Verbindungen längerfristig aufrechtzuerhalten. Unser Gedächtnis ist einfach ein Prozess der Aufrechterhaltung neuer synaptischer Verbindungen.9
Die Wissenschaft ist dabei, genauer zu erforschen, wie wiederholte Gedanken diese neurologischen Verbindungen stärken und unsere Gehirnfunktionen beeinflussen. Wie einige interessante Studien belegen, ruft mentales Üben nicht nur Veränderungen im Gehirn hervor, sondern zeigt auch im Körper Wirkung. Probanden, die sich beispielsweise vorstellten, mit einem bestimmten Finger eine Zeit lang Gewichte zu heben, stärkten damit nachweislich den Finger.10
Anders als der Mythos vom festgelegten Gehirn uns glauben machen wollte, wissen wir heute: Das Gehirn verändert sich durch jede Erfahrung, jeden neuen Gedanken und durch alles, was wir neu lernen. Man nennt das »Plastizität«. Und es mehren sich die Beweise dafür, dass das Gehirn sich in jedem Alter verändern und formen lässt. Je tiefer ich in die Erkenntnisse über die Plastizität des Gehirns eindrang, desto mehr faszinierte mich, dass man das Gehirn mithilfe bestimmter Informationen und Fähigkeiten gezielt beeinflussen kann.
Die Plastizität des Gehirns ist seine Fähigkeit, sich bis weit in unser Erwachsenenalter hinein umzuformen und umzuorganisieren. Bei professionellen Geigern zum Beispiel findet man eine bemerkenswerte Vergrößerung des somatosensorischen Cortex (der mit dem Tastsinn verbundenen Gehirnregion), allerdings überwiegend im Bereich der linken Hand, die den Geigenhals hält und sich auf dem Griffbrett über die Saiten bewegt, und deutlich weniger im Bereich der rechten, den Bogen führenden Hand. Auch die beiden Gehirnhälften wurden verglichen: Der Bereich des Gehirns, der die Finger der linken Hand koordiniert, war deutlich größer als der (normal groß gebliebene) Bereich für die rechte Hand.11
Erst in den 1980er-Jahren löste die Vorstellung vom festgelegten Gehirn sich allmählich auf. Heute verstehen die Neurowissenschaftler das Gehirn als einen Bereich, der sich im gesamten Leben eines Menschen immer wieder neu organisiert.
Interessante Beweise widerlegen einen alten Mythos über die Nervenzellen. Lange Zeit glaubte man, Nervenzellen könnten sich nicht mehr teilen und vermehren. Wir haben damals gelernt, die Anzahl von Neuronen, über die wir verfügen, sei bei unserer Geburt festgelegt, und einmal beschädigte Nervenzellen könnten nicht mehr ersetzt werden. Das sieht man heute anders. Wie neuere Studien bezeugen, produziert ein normales, gesundes Erwachsenengehirn durchaus neue Gehirnzellen. Man nennt diesen Prozess »Neurogenese«. In den letzten Jahren hat die Forschung gezeigt, dass ausgereifte Nervenzellen im »Hippocampus« genannten Gehirnbereich sich nach Beschädigungen durchaus wieder regenerieren können.12
Und es können nicht nur geschädigte Bereiche wiederhergestellt werden: Es gibt inzwischen sogar Hinweise darauf, dass ein voll ausgereiftes Erwachsenengehirn jeden Tag neue Nervenzellen produzieren kann.
Nach einer Studie im Journal Nature vom Januar 2004 wächst ein bestimmter Bereich des Gehirns, wenn jemand beispielsweise Jonglieren lernt.13 Wie wir aus funktionellen Hirnscans wissen, kann Lernen die Gehirnaktivitäten verändern, doch diese Untersuchung wies nach, dass aus dem Erlernen von etwas Neuem sogar anatomische Veränderungen entstehen können.
Die Forscher der Universität Regensburg hatten 24 Freiwillige, die noch nie jongliert hatten, in zwei gleich große Gruppen aufgeteilt: Die eine Gruppe sollte drei Monate lang jeden Tag Jonglieren üben, die andere diente nur als Kontrollgruppe – ohne entsprechende Aufgabe. Am Anfang und am Ende der Studie wurden bei allen teilnehmern Gehirnscans mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) durchgeführt. Untersucht wurden jedoch nicht nur die Unterschiede in der Gehirnaktivität, sondern mittels einer hochkomplexen Analysetechnik (der »voxelbasierten Morphometrie«) prüfte man auch, ob sich Veränderungen in der grauen Substanz des Neocortex ergeben hatten. Die Dicke dieser grauen Substanz ist ein Hinweis auf die Gesamtzahl der Nervenzellen im Gehirn.
