Boyer ganz bewusst, den Wahnsinn herbeizuführen, um an Bergmanns Erbe zu kommen. Sie davon zu überzeugen, dass sie ihrer eigenen Wahrnehmung nicht trauen kann, macht sie allmählich verrückt. Im wahren Leben sind Gaslighter sich des eigenen Verhaltens selten so bewusst. Sowohl Gaslighter als auch Opfer scheinen aus einem Zwang heraus zu handeln. Sie sind in einem todernsten »Gaslight-Tango« gefangen, der von seinem verzerrten Blick auf sie und ihrer wachsenden Überzeugung lebt, er habe recht. Ich konnte kein anderes Buch ausfindig machen, das dieses spezielle Missbrauchsmuster erforscht, zumindest keines, das dieses Muster deutlich aufzeigt und Betroffenen gezielte Ratschläge gibt, um den Bann zu brechen und ihre Selbstachtung wiederzufinden. Also gab ich dem Phänomen einen Namen, schrieb das Buch – und war erstaunt über die vielen Reaktionen.
Eine neue Patientin nach der anderen kam in meine Praxis und bestand darauf, dass mein Buch irgendwie genau ihre Situation erfasste. »Woher wussten Sie, was ich durchmache?«, fragten viele. »Ich dachte, ich sei die Einzige!« Freundinnen, deren Beziehung ich für glücklich gehalten hatte, gestanden mir, dass auch sie unter Gaslighting litten – oder in früheren Beziehungen darunter gelitten hatten, in der Arbeit oder in der Familie. Kollegen dankten mir dafür, diesem Phänomen einen Namen gegeben zu haben, sodass sie jetzt mit ihren Patienten darüber sprechen konnten. Das vormals namenlose Phänomen schien weiter verbreitet zu sein, als selbst ich das angenommen hatte.
Kurz nach Erscheinen des Buchs begann ich mit Beratungen für Facebook, zusammen mit meinem Kollegen Marc Brackett, der das Center for Emotional Intelligence leitete, das Zentrum für emotionale Intelligenz, das sich an der Universität Yale befindet. Damals steckten die sozialen Medien noch in den Kinderschuhen, und bei Facebook sorgte man sich, dass sensible junge Menschen der Gefahr von Cyber-Mobbing ausgesetzt sein könnten. Marc und ich befragten Dutzende Jugendliche und junge Erwachsene, um eine Online-Plattform zu entwickeln, auf der man über die vielen verschiedenen Formen von Mobbing berichten konnte. Dazu gehören das Streuen von Gerüchten, fiese oder respektlose Bemerkungen, Stalken und offene Drohungen.
Diese Arbeit und unsere Unterrichtstätigkeit zu emotionaler Intelligenz, die uns in Schulen überall im Land führte, erbrachten noch mehr Beweise für die schädlichen Auswirkungen von Gaslighting. Marc und ich bekamen zahllose Geschichten von Jugendlichen zu hören, die nicht nur unter dem Gaslighting einer Person, sondern Dutzender ihrer Freunde und Facebook-Kontakte litten. Da bezeichnete eine junge Frau ihre Freundin als »überempfindlich«, weil sie sich über eine Kränkung geärgert hatte, und dann »likten« das 20 oder 30 andere oder posteten noch mehr Kritik. Die zerstörerische Wirkung des Gaslightings vervielfachte sich, weil das Opfer sich nicht nur der Manipulation durch den Gaslighter ausgesetzt sah, sondern auch glauben musste, dass »alle Bekannten« und mehrere Dutzend Fremde sie ebenfalls für »überempfindlich« hielten.
Aus unserem Projekt ging Facebooks Bully Prevention Hub hervor, im deutschen Facebook als Hub zur Vorbeugung von Mobbing bezeichnet. Hier haben Jugendliche die Möglichkeit, einen Missbrauch zu melden, und Eltern und Lehrern kann es als Gesprächshilfe dienen. Es machte mich sehr betroffen, wie oft Gaslighting die bevorzugte Waffe beim Mobbing war. Mit das Schlimmste am Gaslighting ist, dass es so schwer zu erkennen ist. Man spürt Selbstzweifel und Verwirrung – aber warum? Weshalb stellt man sich plötzlich so infrage? Wie kommt es, dass ein Mensch, der einem eigentlich zugetan sein sollte, uns dazu bringt, uns wie ein Häufchen Elend zu fühlen?
Beim Gaslighting handelt es sich um eine Art verdecktes Mobbing. Oft ist der Gaslighter der Ehemann, eine gute Freundin oder ein Familienmitglied und besteht darauf, einen zu lieben, obwohl er uns gleichzeitig untergräbt. Sie wissen, dass etwas nicht stimmt – aber Sie können es einfach nicht benennen. Der Ausdruck »Gaslighting« gibt dieser Art Missbrauch einen Namen. Das befähigt Sie, klar zu sehen, was Ihr Partner, Ihre Tante Martha oder Ihre angeblich beste Freundin wirklich tun. Das sagen Marc und ich auch immer unseren Studenten: Was einen Namen hat, kann bekämpft werden.
