Robin Stern

Der Gaslight-Effekt


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Gaslight-Effekt – zehn Jahre danach

      Als mir der Verlag mitteilte, dass man eine Neuauflage von The Gaslight Effect plane, war das für mich die Gelegenheit, das Buch noch einmal gegenzulesen, das ich zehn Jahre zuvor geschrieben hatte. Wie beurteilte ich das Buch inzwischen – vor dem Hintergrund meiner Erfahrungen als Therapeutin, meiner Tätigkeit als Beraterin bei Facebook und meiner Arbeit am Yale Center for Emotional Intelligence?

      Ich las es noch einmal und bin erfreut, sagen zu können, dass ich es immer noch stichhaltig finde. Ich sehe keinen Bedarf, etwas daran zu überarbeiten. Im Vergleich zu der Zeit vor zehn Jahren fällt mir eines noch mehr auf: Je größer die Überzeugung – und vielleicht auch der Narzissmus – eines Menschen, desto selbstverständlicher hält er an seiner Wirklichkeit fest. Er ist unabhängig davon, wie viele Menschen sein Verständnis der Fakten hinterfragen. Dieser Narzissmus ist ein Schutz dagegen, andere Menschen zu ernst zu nehmen oder sich um ihre Ansichten zu scheren. Ein Narzisst wird vielleicht zornig, wenn andere seine Ansichten nicht teilen – viele Gaslighter reagieren so. Aber er wird nicht zornig, weil er an seiner grundsätzlichen Wahrnehmung zweifelt, sondern weil er es nicht erträgt, nicht die totale Kontrolle zu haben. Mit anderen Worten: Einem Gaslighter kann man nicht mit Gaslighting kommen – zumindest nicht, solange er selbst als Gaslighter auftritt.

      Uns anderen jedoch fällt es schwer, unsere Weltsicht aufrechtzuerhalten. Wir stellen infrage, ob wir uns sicher sind darüber, was wir gesehen oder gehört haben. Bescheidenheit und Selbsterkenntnis machen uns auf eine Weise angreifbar, wie es dem Narzissten nicht passieren könnte. Uns wurde von klein auf beigebracht, dass die Ansichten anderer manchmal zutreffender sind als unsere eigenen. Wenn wir jemanden oft genug wiederholen hören, »schwarz ist weiß« oder »oben ist unten«, fällt es schwer, sich nicht zu fragen, ob diese Person nicht doch etwas weiß, das wir nicht wissen.

      In meinem Buch verweise ich auf eine Hilfe, die ich noch immer für verlässlich halte: Ich rate dazu, auf die »Flugbegleiter« zu achten. Genau wie das Verhalten der Flugbegleiter uns offenbart, ob das Schlingern des Fliegers nur einer kleinen Turbulenz geschuldet ist oder eine echte Katastrophe ankündigt, so helfen diverse Flugbegleiter Ihnen auch im wahren Leben zu sehen, ob der neue Partner nur einen schlechten Tag hat oder sein Verhalten einem Muster folgt. Wenn Sie damit angefangen haben, Ihre eigene Realität infrage zu stellen, können Ihre Flugbegleiter – Familie, Freunde oder auch ein Therapeut – Ihnen helfen, zu einer genauen Einschätzung zu gelangen.

      Genauso können wir vielleicht im Hinblick auf politisches oder soziales Gaslighting zu unseren gegenseitigen Flugbegleitern werden. Es ist an uns, die Nachrichtenquellen zu finden, denen wir vertrauen, die Analysen, auf die wir uns verlassen wollen, die Tatsachen, die einer genauen Prüfung standhalten. Das kann niemand allein leisten – wir brauchen sowohl die »Experten«, denen wir glauben, als auch die Freunde, Nachbarn, Familienmitglieder und Kollegen, deren Ansichten wir schätzen. Gaslighting wirkt zutiefst destabilisierend. Vielleicht braucht es wirklich »ein ganzes Dorf«, um auf solidem Grund zu stehen.

      Ringen Sie aber persönlich mit einer Form von Gaslighting in Ihrem Privatleben, wird das Buch Der Gaslight-Effekt Ihnen dabei helfen, die Hintergründe zu verstehen, zu analysieren und schließlich freizukommen. Das kann bedeuten, dass Sie eine Beziehung von innen heraus umgestalten oder sie ein für alle Mal beenden. Mein gesamtes Berufsleben habe ich dem Ziel gewidmet, Menschen dabei zu helfen, ihr Leben mitfühlend, effektiv, produktiv und erfüllend zu gestalten. Aber das ist nicht möglich, wenn man in einer Gaslighting-Beziehung steckt, sein eigenes Verhalten dauerhaft hinterfragt und sich ständig für angebliches Versagen entschuldigt. Wie ich bereits vor zehn Jahren schrieb:

      »Sie haben genug Kraft, um sich von dem Gaslight-Effekt zu befreien. Der erste Schritt besteht darin, sich die eigene Rolle beim Gaslighting bewusst zu machen. Inwiefern führen Ihr Verhalten, Ihre Wünsche und Fantasien dazu, den Gaslighter zu verklären und von ihm anerkannt werden zu wollen?«

      So beginnt Ihre Reise. Das Buch Der Gaslight-Effekt soll Ihnen helfen und Ihnen bei jedem Schritt zur Seite stehen. Es gehört Mut dazu, sich auf diese Reise zu begeben. Ich bin gespannt auf alles, was Sie dabei lernen werden.