Bei den Probanden, die Jonglieren gelernt hatten, zeigte sich ein nachweisbarer Zuwachs der grauen Substanz in den mit visueller und motorischer Aktivität verbundenen Bereichen, und zwar sowohl im Volumen als auch in der Dichte: Ein Hinweis darauf, dass das Gehirn eines Erwachsenen neue Nervenzellen bilden kann. Die Neurowissenschaftlerin und Expertin für bildgebende Verfahren, Dr. Vanessa Sluming von der englischen University of Liverpool, meint dazu: »Was wir im täglichen Leben tun, könnte sich nicht nur auf die Funktion unseres Gehirns auswirken, sondern auch auf unsere Körperstruktur auf makroskopischer Ebene.« Interessanterweise schrumpften die vergrößerten Bereiche der Menschen, die Jonglieren geübt, aber anschließend mit dem Training aufgehört hatten, innerhalb von drei Monaten wieder auf ihre normale Größe zurück.
Selbst die Meditation hat vielversprechende Ergebnisse gezeigt, nicht nur auf die Gehirnwellenmuster, sondern auch bezüglich der Erzeugung neuer Hirnzellen durch achtsam nach innen gerichtete Aufmerksamkeit. Das Journal Neuroreport veröffentlichte im November 2005 eine Studie, die bei 20 Teilnehmern mit umfassender Erfahrung in buddhistischer Meditationspraxis eine vermehrte graue Substanz nachwies.14 Das Beste an den Ergebnissen dieser Studie: Die meisten Teilnehmer waren Normalsterbliche mit Job und Familie, die nur 40 Minuten am Tag meditierten. Man muss also nicht zum Heiligen werden, um seine Gehirnzellen zu vermehren. Die an dieser Studie beteiligten Wissenschaftler vermuten, Meditieren könnte auch die im Alter häufig auftretende Ausdünnung des Frontallappens verlangsamen.
Den Ergebnissen einer Studie von Fred Gage vom Salk Institute for Biological Studies in La Jolla, Kalifornien, zufolge, weisen Mäuse, die in einem Umfeld leben, das sie mental und physisch zusätzlich stimuliert, 15 Prozent mehr Gehirnzellen auf als Mäuse, aus einer für Nagetiere üblichen Umgebung. Darüber hinaus konnten Gage und eine Gruppe schwedischer Forscher im Oktober 1998 zum ersten Mal demonstrieren, dass menschliche Gehirnzellen über die Fähigkeit zur Regeneration verfügen.15
Anlass zur Hoffnung
Untersuchungen an Schlaganfall-Patienten haben einige spektakuläre Erkenntnisse über das Veränderungspotenzial des Gehirns zutage gefördert. Steht im Gehirn aufgrund einer Durchblutungsstörung plötzlich zu wenig sauerstoffhaltiges Blut zur Verfügung, wird neuronales Gewebe beschädigt. Häufig führen Gehirnschläge (Schlaganfälle) in dem mit Armen oder Beinen verbundenen Bereich des Gehirns zu entsprechenden Lähmungen. Gewöhnlich ging man davon aus, diese Lähmungen wären irreparabel – falls sie sich nicht in den ersten zwei Wochen zurückbildeten.
Doch auch dieser Mythos wird heute durch viele Studien infrage gestellt. Schlaganfall-Patienten, die diese erste Zeit längst hinter sich hatten – selbst über Siebzigjährige mit bis zu 20 Jahre alten Lähmungen –, konnten gewisse motorische Fähigkeiten dauerhaft zurückgewinnen. In einigen Forschungsprojekten, die Ende der 1970er-Jahre an der Abteilung für Neurologie des Bellevue Hospitals in New York City durchgeführt wurden, erlangten bis zu 75 Prozent der Teilnehmer wieder die volle Kontrolle über ihren gelähmten Arm oder ihr gelähmtes Bein. Der »Schlüssel« zur Neuverknüpfung in ihrem Gehirn war: Wiederholung.16
Unter Anleitung übten die Teilnehmer fleißig, ihren Geist auf die mentale Bewegung ihrer gelähmten Gliedmaßen auszurichten. Hoch entwickelte Biofeedback-Apparate lieferten ihnen Rückmeldungen. Konnte ein Patient durch bloßes Denken an die Bewegung dieselben Hirnmuster zu erzeugen, die er bei der Bewegung des entsprechenden nicht gelähmten Körperglieds aktivierte, löste die Lähmung sich allmählich auf. Sobald die Patienten ähnliche neuronale Muster erzeugten, wenn sie das betroffene Glied bewegen wollten, nahm die Stärke des neurologischen Signals an den gelähmten Arm (oder das Bein) und damit dessen Beweglichkeit zu. Unabhängig vom Alter der Patienten und der Dauer ihrer Beschwerden bewies das Gehirn seine erstaunliche Fähigkeit, Neues zu lernen und den Körper zu »reparieren« – einfach durch Geistes-Willenskraft.