Gaslighting in den Medien
In den Jahren nach der Veröffentlichung meines Buchs sah ich gelegentlich Artikel, in denen der Begriff auftauchte. In der Zeitschrift The Week wurden beispielsweise in einer Besprechung des Films Zero Dark Thirty bestimmte Verhörmethoden als eine Art Gaslighting bezeichnet – wenn bei einem Verhör selbstverständlich auf Vorfälle Bezug genommen wird, die nie stattgefunden haben. So wird der Gefangene dazu gebracht, an seiner eigenen Erinnerung zu zweifeln. Der Fragensteller weiß genau, dass kaum etwas einen Menschen so verunsichert wie Zweifel an der eigenen Wirklichkeitswahrnehmung. Er weiß, dass Gaslighting den Willen eines Menschen schneller brechen kann als körperliche Misshandlung.
In der Zwischenzeit wurden in einer Reihe von Blogs die Begriffe Gaslighting und Mobbing miteinander verlinkt, sowohl im Hinblick auf persönliche Beziehungen als auch auf die Arbeit. »Ist Gaslighting eine geschlechtsspezifische Form von Mobbing am Arbeitsplatz?«, fragt Juraprofessor David Yamada in seinem Blog Minding the Workplace. In zahlreichen Blogs von Selbsthilfegruppen ist darüber zu lesen, wie wichtig es ist, einen Gaslighter zu erkennen und sich ihm zu widersetzen. Der Ausdruck »Gaslighting« ist in der deutschen Wikipedia definiert, wo auch mein Buch als weiterführende Lektüre angeführt wird.
2016 war das Jahr, in dem Gaslighting wirklich ins öffentliche Bewusstsein rückte. Im März dieses Jahres behauptete der Comedian und Moderator John Oliver, der für den Fernsehsender HBO arbeitet, Donald Trump habe ihn mittels Gaslighting manipuliert. Auf den ersten Blick schien die Sache eindeutig. Donald Trump ließ wissen, dass er eine Einladung zu Olivers Late-Night-Talkshow ausgeschlagen habe. »John Oliver hat seine Leute bei mir anrufen lassen, um mich zu seiner sehr langweiligen Talkshow einzuladen, die sich kein Mensch ansieht«, twitterte Trump. »Ich sagte ›NEIN DANKE‹. Reine Zeit- und Energieverschwendung!«
Und jetzt das entscheidende Detail: Es gab gar keine solche Einladung. John Oliver hatte gar kein Interesse daran, Trump als Gast in seiner Talkshow zu haben. Warum hätte er ihn da einladen sollen?
Als Oliver versuchte, das Missverständnis aus dem Weg zu räumen, trieb Trump es noch bunter. In einem Radiointerview behauptete er steif und fest, er sei nicht nur einmal, sondern gleich vier- oder fünfmal eingeladen worden.
Man sollte meinen, dass Oliver daraufhin den Twitter-Eintrag einfach bei der Begrüßung seiner Gäste in der nächsten Sendung erwähnen und mit seinem Team herzlich darüber lachen würde. Stattdessen habe er seine Wahrnehmung der Wirklichkeit infrage gestellt, gestand Oliver. Trump schien sich seiner Sache so sicher zu sein. Vielleicht hatte Oliver ihn ja eingeladen.
»Es hat mich wirklich verunsichert, Ziel einer solch selbstsicheren Lüge zu sein«, sagte Oliver während seiner Talkshow. »Ich habe sogar nachgeforscht, um sicherzugehen, dass niemand ihn versehentlich eingeladen hatte. Hatte aber natürlich niemand.«
John Oliver – Comedian, Talkshow-Moderator und linksliberaler Kommentator – legte keinerlei Wert auf Donald Trumps Zustimmung. Es war ihm egal, was Trump von ihm dachte oder wie sie zukünftig zueinander stehen würden. Trump hatte keinerlei Einfluss auf ihn, weder in emotionaler noch familiärer oder finanzieller Hinsicht. Und nach allem, was man sieht, ist John Oliver ein selbstbewusster Mann, der eine gefestigte Wahrnehmung der Wirklichkeit hat.
Und dennoch war es Trump gelungen, ihn an seiner Erinnerung von etwas so Eindeutigem zweifeln zu lassen wie der Tatsache, ob er Trump nun in seine Show eingeladen hatte oder nicht. Dazu schrieb Melissa Jeltsen, Chefreporterin bei der Huffington Post:
»Trumps Behauptung wurde mit einem solchen Elan vorgetragen, dass Oliver an der Wahrheit zu zweifeln begann, obwohl er wusste, dass Trump log. Eine solche Macht hat Gaslighting.«
Jeltsen hatte für diesen Artikel ein Interview mit mir gemacht. Darin bestätigte ich ihr, dass Trumps Verhalten gegenüber Oliver und anderen Gaslighting wie aus dem Lehrbuch war. »Wenn man nicht die Verantwortung für sein Handeln übernimmt oder die Verantwortung auf andere abwälzt oder versucht, die Glaubwürdigkeit desjenigen zu untergraben, der einen zu diesem Handeln befragt, dann handelt es sich um eine Form von Gaslighting«, hatte ich ihr gesagt.
Plötzlich begegnete einem dieser Begriff überall: beim Fernsehsender CNN, in den Zeitschriften Teen Vogue und Salon und in Dutzenden von