      Robin Stern,

      im August 2017

      Kapitel 1

      WAS IST GASLIGHTING?

      Katie ist freundlich und optimistisch. Wer sie trifft, dem schenkt sie ein Lächeln. Als Außendienstmitarbeiterin hat sie oft mit fremden Menschen zu tun, was ihr sehr gefällt. Sie ist eine attraktive Endzwanzigerin, die ihren jetzigen Freund Brian erst nach langem Suchen gefunden hat.

      Brian kann der liebe, rücksichtsvolle Beschützer sein, aber er ist auch ein ängstlicher, besorgter Mann, der Unbekannten mit Argwohn begegnet. Wenn beide zusammen ausgehen, gibt Katie sich offen und kontaktfreudig. Sie kommt schnell ins Gespräch, ob mit dem Mann, der nach dem Weg fragt, oder der Frau, deren Hund ihr vor die Füße läuft. Brian aber spart nicht mit Kritik. Sieht sie denn nicht, dass die Leute über sie lachen? Sie denkt, anderen gefallen diese Plaudereien, aber die verdrehen bloß die Augen und fragen sich, warum Katie so geschwätzig ist. Und der Kerl, der nach dem Weg gefragt hat? Der wollte sie doch bloß anbaggern – sie hätte mal sehen sollen, wie er ihr hinterhergegafft hat, kaum hatte sie sich umgedreht. Außerdem ist ein solches Verhalten total respektlos ihm gegenüber. Er ist schließlich ihr Freund. Was glaubt sie denn, wie er sich fühlt, wenn sie jedem Typ, der vorbeikommt, schöne Augen macht?

      Anfangs lacht Katie noch über Brians Gejammer. Sie ist doch schon immer so, sagt sie ihm, und sie ist einfach gern freundlich. Aber nach Wochen unerbittlicher Kritik beginnt sie, an sich zu zweifeln. Vielleicht lachen und gaffen die Leute ja wirklich hinter ihrem Rücken. Vielleicht flirtet sie ja wirklich dreist vor den Augen ihres Freundes – wie gemein, den Mann, der sie liebt, so zu behandeln!

      Irgendwann weiß Katie nicht mehr, wie sie sich verhalten soll. Sie will nicht auf ihre offene, freundliche Art gegenüber anderen verzichten – aber jedes Mal, wenn sie jetzt einem Fremden zulächelt, fragt sie sich, was Brian wohl denken würde.

      Liz arbeitet in einer Spitzenposition in der Werbung. Eine elegante Frau Ende 40, die seit 20 Jahren glücklich verheiratet ist und keine Kinder hat. Sie hat hart für ihre Karriere gearbeitet. Jetzt scheint sie ihrem Ziel nahe zu sein, denn sie steht kurz davor, das New Yorker Büro der Firma zu übernehmen.

      In letzter Minute bekommt jedoch ein anderer den Job. Liz schluckt ihren Stolz herunter und bietet sich an, ihm beizustehen. Zuerst scheint der neue Chef auch charmant und dankbar zu sein. Doch bald merkt Liz, dass sie bei wichtigen Entscheidungen außen vor gelassen und nicht mehr zu den wichtigen Meetings eingeladen wird. Gerüchten zufolge wird den Kunden erzählt, sie wolle nicht mehr mit ihnen zusammenarbeiten. Man solle sich lieber direkt an den neuen Chef wenden. Als sie sich bei den Kollegen beschwert, schauen die sie nur befremdet an. »Aber er lobt dich immer in den Himmel«, heißt es. »Warum sollte er so was Nettes sagen, wenn er dich auf dem Kicker hat?«

      Schließlich stellt Liz ihren Chef zur Rede, der eine plausible Erklärung für jeden Vorfall hat. »Hör mal«, sagt er am Ende des Treffens, »ich glaube, du nimmst dir das viel zu sehr zu Herzen – das ist ja fast schon paranoid. Willst du dir ein paar Tage freinehmen, um den Stress abzubauen?«

      Liz kommt sich total unfähig vor. Sie weiß, dass sie sabotiert wird – aber warum ist sie die Einzige, die das zu merken scheint?

      Mitchell ist Mitte 20 und studiert Elektrotechnik. Er ist groß, schlaksig und obendrein schüchtern. Er ist seit Langem auf Partnersuche, aber endlich hat er eine Frau kennengelernt, die er wirklich mag. Eines Tages weist seine Freundin dezent darauf hin, dass Mitchell sich immer noch wie ein kleiner Junge kleidet. Mitchell ist gekränkt, doch er versteht, was sie meint. Schon ist er im nächsten Kaufhaus, wo er sich von einem Personal Shopper eine komplette Garderobe zusammenstellen lässt. In dieser Kleidung fühlt er sich wie ein neuer Mensch – weltgewandt und attraktiv –, und er genießt die bewundernden Blicke der Frauen auf der Busfahrt nach Hause.

      Doch als er die neuen Kleider zum sonntäglichen Abendessen bei seinen Eltern trägt, platzt seine Mutter fast vor Lachen. »Ach, Mitchell, das ist ja gar nichts für dich