das Gehirn alle Gedanken, Worte und Handlungen einem „Selbstmodell“ zuschreibt – und zwar einfach, wie der US-amerikanische Philosoph und Konstrukteur Daniel C. Dennett vermutet, „um seine Aktivitäten zu organisieren.“ Von Dennett stammt übrigens auch das „materialistische Glaubensbekenntnis“ zum Wesen des Menschen: „Ja, wir haben eine Seele, aber sie besteht aus lauter winzigen Robotern“.
Für den engen Zusammenhang zwischen Gehirnaktivitäten und bewusster Wahrnehmung sprechen nicht zuletzt auch Experimente, bei denen bestimmte Hirnareale elektrisch gereizt wurden, wodurch Erlebnisse oder auch Verhaltensänderungen ausgelöst werden konnten. Mit der gezielten Stimulation des „Gyrus angularis“, einer Windung der Großhirnrinde, ist es sogar gelungen, das Erlebnis des Austritts aus dem Körper, also außerkörperliche Wahrnehmungen, zu provozieren.
Solche Beobachtungen haben dazu geführt, dass die Mehrzahl der Wissenschaftler heute davon ausgeht, dass unser Bewusstsein vom Gehirn produziert wird – eine Ansicht, die wir allerdings noch gründlich hinterfragen werden. Denn viele Forscher, die sich eingehender mit der Wirkung von Gedanken beschäftigen, widersprechen ihr heftig.
Gehirnströme als Steuersignale
Unabhängig von so weitreichenden Schlussfolgerungen hat der Blick in das menschliche Gehirn in jüngster Zeit faszinierende Forschungsarbeiten ermöglicht und zu beeindruckenden Entwicklungen im Bereich der Medizintechnik geführt. Denn es ist möglich geworden, Geräte oder Prothesen allein durch Gedanken zu steuern.
Längst vorbei sind die Zeiten, in denen – etwa vom englischen Arzt und Philosophen Robert Fludd (1574–1637) – ebenso spekulative wie falsche Karten zur Architektur des Gehirns gezeichnet wurden, in denen man annahm, dass jeglichem Denken und Fühlen bestimmte Areale zugewiesen seien und sogar ein „Diebessinn“ sowie ein „Würge- oder Mordsinn“ im Gehirn verortet wurden. Alles Unsinn – soviel ist heute klar.
Die Gehirnforschung erlebte gegen Ende des 20. Jahrhunderts durch den Einsatz computerunterstützter Bildgebungsverfahren einen entscheidenden Durchbruch. Denn seither ist es möglich, die Vorgänge im Kopf, die Auswirkungen des Denkens und Fühlens am lebenden Menschen zu beobachten.
Dadurch erfahren wir immer detaillierter, wie unser Denk- und Steuerorgan wirklich „tickt“. So haben die Entdeckungsreisen in das schier endlos verzweigte und dabei sich unaufhörlich neu formende Labyrinth in unserem Schädel gezeigt, dass es nur sehr wenige Leistungen gibt, die eindeutig ganz bestimmten Hirnregionen zugeordnet werden können – etwa die Bewegungskoordination. Meist sind neuronale Netze aktiv, die sich über weite Teile des Gehirns spannen. Diese Tatsache macht es von vornherein schwierig, aus der Messung von Gehirnströmen auf Denkprozesse zu schließen.
Dennoch erzielte die Forschung gerade in diesem Bereich in jüngster Zeit große Fortschritte – und zwar nicht nur in der Theorie, sondern auch im Hinblick auf praktische Anwendungen. Einige revolutionäre medizintechnische Entwicklungen nutzen inzwischen Gehirnströme, um Geräte zu steuern. Es ist zum Beispiel möglich, allein durch die „Kraft der Gedenken“ Prothesen für Arme und Hände zu verwenden. Muskelgruppen können dabei so gezielt angesteuert werden, dass hochgradig gelähmten Menschen, die auch Ellbogen und Schulter nicht mehr selbsttätig bewegen können, das so entscheidend wichtige Greifen mit der Hand wieder ermöglicht wird.
Zu den diesbezüglich führenden Forschungseinrichtungen zählt das „Institut für semantische Datenanalyse“ an der Technischen Universität Graz. Die Pionierarbeit, die hier geleistet wird, hat entscheidend dazu beigetragen, dass manches, das man vor wenigen Jahren noch als pure Science-fiction bezeichnet hätte, mittlerweile Realität geworden ist.
Professor Gernot Müller-Putz, Leiter dieser Forschungsarbeiten, befriedigte im folgenden Gespräch, das ich im Herbst 2012 mit ihm führen konnte, freundlicherweise meine Neugier über den Stand der Dinge:
Sie arbeiten mit Ihrem Team im Institut für Semantische